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Die Versuchung der atendländischen Christenheit

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WER DIE NUN bald zweitausendjährige Geschichte der abendländischen Christer reit überblickt, dem werden nicht die vielen Erschütterungen entgehen können, die diesen Corpus immer wieder heimsuchten. Und der Betrachter wird bei kritischer Untersuchung zwei Grundtendenzen dieser Erschütterungen wahrnehmen können: die einen sind positiver Art, die andern negativer Art, das heißt — und dies ist das ausschließliche Kriterium —, die einen führen die Menschen näher und stärker zur katholischen Kirche, die anderen führen sie aus dieser heraus. Man denke an die franziskanische Bewegung einerseits und an den Marxismus anderseits, an den modernen Rationalismus und die Aufklärung einerseits und die thomistische Bewegung anderseits, an die reformatorischen Bewegungen eines Luther und Calvin einerseits und die moderne liturgische Bewegung anderseits, um diese Unterscheidung bestätigt zu finden. Unsere kurze Untersuchung hat es im folgenden nur mit jenen Erschütterungen zu tun, die wir als die negativen bezeichnet haben; und unsere Untersuchung hat erstens eine Aufzählung der wichtigsten dieser Erschütterungen zu geben, und zweitens zu untersuchen, ob irgendein innerer Zusammen-J^&(zwischen diesen-feesteht, fej9ic| drjtns, , worauf sie zurückgehen, ob auf einen Bazillus, der ununterbrochen durch den Corpus der abendländischen Christenheit kreist oder auf eine Versuchung seitens des Teufels.

WELCHES WAREN NUN die großen Erschütterungen, die im Lauf von fast zwei Jahrtausenden die abendländische Christenheit heimsuchten und Tausende und Millionen von Menschen aus den Mauern der Kirche trieben und sie die Una sancta als ihre Feindin betrachten ließen? Wir gehen zunächst bei der Aufzählung den Weg der modernen Psychologie, das heißt, wir zählen diese Erschütterungen ganz ohne Schematismus auf, sondern lediglich wie sie uns einfallen. Welches, noch einmal gefragt, waren nun diese Erschütterungen? Die Lehren eines Luther und eines Calvin, der moderne Marxismus, der Nationalismus, der Deismus, Wiclif und Hus, die Katharer und Albigenser, der Pe-lagianismus und der Modernismus, die Bewegung der Renaissance und die Wiedertäufer, der franziskanische Armutsstreit und die Freimaurerbewegung sind die Namen für den Großteil jener Erschütterungen, die wir die negativen genannt haben. Wir versuchen vorderhand gar nicht, eine Einteilung in diese Gruppen zu bringen, sondern wenden uns gleich dem zweiten Punkt unserer Untersuchung zu: Besteht ein innerer Zusammenhang zwischen diesen Bewegungen? Die Antwort auf diese Frage wird gleichzeitig eine Schematisierung der genannten Faktoren mit sich bringen können. Gibt es einen inneren Zusammenhang, gibt es einen Generalnenner, auf die wir sie bringen können? Bei genauerer Untersuchung können wir tatsächlich zwei besonders charakteristische Kennzeichen unterscheiden, nach denen wir die gestellte Frage beantworten können: Der eine Teil dieser Bewegungen führt die Menschen von Christus weg. Pelagianismus, Modernismus, Aufklärung, Liberalismus, Marxismus, Nationalismus moderner Prägung usw. sind im Grunde genommen nicht nur antikirchlich, sondern vor allem antichristlich. Sie verwerfen und bekämpfen Christus überhaupt. Der zweite Teil dieser Bewegungen, wie Protestantismus, Hussitentum, Wiclifis-mus usw führen die Menschen zwar aus der katholischen Kirche heraus, aber unter dem Verwand, ihnen jetzt den richtigen Weg zu Christus zu zeigen. Sie sind nicht gegen Christus, sonJern gegen die katholische Kirche feindlich eingestellt.

Wir haben nun diese Erschütterungen negativer Art auf zwei Generalnenner bringen können; der nächste Schritt hat zu untersuchen, ob zwischen den einzelnen Teilen dieser Gruppen ein innerer Zusammenhang besteht. Wenden wir uns der ersten Gruppe, zu, jener, die antikirchlich eingestellt ist. Besteht ein Zusammenhang? Jawohl, alle diese Bewegungen sind nicht nur antichristlich, sondern im Grunde genommen auch atheistisch. Sie lehren den Menschen als einen autonomen, von jeder Bindung an Gott freien Menschen. Alle diese Bewegungen — mögen ihre engeren Entstehungsgründe welcher Art immer sein — sind nichts anderes als verschiedene Spielarten jenes Menschen, der von Gott frei sein will, der keinen Gott über sich duldet, sondern höchstens nur selbstgeschaffene Götzen unter sich. Wenn es sich aber um verschiedene Spielarten einer und derselben historischen Erscheinung handelt, ist die Frage berechtigt, ob es sich dann nicht um die Auswirkungen eines und desselben Bazillus handelt, der im Körper kreist und immer wieder zum Ausbruch kommt, und nicht so sehr um eine Versuchung, die den Menschen immer wieder von außen her anfällt? Wenn es sich um einen Bazillus handelt, wäre ein. _ Doppelte pflfrtwqftffg:' eiji^ijjggre Disposi-, tion und. eine^äußere Einwirkung..Die innere Disposition ist zweifellos gegeben, sie ist in der Tatsache der Erbsünde zu sehen, die die Natur des Menschen geschwächt hat. Aber eine äußere Einwirkung ist nirgends sichtbar, im Gegenteil, der denkende Mensch kann, wie die übereinstimmende Lehre der Kirche lautet, nicht Atheist sein, denn der natürliche Gebrauch der reinen Vernunft muß ihn vom Denken des Geschöpflichen zur Erkenntnis eines Schöpfers gelangen lassen. Es bleibt somit nur noch die zweite Möglichkeit. Tatsächlich handelt es sich um eine Versuchung, und die Einbruchsstelle, über die der Mensch dieser Versuchung erliegt, ist seine hohe Intelligenz, die ihn zu den höchsten Erkenntnissen führt, die ihn aber gleichzeitig der Gefahr des Hochmutes in besonderer Weise aussetzen kann. Diesen Hochmut benützt der Teufel, um ihm jene alten Worte ins Ohr zu flüstern, die ihn versuchen, „Gott gleich zu sein“. Es ist mit anderen Worten nichts anderes als die uralte Versuchung des „eritis sicut Dei“, der ein Großteil der abendländischen Menschen dank ihrer Intelligenz erliegt und wohl immer erliegen wird.

WENDEN WIR UNS NUN aber der anderen Gruppe zu, jener, die ihre Anhänger zwar aus der katholischen Kirche herausführt, sie aber nicht zu einer antichristlichen Haltung zwingt. Besteht hier ein innerer Zusammenhang zwischen den einzelnen Bewegungen, und wenn ja, so fragen wir wieder, worauf geht dieser zurück; auf einen Bazillus oder eine Versuchung? Die Frage nach dem inneren Zusammenhang ist nicht so leicht zu beantworten wie im ersten Fall. Wir müssen uns diese Bewegungen etwas näher ansehen, um dadurch vielleicht auf einen Anhaltspunkt zu kommen, der eine Antwort auf unsere Frage ermöglicht. Beginnen wir gleich mit dem Protestantismus. Der Zentralpunkt der Lehre Luthers ist die Verderbtheit der menschlichen Natur durch den Sündenfall der Stammeltern. Was immer der Mensch tut, ist schlecht, ist Sünde. Er hat deshalb nicht die Fähigkeit, sich zu entscheiden, er besitzt keinerlei Willensfreiheit. Er kann dadurch auch keinerlei gute Werke verrichten. Er kann an seiner Rettung nicht mitwirken, Gott allein bestimmt in freier Willkür, wen er zur ewigen Seligkeit berufen will und wen zur Verdammnis. Es kann somit auch keine sichtbare Kirche geben, deren Aufgabe es wäre, die Menschen zur Seligkeit zu' führen, und eigentlich auch keine Sakramente (Luther anerkannte dennoch die Tatsache von Sakramenten, er war hier, wie oft, unlogisch und ließ katholischen Resten noch einen weiten Spielraum). Das einzige, wodurch der Mensch zu seiner Rettung beitragen kann, ist das Vertrauen auf die Verdienste Jesu“ Christi.

In ähnlicher Weise lautet die Lehre Calvins, die nur — Calvin war Romane — logisch zu Ende gedacht ist; infolgedessen ist seine Lehre beherrscht von dem Gedanken der strengsten Prädestination. Hand in Hand geht damit die Verwerfung einer sichtbaren Kirche und der Sakramente. Das Abendmahl hat lediglich nur noch symbolischen Charakter.

Ähnlich wie bei Luther und Calvin bildet auch bei Wiclif und bei dessen böhmischem Nachahmer Hus die Prädestination den Mittelpunkt der Lehre. Auch er lehrt, daß lediglich der Wille Gottes entscheidet, wer die ewige Seligkeit erlangen kann. Auch er leugnet eine sichtbare Kirche, leugnet weitgehend die Sakramente. Und vor allem lehrt er, daß aller Besitz schlecht sei, da die Welt im Prinzip schlecht sei und somit der Christ keinerlei Besitz haben dürfe. Ja, ein Beweis gegen die römische Kirche, daß sie niemals von Christus stammen könne, ist, daß sie im weitestgehenden Maße Besitz und Eigentum an materiellen Gütern habe.

Die Frage nach dem Besitz spielt eine weitere große Rolle im sogenannten franziskanischen Almutsstreit, der ja seine Teilnehmer teilweise aus der Kirche führte. In diesem Streit, der im 13. Jahrhundert im Franziskanerorden begann und am Ordenskapitel in Perugia 1322 seinen Höhepunkt erreichte, ging es um nichts anderes als um die Frage, ob dem Christen Besitz erlaubt sei oder nicht. Die strengere Richtung behauptete nein, denn die Materie sei schlecht. Sie wiesen dabei auf. Christus und die Apostel hin, die keinerlei Eigentum besessen haben sollen. Papst Johann verwarf die Lehre als häretisch, worauf sich des Ordens eine ungeheure Erregung bemächtigte, die sich bis zur Einsetzung eines franziskanischen Gegenpapstes steigerte.

Die Frage nach der Möglichkeit eines Besitzes spielte auch noch in jener religiösen Bewegung eine ausschlaggebende Rolle, die als Waldenser, Albigenser oder Katharer bekannt ist. Auch diese lehrten, daß aller Besitz schlecht und zu verwerfen sei, da die Welt schlecht ist oder, besser gesagt, da alle Materie schlecht ist. Aus diesem Grunde verwarfen sie besonders die Ehe, die ja „Materie“ erschaffe, lehnten eine sichtbare Kirche und weitgehend ebenso Sakramente ab, leugneten die Auferstehung des Fleisches und negierten alle geistliche und weltliche Herrschaft.

WIR HABEN IN KURZEN ZÜGEN den wichtigsten Inhalt der Lehren dieser Bewegungen skizziert und können nun erneut an die Frage herantreten: Bestehen irgendwelche Gemeinsamkeiten, die auf einen inneren Zusammenhang hindeteno;köfinten?;;,Auf den ersten Blick kann diese tejste> Frage mit Ja beantwortet werden. Ihnen allen, ob Luthertum oder Calvinismus, ob Wiclifismus oder Katharertum, ist eine seltsame Beziehung zur Materie eigen, die sich in einer strikten Ablehnung kund macht und zu einer weitgehenden Spiritualisierung des Lebens führt.

Ist es nun ein Bazillus, der dies verursacht hat oder eine Versuchung? Hier wird, scheinbar mit Recht, darauf hingewiesen werden, daß es sich nicht um eine Versuchung, sondern höchstens um einen Bazillus handeln könne, der im Körper der Christenheit kreist, der nicht immer zu Abspaltungen führen müsse, sondern auch nur zu mehr oder minder schweren Schädigungen innerhalb der Kirche. Hier wird wieder — scheinbar mit Recht — auf eine Reihe von historischen Fakten verwiesen, die dies zu bestätigen scheinen, wie die Lehre des Jansenismus, die Lehren eines Berengar von Tours und eines Gottschalk, es wird verwiesen werden auf die mittelalterliche Sexualtheologie und die Hexenverfolgung, auf die Flagellanten und vielleicht auch noch auf die Columbanregel. Denn auch hier finden wir überall eine gewisse Feindschaft gegen die Materie. So bestimmte die Columbanregel, daß alle Vergehen der Mönche mit Stockhieben zu bestrafen seien, sie bestimmte diese in derart rigoroser Weise, daß jeder praktisch täglich Übertretungen begehen mußte und kein Mönch kaum unter zwanzig Stockhieben den Tag verstreichen lassen konnte. Die schauerliche Erscheinung der Hexenprozesse ging wieder auf nichts anderes zurück als auf die Angst vor der bösen Welt, die in sich schon dämonisch ist und die nur mit den schwersten Mitteln bekämpft werden kann. Ebenso versuchten die Flagellanten in übertriebener Weise das sündhafte Fleisch, welches immer wieder von Gott abzog, durch unmenschliche Behandlung zu töten. In besonderer Weise war von dieser Leibfeindlichkeit beinahe das ganze Mittelalter hindurch die katholische Sexuallehre beherrscht. Diese Theologie ging von der Ansicht aus, daß die Ehe zwar keine Sünde, aber für den Christen doch etwas sei, was ihn von Gott abziehe, ja durch die geschlechtliche Lust in direkten Gegensatz zu Gott bringen könne, da ja alles Leibliche im Grunde böse sei. Die eheliche Vereinigung sollte so weitgehend wie möglich vermieden werden. Unstatthaft und zumindest eine läßliche Sünde war sie, wenn sie nicht zum Zwecke der Zeugung von Nachkommen vorgenommen wurde (Thomas von Aquin). Aber seihst diese körperliche Vereinigung war unter Sünde dann immer verboten, wenn sie mit einem Tag kumuliert hätte, der besonders Gott geweiht war. Das heißt, sie durfte nicht stattfinden an allen Sonntagen, Feiertagen, an den Tagen der Fastenzeit und des Advents, an allen Vigiltagen und allen Freitagen. Wer die zahlreichen Feiertage des Mittelalters kennt, .der wird heim Zusammenzählen aller jener Tage, an denen der Verkehr verboten war, eine erschrecklich hohe Summe erzielen. Erschrecklich wegen der Folgen; denn die Menschen konnten dies doch nicht einhalten, lebten infolgedessen ständig in dem Glauben, im Zustande der schweren Sünde sich zu befinden und von der Kommunion ausgeschlossen zu ein. Tatsächlich geht auch mit dem Aufkommen dieser Anschauungen der häufige Kommunionempfang radikal zurück, so radikal, daß die Menschen nicht einmal den geforderten jährlich dreimaligen Kommunionempfang einhielten, sondern sich lediglich mit der Osterkommunion begnügten.

Auf der Anschauung von der Verderbtheit der menschlichen Natur stand auch weitgehend die Lehre des Jansenismus. Diese auf Michael Bajus zurückgehende Lehre, die mit dem Franzosen Quesnel und dem Niederländer Jansen ihren Höhepunkt erreichte und der solche erlauchte Geister wie Pascal angehörten und die ganz Europa durchsäuerte — so war, was wenig bekannt ist, der österreichische Barockkatholizismus weitgehend vom Jansenismus beeinflußt —, lehrte nichts anderes, als daß einige Gebote Gottes selbst die Gerechten nicht erfüllen konnten, ferner daß Christus nicht für alle gestorben sei und daß infolge der Verderbtheit der menschlichen Natur der Mensch nur selten fähig sei, die heilige Kommunion zu empfangen, weshalb diese weitgehend einzuschränken sei, eine Anschauung, die ihre verheerenden Folgen bis in unsere Tage spüren ließ und der erst die Kom-muniondekrete eines Pius X. ein Ende bereiteten.

Auf die Materiefeindlichkeit gehen auch noch im 9. Jahrhundert die Lehre des Gottschalk zurück, welche die Prädestination der Menschen behauptete, und die Lehre des Berengar von

Tours im 11. Jahrhundert, die eine spiritualisti-sche' Auffassung der Eucharistie lehrte und die reale GegenwajftChristijfctiWwitent leugnete. *

WIR HABEN die großen Erschütterungen betrachtet, welche die abendländische Christenheit durchgemacht hat. Wir haben sie in positive und negative geschieden, je nachdem sie zur Kirche oder aus der Kirche führten. Wir haben die negativen wieder geschieden in solche, die die Menschen direkt von Christus weg-, oder solche, die sie nur aus der katholischen Kirche herausführen. Wir haben erkannt, daß die einzelnen Bewegungen der ersten Gruppe in einem inneren Zusammenhang stehen und nicht auf einen Krankheitserreger, sondern auf eine Versuchung zurückzuführen seien. Wir haben ferner auch erkannt, daß die Bewegungen der zweiten Gruppe in einem Zusammenhang stehen. Wir haben weiter gesehen, daß diese Gruppe in engem Zusammenhang steht mit einer Gruppe, welche sich noch innerhalb der Kirche befindet, aber von der offiziellen Kirchenleitung früher oder später direkt oder indirekt verurteilt wird, so daß man sie praktisch schon der großen zweiten Gruppe zuzählen kann.

UNSERE FRAGE LAUTET nun wieder: Worauf gehen die Bewegungen dieser Gruppe zurück, auf einen Bazillus oder eine Versuchung? Hier stoßen wir nun auf eine interessante historische Feststellung: auf die Beziehung fast aller dieser Häresien und Irrlehren zu Augustinus, dem großen Bischof von Hippo. Diese Verbundenheit ist eine sehr große, so daß der Heilige von protestantischer Seite (Heiler) mit einem gewissen Stolz als „Ahnherr aller Häresien“ bezeichnet wurde. Ist dies denn möglich bei Augustinus, dem Heiligen und großen Kirchenlehrer? Tatsächlich berufen sich alle großen Häresien und Iirlehren auf ihn. Luther, der ehemalige Augustinermönch, übernahm anscheinend von ihm den Gedanken der Verderbnis der gefallenen Natur und gelangte durch ihn zu einer Gratiasola-Lehre. Weitestgehend hat er sich auch bei seiner Lehre von der Prädestination auf den Bischof von Hippo berufen. Noch mehr als Luther scheint Calvin von Augustinus beeinflußt zu sein. Nicht nur versucht er äußerlich den von ihm gepredigten „Gottesstaat“ in die Realität umzusetzen, auch seine Prädestinationslehre und sein spiritueller Sakramentenbegriff berufen sich auf Augustinus, so daß Calvin sagen zu können glaubte: Totum esse nostrum. Aber ebenso wie Luther und Calvin beriefen sich Hus, Wiclif und Gottschalk auf Augustinus bei der Behauptung, die Kirche sei nur die Anzahl der Prädestinierten. Berengar von Tours wieder berief sich auf den Lehrer von Hippo, um seine spiritualistische Auffassung des Altarsakraments, die ihn zur Leugnung der Wesensverwandlung führte, stützen zu können. Ebenso ist die mittelalterliche Sexualtheologie weitgehend von Augustinus beeinflußt, ebenso wie die Lehre des Michael Bajus, des Vorläufers der Jansenisten. Bei diesen dagegen ist die Beziehung noch offensichtlicher; trägt doch das Hauptwerk des Jansen den Titel „Augustinus“.Wie liegt die Wirklichkeit nun tatsächlich?

Augustinus kam, wie er in den „Bekenntnissen“ schreibt, von den Manichäern her, war also Gnostiker. Die Conversio des Heiligen war -- man verzeihe, daß dies überhaupt erwähnt wird — sicher eine vollständige. Aber eines ist sicher: Gewisse Reste des Manichäertums hat der Heilige nicht gleich überwunden, sondern sie noch eine Zeitlang mitgeschleppt. Diese Reste, die sich am meisten in der Anschauung von der Lehre der Prädestination zeigen — welche übrigens von der Kirche nie gebilligt wurde —, sind gering. Auch diese wurden von ihm noch vielfach erkannt und widerrufen. Sie sind in dem umfangreichen Werk des Bischofs von Hippo wahrlich bescheiden. Und sie ihm anzurechnen, wäre ebenso unbillig wie dem heiligen Thomas gewisse Irrtümer naturwissenschaftlicher oder auch theologischer Art. Aber psychologisch ungeheuer interessant ist die Erkenntnis, daß in dem gigantischen Werk des Augustinus der abendländische Mensch immer wieder diese Stellen fand, immer wieder sich in sie verbiß und sie immer wieder ausbaute und fortführte, bis er zu häretischen Ansichten gelangte. Dieser Vorgang sagt nämlich eines: Nicht der heilige Augustinus ist die Quelle dieser Irrtümer, sondern der abendländische Mensch hatte schon eine Disposition in sich, die ihn diese Stellen immer wieder finden ließ. Und alles Berufen auf Augustinus ist nichts anderes als der Versuch, die überragende Größe dieses Heiligen zur Stützung des eigenen Irrtums heranziehen zu können.

WIEDER STEHEN WIR vor der Frage: Handelt es sich um einen Bazillus oder um eine Versuchung? Scheinbar nach allem bisher um einen Bazillus. Aber woher kommt er? Hier kann wieder der heilige Bischof von Hippo einen Fingerzeig geben. Augustinus war einst Gnostiker gewesen, und die Gnosis steht auf dem Du-alisrflür der Welt, 'darneißl, sie “unterscheidet ein böses ühd“'eifl gutes Prinzip. Das böse verkörperte sich in der Materie, das gute im Geist.

Auch alle Bewegungen, die unserer zweiten Gruppe angehören, sind materiefeindlich und stehen auf einem gewissen Dualismus. Wir haben es somit mit dem Gift einer Gnosis zu tun, das durch den ganzen Körper des abendländischen Christentums schleicht. Dies geht keineswegs auf Augustinus zurück, das beweist die Bewegung der Katharer, die rein gnostisch ist und direkt über die Kreuzzüge nach Europa gelangte und keinerlei Beziehung mit Augustinus hat. Der abendländische Christ scheint somit eine besondere Anfälligkeit für die Gnosis zu besitzen. Woher kommt dies? Es hat dies nichts mit dem Christentum zu tun, zumindest nicht in erster Linie. Der abendländische Mensch, auch der nichtchristliche, ist für die Gnosis besonders anfällig. Das beweist in der Spätantike die weite Verbreitung des Mithrakultes und das beweist heute die starke, ständig sich vergrößernde Verbreitung der Lehre der Anthroposophen, die wieder nichts anderes ist als reine Gnosis. Also haben wir es scheinbar hier endgültig mit einer Ansteckung und nicht mit einer Versuchung zu tun. Dies aber ist falsch. Es handelt sich auch hier wieder nur um eine Versuchung, um die gefährlichste vielleicht, die dem abendländischen Christen widerfahren kann. Haben wir im Anfang unserer Abhandlung gesehen, wie der Teufel den abendländischen Menschen bei seinem Hochmut packt und ihm zuflüstert, daß er Gott nicht brauche, so versucht er hier, ihn auf einem anderen Weg von Gott wegzuführen. Es handelt sich hier um eine besondere Versuchung aller jener Christen, die aufrichtig zu Gott gelangen wollen. Auf diesem Wege erkennen sie nur zu oft, daß der Besitz und ihr Körper ihnen Schwierigkeiten macht, und nur zu leicht sind sie geneigt, alles Materielle abtöten zu wollen. Und nur zu leicht gelangen sie dann zu der Ansicht, daß alles Geschaffene, das doch Gott geschaffen hat und das somit gut ist, zu verwerfen sei.

DER HEILIGE IGNATIUS beschreibt in seinen Exerzitien eine Versuchung besonderer Art, die hauptsächlich jenen Christen anfallen könne, der ehrlich zu Gott streben will. Diese Versuchung bestehe darin, daß der Teufel dem Menschen in der Gestalt eines Engels des Lichts erscheine. Hier haben wir es mit dem prägnantesten Fall dieser Art Versuchung zu tun. Wie aber, so kann man mit Recht fragen, ist bewiesen, daß es sich wirklich doch ganz sicher um eine Versuchung handelt? Es gibt ein sicheres Kriterium dafür: Alle diese Irrtümer haben nie von Christus wegführen wollen, sondern immer nur enger zu Ihm. Dies aber wollten sie erreichen durch ein Weggehen aus der Kirche. Christus aber und die Kirche sind eins. Wo sie gegeneinander ausgespielt werden sollen, ist der Teufel im Spiel. Als besonderer Adnex muß in unserem Fall noch die Beziehung dieser Irrtümer zu Augustinus gewertet werden, der mißbraucht wird, um durch seine hohe Autorität den Irrtum zu verschleiern.

WIR SIND AM ENDE unserer Untersuchung angelangt. Wir haben die zwei großen Versuchungen des abendländischen Menschen erkannt. Die eine führt ihn direkt von Christus weg und die andere indirekt, da sie ihn von der Kirche trennt. Im ersten Fall benützt sie die hohe Geistigkeit des abendländischen Menschen,um ihn dem Hochmut verfallen zu lassen, und im zweiten Falle seine körperliche Gebrechlichkeit, um ihn in Kleinmut verfallen zu lassen. Der Weg des abendländischen Menschen erinnert von diesem Gesichtspunkte aus nur zu sehr an jenes Bild, das Dürer geschaffen hat und das einen Ritter auf seinem Weg zwischen Tod und Teufel zeigt. Wie aber soll er diesen Versuchungen -widerstehen, wie vor allem soll er die zweite, da der Versucher in der Gestalt eines Engels an ihn herantritt, erkennen? , .

Hier nun kommen wir über den Weg der Geschichte zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer sichtbaren Kirche, deren Oberhaupt für sich allein und die auch in ihrer Gesamtheit die Unfehlbarkeit besitzt, da sie der Heilige Geist leitet, der „Herz und Nieren durchforscht“ und der allein auch in dem Engel des Lichts den Versucher erkennen kann, um ihn durch den Mund der Kirche entlarven zu lassen.

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