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„Christus heute”

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„Wir glauben, daß Gott uns heute zu Zeugen Seiner Liebe beruft, mitten in dieser von ersehtek- kenden Möglichkeiten bedrohten Welt. Das bedeutet nicht, daß wir die Antwort der Väter auf die Frage nach dem gnädigen Gott preisgeben wollten — niemand auf dieser großen Versammlung lutherischer Kirchen hat das gemeint —, aber daß wir diese Antwort neu geben müssen, damit es dieselbe Antwort bleibt.”

Kaum anders als mit diesen Worten aus dem Grußwort der 4. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, die vor kurzem in der finnischen Hauptstadt Helsinki zusammentraf, kann der Tenor umschrieben werden, der die Beratungen und die Arbeit dieses großen Weltparlaments des Luthertums bestimmte. 282 Delegierte aus den nach 10 Neuaufnahmen nunmehr 73 Mitgliedskirchen in 38 Ländern der ganzen Welt waren für knapp 14 Tage zusammengekommen, um unter dem weitgespannten und zugleich anspruchsvollen Thema „Christus heute” die aktuellen theologischen und praktischen Fragen der lutherischen Christenheit zu diskutieren und neue Wege der Arbeit zu suchen.

Das neue Gesicht des Bundes

Es war ein buntes Bild, das die klassizistische Aula der Universität Helsinki, in der die Plenarsitzungen stattfanden, in diesen Tagen bot. Wohl fehlten die prächtigen Ornate, wie sie etwa das Bild der Konzilssitzungen in Rom bestimmten — unter den grauen bis schwarzen Einreihern hoben sich nur die bunten Kleider der weiblichen Delegierten und die hochgeschlossenen Lutherröcke der deutschen Bischöfe hervor —, aber stärker als je zuvor in der Geschichte des Weltbundes prägten die Vertreter der zahlreichen jungen Kirchen aus Afrika und Asien das.täuRsi’ditnrtkir AssepUirarr.Rwiön- lichkeitan wiegen indischen .Bischof Manikam, den japanischen Theologen Kishi oder den Bischof von Tanganjika Stefano Moshi wird niemand, der ihnen auf der Vollversammlung begegnete, vergessen.

Aber auch das Bild der Kirchen, die die Delegierten vertraten, ist von einer großen Vielfalt. Neben den Staatskirchen Skandinaviens, den, Volkskirchen Deutschlands und den großen Freiwilligkeitskirchen Nordamerikas stehen die europäischen Minderheitskirchen, die Auswandererkirchen in Südamerika, Südafrika und Australien und die zahlreichen aus der Mission hervorgegangenen Kirchen. Auch der Ost-West-Konflikt hinterließ auf der Vollversammlung seine Spuren. Nicht daß politische Differenzen zwischen den Teilnehmern bestanden hätten, aber 28 der 62 Delegierten und offiziellen Besucher aus der DDR hatten ebensowenig ein Ausreisevisum bekommen wie der 1. Vizepräsident des LWB, der aus seinem Amt verdrängte ungarische lutherische Bischof Doktor Lajos Ordass. Der Weltbund hat in einer Protestresolution dazu erklärt, daß das Recht auf Glaubensfreiheit auch das Recht einschließen müsse, seine Kirche bei internationalen kirchlichen Tagungen zu vertreten.

Kernfragen des Glaubens

Mittelpunkt der Arbeit der Vollversammlung war die Behandlung des Rechtfertigungsthemas, in der sich die theologische Auseinandersetzung mit dem Generalthema „Christus heute” zuspitzte. Die Rechtfertigungslehre ist für die lutherischen Kirchen der „status stantis et cadentis ecclesiae”, der Punkt, mit dem die Kirche steht und fällt. Die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben und allein aus Gnade (sola fide — sola gratia) ließ in der Reformations- zeit den Riß zwischen der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche aufbrechen. Wenn nun die lutherischen Kirchen der Welt in einem so repräsentativen Rahmen zwar nicht nach der Berechtigung, wohl aber nach der unserer Zeit gemäßen Form der Aussage dieses zentralen Glaubenssatzes fragen, so ist das ein Faktum von höchster ökumenischer Relevanz. „Wir würden Gottes Heilshandeln für die Welt verraten, wollten wir uns nur an eine Terminologie und nicht an die mit ihr bezeugte Christuswirklichkeit binden.” Man kann sagen, mit diesem Satz aus der Zusammenfassung der Gruppendiskussionen über die Rechtfertigungsfrage stellen sich die lutherischen Kirchen einem ernsten ökumenischen Gespräch über das Zentrum des Glaubens. Sie sind bereit, sich in ihrer Art, von der zentralen Heilswahrheit der biblischen Botschaft zu reden, nicht nur von den anderen Konfessionen, sondern auch von dem Menschen unserer Zeit, der weniger nach der Weise, mit Gott zurecht zu kommen, fragt, als nach einem Sinn seines Lebens und der Existenz Gottes überhaupt, in Frage stellen zu lassen.

Die Kirche selbst, so stellt die genannte Zusammenfassung fest, ist durch die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade jeder Selbstsicherheit beraubt. Es ist ausgeschlossen, daß Christus seine Herrschaft an eine ihn repräsentierende Kirche oder Hierarchie überläßt. Er läßt seine Kirche nicht über sich bestimmen, sondern sie ist — als sein Leib — von ihm abhängig. Sie darf auch diese Botschaft von dem aus Gnaden rechtfertigenden Gott nicht für sich behalten und sich als sektiererischer Kreis falsch verstandener „Gerechter” von der Welt abwenden. Dann verfällt sie einer Winkelexistenz. Rechtfertigung schafft Gemeinschaft, sie überwindet die Einsamkeit des Menschen und die Spaltung der Menschheit, indem sie beide — wie auf der Vollversammlung einmal versucht wurde, den Terminus „Rechtfertigung”

in eine zeitgemäße Sprache zu übersetzen — „in Ordnung bringt”. Und da liegt eine fast beklemmende Aktualität und der drängende Auftrag für die lutherischen Kirchen: Wege zu suchen, um dem Menschen unserer Zeit diese ihn befreiende Botschaft nahezubringen.

In Taten bewähren

Einer der gebotenen Wege ist, betont der Diskussionsbericht, den Glauben in Taten der Liebe zu bewähren. Es sei eine ernste Frage an die heutige Kirche, warum ihr Glaube im Gegensatz zu den großen Zeiten ihrer Geschichte so arm an sichtbaren Zeugnissen sei. Und Prof. Dr. Brattgärd (Schweden) wandte sich in einem der Hauptvorträge vor dem Plenum vehement gegen das Mißverständnis, daß die lutherische Rechtfertigungslehre jegliche Ethik untergrabe und Werke verhindere. Werke sind Frucht. Und wie der gute Baum nicht anders kann, als gute Frucht bringen, so kann der durch die Rechtfertigung befreite Mensch nicht anders, als aus Dankbarkeit und Gehorsam gegenüber der empfangenen Gnade gute Taten tun.

Aber der Glaube an Christus, der uns rechtfertigt, gebe , dem Menschen auch Mut zum Leben in einer Welt dämonischer Gewalten und Versuchungen, wie sie ihm in einem übersteigerten Nationalismus, in kollektiven Weltanschauungen, in einem demokratischen Fortschrittsglauben oder im Materialismus der Wohlstandsgesellschaft begegnen. Während die Hoffnungen, mit denen die moderne Welt aufgebrochen ist, heute im Verblassen sind, können die Glaubenden heute der Menschheit eine neue Hoffnung geben.

Stellungnahme zur Weltpolitik

„Christus heute” ist aber nicht nur eine Frage theologischer Erwägung, sondern ebenso eine Frage der praktischen Existenz der Kirche in dieser Welt und ihren Problemen. Zu einzelnen vordringlichen Fragen hat die Vollversammlung klar Stellung genommen. So hat sie in einer Resolution „mit Erleichterung und Hoffnung” das Abkommen über die Einstellung von Kernwaffenversuchen begrüßt und gleichzeitig ihre Gliedkirchen aufgefordert, zur Versöhnung und internationalen Freundschaft beizutragen. Es ist übrigens bemerkenswert, daß der deutsche Landesbischof D. Hanns- lilje (Hannover) vor dem Plenum gefordert hat, daß sich die lutherischen Kirchen verstärkt den „harten und bedrohlichen Problemen der Weltpolitik” stellen müßten.

Als eines dieser Probleme nannte er die schweren Rassenkonflikte in den USA und Südafrika. Der Weltbund hat in einer weiteren Resolution die Rassendiskriminierung als ein „offenkundiges Übel” verurteilt und seine Gliedkfrähen aufgefordert, „allen Formen und fo/gen ei’fflr’0ft Mtįįffle-a rung nach Hautfarbe, Rä sir’oderRe-’ ligion ein Ende zu setzen”.

Die Frage des Verhältnisses der lutherischen Kirchen zu Rom wurde auf der Vollversammlung — übrigens ebenso wie umgekehrt auf dem 2. Vatikanischen Konzil — nicht direkt behandelt. Aber die Anwesenheit der beiden katholischen Beobachter — oder wie sie meistens genannt wurden: Gäste —, der Professoren Johannes Witte SJ. (Rom) und Dr. Peter Blae- ser MSC. (Paderborn), fand stärkste Beachtung. Die Erklärungen Professor Wittes, der auf einer Pressekonferenz darauf hinwies, daß die katholische Kirche die evangelischen Kirchen als wirkliche Kirchen, wenn auch auf einer anderen Ebene als die römische Kirche, betrachte, bzw. die andere Dr. Blae- sers, man habe katholischerseits aufgehört, von den evangelischen Christen als Häretikern zu sprechen, um nur zwei herauszugreifen, haben sicher manchen Delegierten dazu angeregt, ein Gespräch mit Rom hoffnungsvoller zu beurteilen als zuvor.

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