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Luthers Entdeckung

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Luther wird im Katholizismus im eigentlichen Sinn entdeckt Der Zürcher Kirchenhistoriker Fritz Büsser konnte vor kurzem äußern: „Wenn mich nicht alles täuscht beschäftigt sich heute paradoxerweise die römisch-katholische Kirche fast stärker mit Luther und der Reformation als die evangelische.” Anläßlich einer Studienreise durch die Bundesrepublik Deutschland konnte er feststellen, daß sich dort die katholische Theologie mit solcher Leidenschaft und Begeisterung um Luther bemüht, daß man sich als Protestant beinahe schämen müßte.

In den letzten fünfzig Jahren sind vielleicht über Luther mehr Bücher geschrieben worden als über irgendeine christliche Gestalt. So versteht es sich von selbst, daß ein einzelner den Überblick kaum mehr gewinnen kann. Seitdem die Lutherforschung keine rein lutherische Angelegenheit mehr 1st, seitdem die konfessionellen Schranken gefallen sind und mit der Internationalisierung des Gesprächs zahlreiche nordische, englische, französische und italienische Arbeiten erschienen sind, ist die Intensität auf diesem Gebiet derart groß, daß sie wohl von keiner andern kirchen- geschichtlichen Fragestellung übertroffen werden dürfte. Vornehmheit das Phänomen Luther zu fassen, was keineswegs leicht ist, wenn man sich daran erinnert, daß selbst die Konferenz des Lutherischen Weltbundes von 1963 in Helsinki über die Rechtfertigung bei Luther zu keiner eigentlichen Lösung gelangt ist.

Franz Xaver Kiefl von Würzburg kommt das Verdienst zu, 1917 als erster ein neues, objektives und dem ökumenischen Dialog günstigeres Lutherverständnis vorgelegt zu haben. Er erklärte Luthers Handeln aus rein theologischen Motiven und gab zu, Luther habe mit der Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben unbestreitbar eine Entdeckung gemacht. Schon 1929 konnte unter dem Titel „Luther in ökumenischer Sicht” ein gemeinsamer Sammelband mit rund zwanzig Aufsätzen katholischer und protestantischer Theologen erscheinen. In diesen Fußstapfen wurde im Echter- Verlag 1966 ein ähnlicher Sammelband „Die Wandlungen des Lutherbildes” veröffentlicht. Im Band von 1929 unterschied Anton Fischer den Kämpfer Luther vom Beter Luther. Der erste gehört nach ihm nur einem Teil der Christenheit, während der zweite „wahrhaft ökumenischen Charakter” trage und allen christlichen Denominationen zugehöre. In diesem Sinn wird er den großen Betern Augustin und Franziskus zugezählt. Obwohl Lortz Luther eine ganze Anzahl hervorragender Qualitäten zubilligte und damit ebenfalls zu einer entscheidenden Wendung beitrug, mußte er ihn doch aufs ganze gesehen negativ einschätzen. Nach ihm beruht die Reformation auf einem Mißverständnis.

Johannes Hessen schrieb 1947 das kleine Werk „Luther in katholischer Sicht”, das von Richard Stauffer als bisher bemerkenswertester Versuch eines römischen Theologen gewürdigt wird, die eigentlichen Beweggründe Luthers zu verstehen. Es vermittelt eine Fülle von Anregungen für den ökumenischen Dialog. Hessen erhofft den Tag, an dem die „katholischen Christen Luther als den gottgesandten Propheten und Evangelisten der göttlichen Gnade lieben und ehren werden”, trotzdem auch er einiges gegen den „Häretiker” Luther einzuwenden hat. Hessen ist vielleicht eher ein „Outsider” in der katholischen Theologie, aber er gehört mit seiner wahrhaft ökumenischen Gesinnung zu den erfreulichsten Zeichen unserer Situation.

Lutherforschung Ebelings attestiert wird: „Niemand zitiert heute Luther treffender als Ebeling.”

Hasler macht die „verschiedenen Denk- und Aussagestrukturen” für viele Verzeichnungen und Falschdarstellungen verantwortlich. Schon früher haben andere Forscher darauf aufmerksam gemacht. Die kontroverstheologische Auseinandersetzung muß sich dessen bewußt sein, daß unter gleichen Begriffen andere Inhalte stecken können, während anderseits auch dieselbe Sache mit verschiedenen Begriffen belegt sein kann. Am Problem der Freiheit gelang zum Beispiel Otto H. Pesch der Nachweis einer in verschiedene Terminologie und Denkstrukturen verborgene volle Übereinstimmung der Sache zwischen Thomas von Aquin und Luther. Nach St. Pfürtner dürfte das, was Luther mit der Lehre von der Heilsgewißheit meinte, dem über die christliche Hoffnung Gesagten bei Thomas entsprechen.

Immer mehr stellt sich auch für katholische Theologen heraus, daß Luther nicht nur aus seinen polemischen Schriften her beurteilt werden darf. Luther war Exeget, und wer den ganzen Reichtum seiner Gedankenwelt kennenlernen will, der muß seine Schriftkommentare lesen. Er wird dann immer wieder betroffen sein von der religiösen und theologischen Tiefe. Papst Leo X. soll nach der Lektüre von Luthers Auslegung des Magnificat, ohne den Namen des.

Verfassers zu kennen, gesprochen haben: „Selig sind die Hände, die dies geschrieben.” Von Bedeutung für die ganze Entwicklung war auch Hans Küngs Beschäftigung mit der Rechtfertigungslehre Karl Barths. Seither weht mindestens hinsichtlich des Rechtfertigungsverständnisses ein optimistischer Zug durch die ökumenisch-theologischen Veröffentlichungen.

Hemmschuh oder Schwungkraft für den ökumenischen Dialog

Die Beschäftigung mit Luther kann das ökumenische Gespräch hemmen oder in Schwung bringen. Hasler vertritt die Überzeugung, daß man sich nicht nur gegen die protestantischen Lehren abgrenzen, sondern sich auch von ihnen anregen und in Frage stellen lassen müsse. Er formuliert: „Wir sind überzeugt, daß die katholische Dogmatik an Lebendigkeit und Dynamik nur gewinnen könnte, wenn urreformatorische Anliegen, wie die Sorge um Gottes Gottheit, die .theologia crucis’, das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, die christliche Freiheit, die Theologie des Wortes vermehrt zur Sprache kämen.” Auf der anderen Seite hielt schon 1922 der bekannte protestantische Reformationsforscher Walther Köhler fest: „Wir können nicht nur, nein, wir müssen von der katholischen Lutherforschung lernen. Im Dienst der Wahrheit.” Wir sind der Überzeugung, daß dies nicht nur durch intensives Studium der gegenseitigen Literatur geschehen darf, sondern daß dazu wesentlich das persönliche Gespräch, der lebendige Kontakt mit den Trägem dieser Überzeugungen gehört.

Natürlich hat die katholische Lutherforschung wie jede Lutherforschung nicht nur ihre Bedeutung in dieser Beschäftigung mit der Vergangenheit. Sie übt auch in der Gegenwart ihren Einfluß aus. So ruft sie die Protestanten zu einem neuen Prüfen des konfessionellen Erbes. Eine Gefahr der Entdeckung Luthers im Katholizismus besteht allerdings darin, daß auch die Protestanten unter Mißachtung des Fortgangs der Theologie in vier Jahrhunderten wieder zu den Positionen des 16. Jahrhunderts zurückkehren würden, die zum Teil überholt sind. Die protestantische Kirche darf sich als ecclesia semper reformanda — als eine Kirche, die sich stets neu reformiert — nie von einer noch so bedeutenden Lehre eines Reformators blockieren lassen. Über ihre Geschichte hinweg hat sie stets neu auf den gegenwärtigen Willen Gottes zu achten und die Fortschritte in der Theologie zu praktizieren. Die katholische Lutherforschung könnte deshalb wie auch die allgemeine Lutherrenaissance das ökumenische Gespräch verlangsamen. Wenn es dabei vertieft wird, geschieht es zu aller Nutzen. Vielleicht ist der lange Anmarschweg über die Reformatoren zu einem besseren Verständnis des Protestantismus der Gegenwart für die katholische Kirche nötig. Man muß dabei jedoch immer im Auge behalten, daß der Protestant unter Umständen heute nicht mehr dort steht, wo der Lutherforscher ihn zu Anden meint. Luther ist im Katholizismus entdeckt. Wir sind dankbar dafür. Es gibt noch viel mehr zu entdecken als einen Luther. Helfen wir einander Im gegenseitigen Gespräch dazu!

Destruktive Kritik weicht wohlwollender Neubewertung

In jüngster Zeit hat Richard Stauffer unter dem Titel „Die Entdeckung Luthers im Katholizismus” (EVZ- Verlag, Zürich) auf die ganze Entwicklung der katholischen Luther- forsehung seit, 1904 bis zu Vatikan II hingewiesen.

Der mühevolle und auch schmerzliche Weg gelangt von einer destruktiven Kritik zu einer beginnenden Annäherung. Man kann von einer regelrechten Wandlung des Lutherbildes sprechen, wie dies in zahlreichen Arbeiten zum Ausdruck kommt. Gehörten früher von verblendetem Haß bestimmte grobe Keulenschläge gegen den „hemmungslosen Skrupulanten” Luther zur Selbstverständlichkeit einer katholischen Kontroverstheoiogie, so sucht man heute mit wissenschaftlicher Objektivität und sachlicher

Katholische Handbücher auf dem Prüfstand

Während die Arbeit Stauffers im großen Ganzen ein zunehmend positives Bild über die römisch-katholische Lutherforschung zeigt, muß August Hasler, Mitarbeiter im Sekretariat für die Einheit, mit seinem Band „Luther in der katholischen Dogmatik — Darstellung seiner Rechtfertigungslehre in den katholischen Dogmatikbüchem” (Max- Hueber-Verlag, München) dem guten Eindruck einen schmerzlichen Dämpfer aufsetzen. Es darf ihm attestiert werden, daß er sich besonders eingehend in die ganze Problemlage eingearbeitet hat, was allein schon die äußerst exakten Anmerkungen bezeugen. Er hat an einem Halbjahrskurs der ökumenischen Hochschule des ökumenischen Rates der Kirchen in Bossey bei Genf als Katholik teilgenommen und von dort wesentliche ökumenische Impulse erhalten. Es zählt zu den erfreulichsten Ergebnissen der ökumenischen Bewegung, daß heute viele katholische Forscher Leben und Persönlichkeit Luthers angemessener beurteilen und damit den Weg für eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit seiner Theologie freilegen. Allerdings, meint er, würde diese Diskussion oft weniger durch diese zum Teil hochbedeutsamen Arbeiten bestimmt, als durch das, was in den katholischen Handbüchern über Luther zu finden sei. Nach seiner Meinung übertreffen diese Handbücher an Wirksamkeit jede andere Literatur. Denn hier kommt der durchschnittliche Theologlestudent zum erstenmal in genaueren Kontakt mit den protestantischen Lehren. Deshalb unterzieht er die gegenwärtigen Handbücher der katholischen Dogmatik, die nach 1945 neu herausgegeben oder aufgelegt worden sind, einer eingehenden Prüfung Im Blick auf ihre ökumenische Tauglichkeit. Er beschränkt Sich dabei bewußt auf den Zentralpunkt der Rechtfertigung und sich daraus ergebender Fragen. Mit Erstaunen muß er feststellen, welche Vorurteile und Mißverständnisse bis heute mitgeschleppt werden. Er bedauert zum Beispiel, daß die Bedenken der katholischen Dogmatiken oft am falschen Ort erhoben werden. So erkennen die Handbücher nicht, daß in der Kontroverse um den freien Willen für Luther die Heilsfrage und nicht die psychologische Willensfreiheit im Vordergrund stand.

Hasler findet verschiedene Quellen der Lutherinterpretation in den Konzilsdekreten von Trient, die eigentlich streng besehen die Lehre Luthers gerade nicht treffen. Die katholische Dogmatiken bekämpfen weithin einen karikierten Gegner und verlieren damit die eigentlichen Divergenzpunkte aus den Augen. Die Ursache der Fehlinterpretationen liegt zu einem großen Teil darin, daß „die weitaus meisten Autoren die Darstellung von Luthers Lehre nicht aus einer eigenen Beschäftigung mit seinen Werken” gewonnen haben. Protestantische Lutherforscher werden selten zitiert, während doch von katholischer Seite der protestantischen

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