Seit dem Reformationstag am 31. Oktober leben wir im "Luther-Jahr". Aus jüdischer Sicht war die Reformation, die vor 500 Jahren begann, ein höchst ambivalenter Prozess. Die antijüdischen Schriften in Luthers Spätwerk sind bekannt. Man muss ihn nicht zu einem ideologischen Vorläufer des deutschen Sonderwegs bis hin zu den Nazis erklären, um darin einen Schatten über dem Jubiläum zu sehen. Die evangelische Kirche setzt sich mit diesem Schatten gerade im Luther-Jahr auseinander, das ihn sonst vor allem als Modernisierer feiert.
Es waren genau die Umbrüche und Aufbrüche der beginnenden Moderne, die das Leben von Juden im 16. Jahrhundert in Mitteleuropa bestimmten. Luther rief wortgewaltig zu ihrer Vertreibung auf, da er ihre Tolerierung als einen der Abwege sah, auf die die Kirche geraten war. Weil der "Wutchrist" gegen die Autorität der Kirche rebellierte, wurde er von manchen Juden zunächst positiv gesehen. Sie erhofften sich von einer Schwächung der kirchlichen Macht eine Verbesserung für das Leben der Juden. Luthers antijüdischer Furor enttäuschte diese beinahe messianischen Hoffnungen. Auf der anderen Seite führte die Fixierung der Reformatoren auf den ursprünglichen, wahren Sinn der Bibel sie zur hebräischen Sprache und zu einer ambivalenten Faszination fürs Judentum.
Durch die jahrhundertelangen Konflikte innerhalb des Christentums führte die Reformation zu tiefgreifenden Veränderungen, die am Ende auch das Judentum betrafen. Die Realität und Toleranz (oder gar Wertschätzung) religiöser Differenz wurden langsam auch Teil einer Idee Europas. Diese Idee ist weder allein der Reformation zu verdanken, noch ist sie schon verwirklicht. Sie sollte nicht nur aus jüdischer Sicht ein Leitmotiv der Feiern, Reden und Gottesdienste im Luther-Jahr sein.
Der Autor ist Wissenschafter am Institut für Jüdische Theologie der Universität Potsdam
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