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Kirche in Ungarn

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1972 bezeichneten sich bei einer Repräsentativumfrage unter erwachsenen Budapestern 34 Prozent als religiös - 1978 waren es knapp über 44 Prozent, und weitere elf Prozent räumten ein: „Ich könnte nicht sagen, ob ich religiös bin oder nicht.“

Thomas -Nyiri, Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Akademie in Budapest, teilte diese interessanten Zahlen bei einem Informationstag der FURCHE in der ungarischen Hauptstadt mit - in Gegenwart von Ferencz Lipenyi, als Repräsentant des Kirchenamtes der ungarischen Regierung der zweiten Referent bei dieser Veranstaltung, die dank dem Entgegenkommen der österreichischen Botschaft auf dem neutralen Boden des österreichischen Kulturinstitptes in Budapest stattfinden konnte.

Es gab keine Verlegenheiten: Der Kirchen- wie der Regierungsvertreter boten sachliche Information, deren Authentizität man einander wechselseitig durch manches Kopfnicken bestätigte. Polemik und Agitation blieben ausgeklammert, die FURCHE-Leser aus Österreich waren gekommen, um zu hören. Was sie hörten, stieß auf reges Interesse:

Die Zeit der Konfrontation von Kirche und Staat ist vorbei. Die Kirche hat sich damit abgefunden, daß das neue „sozialistische“ System keine Eintagsfliege ist, deren Verschwinden man in offener Opposition ab wartet. Die Regierung hat sich damit abgefunden, daß auch bei geänderten Produktionsverhältnissen die Religion nicht abstirbt, wie es laut Marx zu geschehen hätte, sondern sogar (siehe die eingangs'žitierte Um- frage) zunehmen kann. Wenigstens vorläufig.

„Die allgemeine Entchristlichung gibt es auch hierzulande“, räumte Prof. Nyiri ein, vergaß aber den Zusatz „so wie im Westen“ nicht.

Dennoch: 60,5 Prozent aller geborenen Kinder werden in Ungarn heute katholisch getauft - also praktisch alle, bedenkt man, daß läut Lipenyi 60 bis 65 Prozent der „religiös gesinnten Menschen“ der katholischen, 20 Prozent der reformierten, fünf Prozent der lutherischen Kirche und rund 80.000 dem Judentum zuzuzählen sind. In absoluten Zahlen laut Nyiri: rund sieben Millionen Katholiken, 1,6 Millionen Reformierte, 400.000 Lutheraner.

60,8 Prozent der Menschen lassen sich nach katholischem Ritus beerdigen, nur 37 Prozent freilich schließen eine katholische Ehe. In der

Zwei-Millionen-Stadt Budapest gehen 100.000 Katholiken zur Sonntagsmesse (Nyiri: „Mehr als in Wien“), fast jeder zweite Katholik unterstützt seine Kirche mit freiwilligen Spenden.

Neben solchen Spenden und Stolagebühren für Messen, Trauungen, Hochzeiten usw. leben die Kirchen auch von staatlichen Zuschüssen - insgesamt zwischen 70 und 80 Millionen Forint (3 fl. = 2 öS) pro Jahr als eine Art Entschädigung für Landreform und Schulauflösung.

Denkmalpflege ist ein Titel, unter dem Staatsgelder flüssig gemacht werden, Schulunterricht ein zweiter. Beides kann man in Pannonhalma studieren, der fast 1000 Jahre alten Benediktiner-Erzabtei nahe Györ (Raab), deren Abt, Andräs Szennay, die FURCHE-Reisegruppe gastlich aufnahm.

Pannonhalma fuhrt eins der zwei Oberstufengymnasien, die der Staat dem Benediktiner-Orden zugestanden hat. (Je zwei weitere dürfen die Franziskaner, die Piaristen und die Schulschwestem betreiben.) Der Andrang ist groß: Von 120 neuen Interessenten konnten im Vorjahr nur 80 berücksichtigt werden. Dabei müssen die Eltern tief in die Tasche greifen: 1300 Forint Schulgeld zehnmal im Jahr ist bei den ungarischen Löhnen viel Geld.

„Wir haben Schüler aus allen Schichten der Bevölkerung“, sagt P. Richard, der Direktor. In Notfällen gewährt die Bischofskonferenz Stipendien. Ansonsten sind die Patres immer noch sehr wesentlich auch auf Spenden aus dem Ausland angewiesen. Der Abt: „Fremdwährung ist in Ungarn willkommen. Wir werden gelobt, wenn wir sie ins Land bringen ..

Sechs der acht katholischen Gymnasien sind Knabenschulen. Aus ihnen rekrutiert sich auch der Ordensund Weltpriestemachwuchs. Zwei Novizen pro Jahr sind jedem der vier Orden vom Staat „erlaubt“, und insgesamt pro Orden hundert Mitglieder. Aber so ganz genau wird da nicht nachgezählt.

Die Überalterung dęs Klerus ist auch in Ungarn ein großes Problem. 65 Prozent der über 3000 heute in der Seelsorge tätigen Priester sind über 50 Jahre alt, jedes Jahr geht die Priesterzahl durch natürlichen Abgang um netto rund 70 zurück.

Eine Ausnahme bildet die griechisch-katholische, also mit Rom unierte Kirche mit ihren fast 300.000 Gläubigen: Sie hat noch nie so viele Nachwuchskandidaten gehabt wie heute. Ihre Priester sind verheiratet, nur die Bischöfe müssen aus dem Kreis der Zölibatäre gewählt werden. Es gibt nur ganz wenige Bischofs kandidaten mehr. Vielleicht ist dieser Standesaspekt auch nur ein Zufall. Vielleicht.

Religionsunterricht darf (zweimal eine Stunde pro Woche) sowohl an den Schulen wie auch in den Kirchen erteilt werden. Ganz große Hoffnung schöpft Prof. Nyiri aus den theologischen Fernkursen, die er leitet und die auf hohem Universitätsniveau mit harten Prüfungsanforderungen gehalten werden.

140 haben sich 1978, ebenso viele heuer neu eintragen lassen, 80 mußten bereits für nächstes Jahr vorgemerkt werden, vier von zehn Teilnehmern waren im Vorjahr unter 40 Jahren, heuer sind derer schon 67 Prozent, auch Frauen sind stark interessiert. Alle bereiten sich auf Prüfungen besser vor als die Priesteramtskandidaten, nur sieben von 140 gaben vorzeitig auf.

Man denkt an ein Wort des deutschen Historikers Friedrich Meinecke aus den dreißiger Jahren, das der unvergessene Ladislaus Rosdy in seinen „Sieben Versuchen über Ungarn“ zitiert hat: „In jeder Epoche … der Geschichte regen sich seelische Kräfte, die über die dumpfe Natur und den bloßen Egoismus emporstreben in eine höhere Welt. Ihr Flug geht höher oder niedriger, aber was sie erreichen, ist jeweils ein ganzes Individuelles …, und sie erreichen dieses auch, wenn sie, äußerlich gesehen, scheitern.“

Das Christentum in Ungarn hat viele Stürme überlebt. Die Kirche ist oft genug scheinbar gescheitert. Die Innerstädtische Pfarrkirche von Budapest ist ein starkes Symbol für die Äußerlichkeit solchen „Scheiterns“: Das heutige barocke Gotteshaus wurde auf den Resten der von Türken zerstörten gotischen Kirche aufge- baut, die ihrerseits einen romanischen Dom abgelöst hatte, der von Mongolen geschleift worden war. Und vorher schon war eine kleine Kirche aus der Römerzeit dem Germanensturm der Völkerwanderung zum Opfer gefallen …

Aufhorchen ließ besonders stark noch dieser Satz Professor Nyiris: „Wenn die Politiker den Christen etwas vorwerfen, dann niemals, daß sie Nachfolge Jesu betreiben, sondern immer nur, daß sie es nicht tun.“

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