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Ein Mann, der die Geschichte bewegte

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LUTHER. Von Richard Friedenthal. Verlag Piper, München. 75 Seiten. DM 8.—.

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LUTHER. Von Richard Friedenthal. Verlag Piper, München. 75 Seiten. DM 8.—.

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Ein leidenschaftlicher und ungestümer Mann, der die Geschichte bewegt hat, das ist das Bild, das Richard Friedenthal uns in seinem Buch von Luther zeichnet: plastisch durch eine Unmenge historischer Einzelheiten — wohlabgewogen im Gesamturteil — fern allen theologischen Streitfragen — anregend und leicht zu lesen.

Friedenthal beschreibt den jungen Luther bei seinen ersten bedenklichen Vorlesungen an der Universität Wittenberg: „Er ist für die Starken, die sich auch vor den äußersten Konsequenzen nicht fürchten. Weit über die Köpfe der Hörer hinweg, die fleißig mitschreiben und dabei viele Fehler machen in ihren Heften, ruft er sich selber zu: Bin ich verdammt oder nicht? Man muß so stark sein, daß man auch die Verdammung bejaht, falls Gott sie nach Seinem unerforschlichen Ratschluß über einen verhängt hat” (S. 124).

Unwillkürlich denkt man an den trotzigen Übermenschen Nietzsches — oder noch eher an den von Gott verlassenen Menschen bei Camus, der trotzdem in einer absurden „condition humaine” glücklich sein müsse; aber das sind auch schon die einzigen Bezüge zur Moderne, die man aus Friedenthals Lutherbild herauslesen könnte. Ansonsten rückt uns Heutigen Luther — trotz aller Details aus der gesamten Kulturgeschichte. dlie Friedenthal zur Veranschaulichung aufbietet — immer mehr in die Ferne. Oder ist es wegen dieser Details? Das Buch hat durch sie fast den Anstrich einer Kulturgeschichte der Lutherzeit bekommen.

Aber die Bedeutung der Details, durch die uns Friedenthal immer wieder neue Blickwinkel auf den Reformator hin eröffnet, soll nicht übersehen werden. Frappierend ist die Beurteilung des Mönchtums als eines Versuches, die Zeit aufzuheben und so der Ewigkeit nahe zu kommen: darum die Ehelosigkeit, denn: „Der Asket scheidet sich damit auch von dem Gang der Generationen, die mit Kindern und Kindeskindem den Ablauf des Werdens im eigenen Fleisch und Blut so sinnfällig vor Augen stellen, wie keine Zeitberech- niung das je tun könnte. (S. 42).” Luther habe sich selbst mit Mühe aus dieser Zeitlosigkeit gerissen, und hätten ihn deshalb oft noch spätere Herausforderungen der Zeit recht hilflos gesehen, so zum Beispiel der Bauernkrieg 1525, als Luther in gleicher Weise die entrechteten Bauern und die Fürsten wütend tadelt, dadurch das Vertrauen beider Seiten verliert und ab damals nicht mehr als „Held” der Nation gilt.

Recht informativ sind die Durchblicke auf den Unterricht und die (Un-)Bildung der Epoche. Wir schütteln den Kopf, wenn wir erfahren, mit welch erbärmlicher Prügelei den Kindern in der Lateinschule Latein und nur Latein eingebleut worden ist, woher übrigens die völlige Unbildung Luthers in Geschichte und Geographie rührt. Aber auch Kaiser Karl V. — so erfahren wir — bezog sein Geschichtswissen vorwiegend aus burgundischen Ritterromanen, und seine Sehnsucht, Burgund wieder von Frankreich zurückzugewinnen, stammt daher.

Am fernsten wird uns die Lutherzeit allerdings durch ihren wüsten Teufel- und Dämonenglauben. Audi Luther hatte daran teil, und nur so ist es erklärlich, daß er alle ernsthaften Gegner kurzerhand als vom Teufel gesandt „durchschaute”; und eine solche Haltung hat es zum Beispiel verhindert, daß Luther mit dem „vom Teufel gesandten” Schweizer Reformator Ulrich Zwingli zu einem Einverständnis gekommen wäre.

Freilich, der Abstand zu Luther, der uns an Friedenthals Buch bewußt wird, hat auch etwas Gutes: ob Katholiken, ob Protestanten, wir alle werden dadurch nüchtern in der Beurteilung eines Mannes, der der Christenheit der Neuzeit so viel Zündstoff für konfessionellen Streit geliefert hat. Wir sollten heute, 450 Jahre nach dem Beginn der Reformation, nüchtern Luthers Schwächen und Luthers Bedeutung einschätzen können.

Seine Bedeutung besteht aber offenbar nicht nur darin, daß er die Geschichte als ein „Rebell” bewegt hat, sondern daß bei seiner Wiederentdeckung des Evangeliums ihm und vielen Zeitgenossen das Herz „von Grund auf gelacht” hat. Dieses Phänomen zu untersuchen und uns verständlich zu machen, hat Friedenthal leider unterlassen — das ist eine Lücke seines Buches.

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