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Luther am Amazonas

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Man war etwas überrascht in Südamerika, als man erfuhr, daß die Weltkonferenz des Internationalen Protestantischen Missionsrates, die im Jahre 1958 in Ghana tagte, Südamerika zum Missionsland Nr. 1 erklärt hatte. Verwundert fragte man sich in Rio, in Bogota oder Buenos Aires, ob es in Afrika oder Asien denn nicht mehr genug „Heiden“ gäbe, denen man seine Aufmerksamkeit widmen könne, und sogar protestantische Kreise fanden diesen Entschluß problematisch. 1910 war man sich in Edinburgh jedenfalls noch einig gewesen, daß katholische Länder nie Missionsgebiete für evangelische Christen sein dürften. Sicher, die Proklamation mag unglücklich gewesen sein, im Grunde aber brachte sie nichts Neues; denn tatsächlich ist Südamerika seit etwa 1950, seit protestantische Missionäre China verlassen mußten, Missionsland Nr. 1.

Und das nicht einmal so ganz ohne Grund, wenigstens für einen überzeugten Protestanten nicht; denn obwohl der Subkontinent zu 90 bis 95 Prozent als katholisch gilt, ist die Kirche nicht in der Lage, die rund 100 Millionen Menschen seelsorgerisch zu betreuen. Natürlich sind die meisten von ihnen noch getauft, aber Wasser allein, und das wußte bereits Luther, tut's freilich nicht. Andere schürfen tiefer; so Pfarrer A. C. Morck, der auf der Zweiten Lutherischen Konferenz für Lateinamerika erklärte: „Was einmal die Reformation nötig machte, das erfordert auch heute noch das evangelische missionarische Zeugnis in Lateinamerika. Wer diese Notwendigkeit und unsere Verantwortung für die römisch-katholische Welt bestreiten wollte, der leugnet das Recht der Reformation\“ Das sind starke Worte,' Worte, die in Südamerika nicht sehr geschätzt werden. Zudem blieb es nicht bei Worten allein. Um die Jahrhundertwende bedeutete ein „protestantischer Betsaal“ noch eine Kuriosität, selbst für die Großstädte. Heute predigt man auf Plätzen und in Straßen; Zeitungen bringen die Gottesdienstordnungen auf der ersten Seite, das Radio wirksame Hinweise, und Wagenmissionen dringen tief hinein ins Hinterland. Es sind durchaus nicht nur materielle Vorteile, die den Ausschlag für eine „Konversion“ geben. Persönliche Kontakte sind oft ausschlaggebender. Kaum erscheint irgendein Prediger an einem verlassenen Orte, laufen ihm die Gläubigen nach und folgen gern seinen Einladungen zum Gottesdienst. Von Glaubensunterschieden haben Menschen, die kaum noch das Vaterunser kennen, natürlich keine Ahnung. Ja man kann sogar in relativ gut betreuten Gegenden Brasiliens Kinder treffen, die jahrelang eine protestantische Volksschule besuchten, aber nicht wissen, daß ihr protestantischer Pastor einen anderen Glauben bekennt als der vorbeiziehende Pater, den sie um Heiligenbildchen bitten, und schließlich trat schon manches Andendorf geschlossen über, nur weil der Pastor sie öfter besuchen konnte als der katholische Priester.

So ziehen sie nun durchs Land: ernste Männer, die ihre (oft deutschstämmigen) lutherischen Gemeinden betreuen und dabei keine Zeit haben, Proselyten zu machen. Ihnen wird vielfach „mangelndes Missionsinteresse“ vorgeworfen. Daneben die Pfingstler, die Adventisten, die Bibelforscher und andere „wilde, aggressive Sekten“ (Bischof Lilje) aus den Vereinigten Staaten, die sogar vor katholischen Kirchen Flugblätter und Schriften verteilen, nach denen zum Beispiel, das Papsttum nicht mehr ist als „des Teufels Meisterstück, durch welches Satan den Weg für das Kommen des Antichrists bereitet, dem der sogenannte Heilige Vater sehr ähnlich ist...“. Die katholische Kirche erhält folgende Merkmale: „Es gibt nichts so Antichristliches und den von Christus geübten Tugenden so Entgegengesetztes wie die katholische Kirche. Sie ist der Gegensatz des wahren Christentums!“

Viele dieser Menschen sind ehrlich von ihrer Sendung überzeugt und nehmen in den Urwaldgebieten des Amazonas die gleichen Entbehrungen auf sich wie katholische Missionäre, andere ziehen ein breiteres Publikum vor, etwa in einem Stadion mit Massenhysterie und Wunderheilungen..,

Und die Ergebnisse? Die Zahl der ausländischen Missionäre ist seit 1916 von 1689 auf 6303 (1957) gestiegen, die Hilfskräfte im Land von 2180 auf 14.299, und die Gesamtzahl stieg von 168.000 auf 4,614.000.

Erfolge erzielte man vor allem in Brasilien, wo die zwei Millionen Mitglieder (4 Prozent) immerhin eine feste Gruppe darstellen. Dazu kommen noch rund 500 Primarschulen, 100 höhere Schulen, 23 Seminare mit 1500 Theologiestudenten. Man verfügt über 123 Rundfunk-programme und 25 Verlage mit etwa 200 Zeitschriften und Zeitungen.

Trotzdem darf man nicht übersehen, daß der Protestantismus in Südamerika immer noch eine Minderheit geblieben ist. Freilich eine aktive, cinsatzfreudige Gruppe, deren Stoßkraft nicht allein von ihrer geringen Zahl abhängt. Dennoch hat auch er seine Probleme. Zunächst geht es um die Frage, ob der mehr oder weniger puritanische „alte Glaube“ in einem romanischen Land überhaupt Wurzel fassen kann. Eine Reihe protestantischer Historiker bezweifeln es. Ferner tritt vor allem die lutherische Theologie in Lateinamerika in ein neues Sprachgebiet, das erst noch erobert werden muß. Für die angestammten Südamerikaner sind und bleiben die Prediger aus Europa, und mehr noch die aus den USA, Ausländer. Ja man betrachtet sie sogar vielfach mißtrauisch als Fünfte Kolonne des State Departements, nicht viel besser als Wirtschaftsbosse Und Militärs, die man im Süden nicht gerade schätzt. Wird der Protestantismus diese Mauer durchbrechen? Endgültig kann man diese Fragen heute noch nicht beantworten. Das eine aber kann man sagen: das Zusammenleben zwischen Katholiken und Protestanten wird nicht allzu einfach sein in diesem heißen Süden.

Die vierhundert Jahre katholischer Geschichte haben den Kontinent doch mehr geprägt, als man heute gern annehmen möchte. „Was liegt näher, als daß die katholische Kirche und vor allem der Klerus sich in diesen Ländern als der selbstverständliche Hort der nationalen Kirche versteht. Das muß man zur Erklärung der Protestantenverfolgung in Kolumbien und anderswo wissen“, meinte der deutsche Landesbischof Dr. Hanns Lilje nach einer Südamerikareise. Nun, auch mit diesen „Protestantenverfolgungen in Kolumbien“ hat es seine Bewandtnis. Wer die Geschichte Kolumbiens, angefangen von den blutigen Revolutionstagen des Aprils 1948 bis 1959 kennt, wird kaum zu entscheiden wagen, wo hier Parteikampf zwischen Liberalen und Konservativen, Bandenkrieg und Provokation aufhören und die Protestantenverfolgung anfängt. Man darf nicht übersehen, daß diese zehn Jahre an die hunderttausend Menschenleben und einen Sachschaden von 46 Millionen Dollar gefordert haben. Daß dabei auch Protestanten getötet und Kulträume zerstört worden sind, ist gewiß bedauerlich, erst recht, wenn es unter einem religiösen Vorwand geschah, aber eine fromme Ausrede findet sich schließlich auch für eine Synagogenschändung I

Anders ist es mit dem katholischen Missionsmonopol, unter dem die östlichen zwei Drittel Kolumbiens stehen. In diesem weglosen Urwaldgebiet, in dem ein Indio auf einen Quadratkilometer kommt, tragen ausschließlich katholir sehe Missionäre neben ihren eigentlichen Aufgaben auch das ganze zivilisatorische Werk, bei dem sie der Staat finanziell und rechtlich voll unterstützt. Allen nichtkatholischen Religionsgemeinschaften ist dagegen dort die Missionswerbung untersagt, um ein einheitliches Vorgehen und eine ruhige Entwicklung der unzivili-sierten, heidnischen Indianerstämme nicht von vornherein unmöglich zu machen — eine Maßnahme, die Bolivien übrigens bereits nachgeahmt hat. Auch hier wird man vieles verstehen, wenn man die Warnung Stewart W. Hermans, des Leiters des Lateinamerikanischen Komitees des Lutherischen Weltbundes, beherzigt, der 1954 nach einer Rundreise schrieb: „Aufrichtige Protestanten sind sich der aggressiven Methoden mancher ihrer Missionäre nicht bewußt. Die heftigen Reaktionen gegen Protestanten sind manchmal das Resultat von unnötigen Provokationen durch übereifrige Missionäre, deren Botschaft allzuoft auf bittere Angriffe gegen die römische Kirche beschränkt ist.“ Proben dieser Angriffe haben wir bereits gegeben.

In den übrigen Ländern genießt der Protestantismus volle Freiheit, ohne daß es deshalb aber schon zu einem echten ökumenischen Gespräch zwischen Katholiken* und Protestanten gekommen wäre.

Trotzdem gibt es bereits eine Ausnahme: Kolumbien! Hier erscheinen auf katholischer Seite seit Mai 1959 die „Ökumenischen Nachrichten“, die „nach Kräften zum gegenseitigen Verständnis beitragen wollen“. Nummer 1 bis 3 der Zeitschrift waren im Nu vergriffen. Im September vergangenen Jahres wurde außerdem noch ein brieflicher Fernkurs über ökumenische Fragen eingerichtet, der bereits Tausende von Beziehern hat. Ja man ging sogar zu dem Mann, der die katholische Kirche Kolumbiens vor der Weltöffentlichkeit am ärgsten verunglimpft hat, zu James Goff, dem Herausgeber des CEDEC-Pressedienstes des evangelischen Bundes von; Kolumbien (dem allerdings die prominentesten protestantischen Kirchen, wie Lutheraner, Angli-kaner usw. nicht angehören). Man unterrichtete ihn von der neuen ökumenischen Kampagne der katholischen Kirche und bot ihm die Friedenshand an. Als Antwort brachte er kurz darauf in seinem Bulletin die „Geschichte des evangelischen Christentums in Kolumbien“, geschrieben von einem abgefallenen Seminaristen! Werden protestantische Pressedienste diese Informationen auch weiterhin übernehmen? Die Bischöfe Kolumbiens haben sich an die Weltöffentlichkeit gewandt und bitten um „Verständnis für ihre schmerzvolle Lage“.

Auch ein Paradox. Eines von den vielen, an denen Lateinamerika so reich ist...

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