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Ein Thesenanschlag

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Man spricht nidit ohne Grund heute von einer Luther-Renaissance. Alte reformato- rische Gedankengänge über Glauben, Sünde, Wesen des Mensdien, Rechtfertigung, Stellung zur Welt... werden heute neu durdi- dacht. Die gleiche Renaissance ist auch innerhalb des Kalvinismus festzustellen, wo die dialektisdie Theologie unter der Führung von Karl Barth die klassischen Thesen Kal- vins in modernes Licht erhoben hat. Die geistige Situation von heute scheint vieles gemeinsam zu haben mit dem theologischen Aufbruch der Reformationszeit. Luther hat dadurch, daß er an die Tore von Wittenberg seine Thesen anschlug, vor seinen Zeitgenossen formell nichts Neues getan, denn es war die alltäglidie Form des theologischen Kampfgesprächs. Die Aufregung kam vom Inhaltlichen her. Wenn heute wieder Thesen angeschlagen werden, so gilt das eigentlich Aufrüttelnde ebenfalls seinem Inhalt.

Der kommenden Vollversammlung des ökumenischen Rates der protestantischen Kirchen in Amsterdam gingen schon einige vorbereitende Tagungen voraus. Das eben im Gotthelf-Verlag in Zürich erscheinende Buch „Der Weg von der Bibel zur Welt“ bringt einen Rechenschaftsbericht über zwei soldier vorbereitender Tagungen. Die eine fand vom 10. bis 12. August 1946 in London statt, die andere vom 5. bis 9. Jänner 1947 in Bossey bei Genf. Bei beiden fanden sich Theologen der verschiedensten protestantischen Richtungen ein, um das Thema der Amsterdamer Vollversammlung „D ie Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan“ vorzubereiten. Neben diesen vorbereitenden Tagungen wurden vom ökumenischen Rat noch vier Studienkommissionen eingesetzt, die der Vollversammlung internationale Sammelbände vorzulegen haben über die Kirche in Gottes Heilsplan, Gottes Heilsplan und das menschliche Zeugnis, die Kirche und die Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung, und die Kirche und die internationalen Angelegenheiten.

Laut der uns vorliegenden zwei Tagungsberichte aus London und Bossey haben die Referenten in Form von Thesen zu drei brennenden Fragekomplexcn Stellung genommen: Autorität und Bedeutung der

Bibel heute, Autorität und Bedeutung des neutestamentlidien Ethos und Autorität und Bedeutung des alttestamentlichen Ethos heute.

Die Kirche bezieht damit eine neue theologische Position. Nachdem das Verhältnis der evangelischen Kirdie zur Welt jahrhundertelang vOn der christlichen Botschaft her bestimmt worden war, war eine Zeit hereingebrochen, in der vor allem die vom Historismus überfluteten Kirchen die Plattform der Welt zu betreten versuchten. Auf dieser Plattform, über der der Glanz der „objektiven" Wissenschaftlichkeit schwebte, war ein Gespräch mit der Welt nidit allzu sdiwierig. Man konnte sidi leicht über eine Anzahl Morallehren einigen, die ja — audi! — in der Bibel vorhanden sind. Aus der zentralen Heilsbotschaft der Bibel wurde dabei eine Frage, die man am liebsten den Pietisten überließ. Das liberale protestantisdie Kirchentum ist im Raum des Abendlandes zu Grabe getragen worden. Heute sucht die evangelische Kirche nicht mehr die ausgleidiende gemeinsame Plattform mit der Welt. Sie distanziert sich von ihr und tritt ihr gegenüber. Diese neuen Einsichten, die die Kirche in den letzten 20 bis 30 Jahren nacheinander in verschiedenen Teilen der Erde erhalten hat, madien nun auch die ökumenische Arbeit in gewisser Weise schwieriger als früher. Denn, wenn vom Zentrum der christlichen Botschaft aus zur Welt geredet werden soll, müßte nicht nur Einigkeit darüber herrschen, wo dieses Zentrum liegt, sondern es müßte auch klar sein, welchen Weg man von diesem Zentrum aus zur Welt zu wählen hat.

Da in allen Kirchen der Welt ais einigendes Band die Bibel aufliegt, richtete sich die weitere Diskussion um die Autorität der Bibel, um von hier aus zum Zentrum der christlichen Botschaft vorzustoßen. Wenn auch hierin die Meinungen sehr auseinandergingen, so kann es doch als gemeinsamer Zug gewertet werden, daß zur Begründung der Autorität der Bibel in hohem Maße die Autorität der Kirche beigezogen wird. Die Bibel ist dadurch aus der individualistischen Vereinsamung herausgehoben und in die Gemeinschaft der Kirche zurückgeführt. „Das Ergebnis der ganzen Geschichte ist die Existenz der Kirche, die zugleich der bleibende Zeuge der Wirklichkeit des Wortes Gottes (der Bibel) ist.“ Das testimonium spiritus sancd internum müsse in der Begegnung mit der Kirche gesucht werden. Denn der Heilige Geist sei vor allem das Geschenk an die Gemeinschaft der Kirdie und innerhalb dieser Gemeinschaft wird er von allen erkannt..Solche Sätze hätten vor nicht zu langer Zeit die hellsten „Proteste“ der protestantischen Theologen hervorgerufen. Ein Teil widerspricht ihnen auch heute noch. Aber immerhin sind solche Worte ein Zeichen der Zeit. Auf der Basis eines solchen Kirchenbegriffes kann auch ein Katholik in das theologische Gespräch eintreten, und es ist bedauerlich, daß auf keiner der beiden Tagungen das katholische Gedankengut eingearbeitet wurde. Fast hat man den Eindruck, daß von protestantischer Seite die katholisdie Kirche noch immer zu sehr von außen als die „Machtkirche“ angesehen wird. Und doch weisen gerade d großen Erklärungen der letzten Päpste aut das innere Mysterium der Kirche hin.

In der weiteren Diskussion über das Zentrum der christlichen Verkündung konzentrierten sich alle Fragen auf das Christusproblem. Wer ist Christus? Die Debatte wurde hier vor allem über die Königsherrschaft Christi geführt. Dies gehört nach dem Urteil des Herausgebers der Sitzungsberichte zu dem Besten, was die Konferenz überhaupt geleistet hat. Wenn irgendwo, dann mußte hier, im eigentlichen Zentrum des christlidien Glaubens, die Möglichkeit zu einer echten Verständigung bestehen. Die Differenzen wurden tatsächlich geringer, je naher man diesem Zentrum kam. Das Ergebnis wurde in sieben Thesen zusammengefaßt, von denen die ersten vier eine weitgehende Ähnlichkeit mit der katholischen Lehre aufweisen, so wenn es heißt:

1. These: Gott hat in Christus, dem ewigen Wort, die Welt geschaffen und regiert sie in ihm als dem Auferstandenen und Erhöhten.

2. These: Gott hat in dem fleischgewordenen Christus die von ihm abgefallene Welt mit sich versöhnt. Durch ihn ist der neue Äon hereingebrochen — mit der Erlösung von Sünde, Tod und Teufel für alle, die an ihn glauben. Der alte Äon wird aber erst im End- geridit aufgehoben, und bis dann leben die Gläubigen in dauerndem Kampf mit allen bösen Mäditen.

3. These: In diesem Äon ist die Erlösung nur in der Kirche als Leib Christi gegeben. Aber Gott wirkt nicht bloß in der Kirche, sondern erhält in Christus die ganze Welt und nimmt auch die Mächte dieser Welt in seinen Dienst, auch wo sie nichts davon wissen.

4. These: Die Kirche verkündet vom Worte Gottes her, so wie sie es aus der Heiligen Schrift, Altem und Neuem Testament allein hört, daß Christus der Herrscher der ganzen Welt ist, und sie hat das Recht und die Pflicht, alle Menschen und auch den Staat, für den sie dauernd Fürbitte zu leisten hat, auf das verpflichtende Gesetz Gottes hinzuweisen und alles Unrecht mit dem Worte Gottes zu strafen.

Wer die zur 4. These gehörende Diskussion gelesen hat, findet das hier formulierte „Allein-Schrift-Prinzip“ auch für den katholischen Christen erträglich. Im Vergleich zu den Kirdienversamm ungen von Stodtholrn und Lausanne, bilden diese vorbereitenden Thesen, auf die sich die Teilnehmer geeinigt hatten, ėinen gewaltigen Fortschritt.

Den Thesen ist allerdings eine sehr fragwürdige Bemerkung vorausgeschickt, die besagt, daß die Thesen nur „als Arbeitsthesen“, das heißt: als vorgesdilagene Hypothesen zu werten sind. Über das eigentliche Schicksal der Thesen wird dann die Vollversammlung entscheiden. Gerade dieser Umstand offenbart eine elementare Not, Die ein- berufene Vollversammlung will sich bemühen, dieser chaotischen Welt neu die Botschaft zu verkünden, daß Christus Herr und König aller Welt ist und alle Gewalten sich ihm zu beugen haben, aber sie muß innerhalb ihrer eigenen Kirchen erst um die Anerkennung dieser Tatsache ringen.

Aber hiebei ist doch eines festzustellen: die protestantischen Kirchen sind auf dem

Wege, die Kirche nidit bloß im Propst gegen alles äußere Kirchentum zu sehen. Dazu kommt noch der Umstand, daß sich die katholische Theologie immer mehr der Kirdne als dem inneren Mysterium zuwendet. Die bedeutendste Kundgebung in dieser Richtung ist das Rundsdireiben Corpus Christi mysticum. So ist beiden Kirdien ein neues Christusbild gemeinsam, das über dem Chaos der zusammenbrechenden Zeiten als das Bild des Christuskönigs erscheint.

Darum sehen wir der angekündigten Vollversammlung des ökumenischen Rate der Kirchen in Amsterdam mit positiven Erwartungen entgegen. Über alle Verschiedenheiten hinweg kann di Versammlung zu einem beredten Zeugnis für Christus werden und zugleich ein Meilenstein auf dem Weg zur Una Sancta.

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