Friedrich Heer - © Foto: picturedesk.com / Imagno / Barbara Pflaum

Friedrich Heer: Rom, die Juden, wir

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Die katholische Kirche ringt auf dem II. Vatikanischen Konzil, sich vom christlichen Antijudaismus zu verabschieden.

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Die katholische Kirche ringt auf dem II. Vatikanischen Konzil, sich vom christlichen Antijudaismus zu verabschieden.

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Im Ringen um die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Juden wird eine Geistesschlacht sichtbar, deren Bedeutung von Christen, Juden und anderen zu allermeist heute kaum wahrgenommen wird. Für die katholische Kirche geht es um die Öffnung zu einer neuen, erstmaligen Begegnung mit den Juden. Dies setzt die Überwindung einer eineinhalbtausendjährigen Tradition voraus. Der christliche Antisemitismus ist die Krebskrankheit des Christentums. Das haben in den Jahren 1934 bis 1938 einige einsame Mahner in der Kirche auszusprechen gewagt, wie Pater Muckermann SJ. Und andere. 1944 wird der Abteilung IV, A 4, im Reichssicherheitshauptamt, der Abteilung, die vom Obersturmanführer Adolf Eichmann geführt wird, die Behandlung kirchlicher Angelegenheiten angegliedert. Nach den Juden, nach dem Endsieg wären die Christen an die Reihe gekommen.

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Nach jahrelangem Ringen um die Erklärung über „die Juden und die Nichtchristen“ des II. Vaticanums wurde nunmehr in diesem Herbst den Konzilsvätern eine Fassung vorgelegt, welche die Juden nicht vom tödlichen Vorwurf des Gottesmordes entlastet. Mit Berufung auf diesem Vorwurf wurden in den letzten eineinhalb Jahrtausenden Millionen Juden von Christen getötet. In der vor einem Jahr dem Konzil von Kardinal Bea vorgelegten Deklaration hieß es: Die Juden haben nicht die alleinige Schuld am Tode Christi, sondern die ganze Menschheit. In der gegenwärtigen Erklärung heißt es nur: „Man kann nicht den Juden unserer Zeit anlasten, was bei der Kreuzigung Christi geschah.

Gegen diese Kümmerform einer Konzilserklärung haben sich auf dem Konzil entschieden Kardinal König, die Kardinäle Bea, Cushing und Ritter und andere ausgesprochen. Die bedeutenden Widerstände gegen eine Erweiterung, ja überhaupt gegen eine Konzilserklärung zugunsten der Juden werden von Kardinälen wie Ruffini (Palermo), von afrikanischen Konzilsvätern und von Kirchenfürsten in den arabischen Ländern vorgetragen.Mitten in den eben erst begonnenen großen Kampf, dessen Entwicklung in den nächsten Generationen heute noch nicht abzusehen ist, führt ein Werk hinein, das bei Beginn des II. Vatikanischen Konzils allen Konzilsvätern zunächst in italienischer Sprache überreicht wurde, und das jetzt in einer „österreichischen Ausgabe“, Madrid 1963, vorliegt. Ausgaben in anderen Sprachen sind in Vorbereitung.

Im „Begleitwort der Verfasser“ heißt es: „Das nachstehende Buch wurde von einer Gruppe von Idealisten verfaßt, die strenggläubige Katholiken sind und die als Katholiken fest daran glauben, daß die katholische Kirche gerade jetzt eine der gefährlichsten Zeiten ihrer Geschichte durchläuft.“„Ich war ein Idealist!“ Diese Erklärung des Adolf Eichmann am 12. Juli 1961 während seines Prozesses in Jerusalem ist ebenso ernstzunehmen wie die Erklärung der Verfasser des Buches, Maurice Pinay (Pseudonym): „Verschwörung gegen die Kirche!, Rom 1962, Madrid 1963, die im Vorwort zur österreichischen Ausgabe festhalten: „Auf Grund zahlreicher Bitten, die uns aus den Reihen der österreichischen und deutschen Geistlichkeit erreichten, haben wir uns entschlossen, die österreichische Ausgabe des Buches 'Verschwörung gegen die Kirche' zu drucken.“Weiter heißt es dann: „Der Jahrhunderte dauernde Kampf der heiligen Kirche gegen die jüdische Religion und ihre Riten hatte nicht, wie man fälschlicherweise sagt, die religiöse Unduldsamkeit des Katholizismus zum Anlaß, sondern die ungeheure Verruchtheit der jüdischen Religion, die eine tödliche Bedrohung für die Christenheit darstellt.“

Für die katholische Kirche geht es um die Öffnung zu einer neuen, erstmaligen Begegnung mit den Juden.

Die Blutbäder unter den Juden und die Massenvernichtungen durch die Nationalsozialisten seien Erfüllungen der Gerichte Gottes. Heute drohe die Kirche erwürgt zu werden durch eine „Fünfte Kolonne“: diese werde von Nachkommen von Juden gebildet, die sich in früheren Jahrhunderten zum Christentum bekehrten undbis heute kryptojüdische Christen in die Seminare und Führungsstellen der Kirche bringen. Man müsse verstehen, „daß daher die Nazis den schwersten Fehler begingen, als sie glaubten, alle geheimen Verzweigungen des Judentums durch eine genealogische Untersuchung von nur drei Generationen feststellen zu können“.

Es heißt ferner: „Wir sind sicher, daß, wenn es heute ein Gericht mit so wirksamen Untersuchungsmethoden gäbe wie die Inquisition damals, es bekannt würde, daß viele jener Kardinäle, Erzbischöfe, Äbte, Stiftsherrn, Priester und Mönche Juden sind, die so nachdrücklich und eifrig, wenn auch zu heuchlerisch, den Fortschritt und Triumph der Freimaurerei und des Kommunismus fordern oder so fanatisch und erfolgreich die Juden verteidigen, wie sie es im Fall der hl. Kirche niemals getan haben.“ Und schließlich erklärt diese „Dokumentation“ über „diese Helfershelfer der Ketzereien, Kardinäle, Bischöfe und Geistliche aller Ränge“: „Zur Zeit der päpstlichen Inquisition wären sie zweifellos eingesperrt, aus dem Priesterstand abgesetzt und in einigen Fällen dem Stand der Laien zugeordnet worden, um hingerichtet zu werden.“

Die Angriffe gegen den Kardinal von Wien im „Messagero“ vom August dieses Jahres, seine Denunziation als Helfershelfer des Kommunismus, erhalten von hier aus die „richtige“ Beleuchtung. Ein Christ müsse, heißt es weiter, je fantastischer er als Christ sei, auch gegen die Juden sein, da diese „die Hauptfeinde der Christenheit und des menschlichen Geschlechts sind“. „Die Synagoge war vor nahezu zweitausend Jahren weniger ein Tempel zur Verehrung Gottes, sondern vielmehr das Hauptquartier der gefährlichsten, mächtigsten Verbrecherbande aller Zeiten.“ Um die Menschheit von der jüdischen „Bestie“ zu befreien, müsse eine breite antisemitische Propaganda heute unter allen politischen Parteien und allen religiösen Konfessionen aufgebaut werden; es sei notwendig, die „antisemitische Aufklärung“ der Kirche vom 9. zum 16. Jahrhundert nachzuahmen und heute „kurze aber klare Broschüren für die Arbeitermassen und Bücher für die gebildeteren Schichten zu drucken, die größtenteils gratis an die einzelnen Haushalte und einzelnen Personen verteilt werden müssen, damit alle Welt über die Gefahr des jüdischen Imperialismus und seine revolutionäre Tätigkeit aufgeklärt wird“. Offiziere, Politiker, Akademiker, Studenten, das Personal von Radio und Fernsehen, alle Gesellschaftsschichten, der Klerus in allen Kirchen seien besonders aufzurufen. Die Geistlichen und die Reichen sollten diese Propaganda finanzieren sonst erwarte sie die Hinrichtung oder das Konzentrationslager des jüdischen Kommunismus.

Wir können heute nicht mehr „übersehen“, daß viele der SS-Führer in katholischen und evangelischen Kirchen getauft wurden.

Diese „Dokumentation“ ist todernst zu nehmen. Sie spricht eine menschliche Gesellschaft an, in der pathologische Elemente hochdrängen. Ein Blick auf Makarios, auf „christliche“ militante, zu jeder Aktion entschlossene Antisemiten in beiden Amerika zeigt, daß das, was für die evangelische Christenheit der evangelische Theologe Paul Schütz als „pathologische Strukturen in der Kirche von heute“ angesprochen hat, auch für bestimmte Kreise unter Katholiken gilt.Ein Blick auf Österreich, in unser Land, in die Briefe, die unsere Redaktion „in Sachen Juden“ im Lauf von bald zwei Jahrzehnten erhalten hat, zeigt, wie anfällig auch in unserem Volk Menschen für diese Krebskrankheit des Christentums sind.

Eine hochbedeutsame Tatsache, mehrfach in der Geschichte in Krisen-und Notzeiten erwiesen, bezeugt sich heute wieder: Leidenschaftlicher Antisemitismus findet sich auch bei Menschen, die persönlich keinen einzigen Juden kennen oder auch nur gesehen haben, und bei Völkern und Volksgruppen, die keinerlei Berührung mit Juden haben.Das Christentum und der Katholizismus stehen am Morgen des Atomzeitalters gerade hier an einer Wegmarke: Es gilt, über den blutigen Schatten einertausendjährigen Tradition und einer mörderischen Praxis, einer Anwendung dieser Theorien zu springen. Wir können heute nicht mehr „übersehen“, daß viele der SS-Führer in katholischen und evangelischen Kirchen getauft wurden. Kaltenbrunner, Müller (der Gestapochef), Hoess, der Kommandant von Auschwitz (er sollte Priester werden), entstammen katholischen Familien. Himmler hatte den Bischof von Bamberg als Taufpaten. Adolf Eichmann gehörte in seiner Jugend einem Bibelkreis von Aktivisten des evangelischen „Christlichen Vereins Junger Männer“ (CVJM) an.

Der christliche Antisemitismus zehrt auch deshalb das Mark der Substanz des Christentums auf, da er mit der tiefen Verwurzelung des Jesus von Nazareth im Alten Testament, in den reichen religiösen und spirituellen Traditionen Israels gerade auch dies „übersieht“, nicht wahrnehmen will: Wenn das Christentum auf seine eigene Einwurzelung in diesen Lebenskräften des Alten Bundes verzichtet, vermag es jene Weltfreude, jene Gerechtigkeitssuche, jene selbstkritische Frömmigkeit im Angesicht Gottes und des Menschen, jene Verpflichtung, für die ganze Menschheit „das Reich Gottes“ in Leben und Leiden hier und heute vorzubereiten, nicht zu sehen, die das Judentum durch die Jahrhunderte bezeugt.

Die heute von Theologen undPriestern vielbeklagte Reduktion eines gewissen kirchlichen Christentums auf eine schmale, individuelle Seelsorge, die nur das „Heil“ des eigenen Ichs im Auge hat und alle Welt da draußen vor der eigenen Tür läßt, hat hier ihre letzte Grundlage: Das ReichGottes, als ein Reich der Gerechtigkeit, wurde den chiliastischen Bewegungen von Schwärmern, von linken und rechten Utopisten und Radikalen überlassen, weil man es nicht wagte, die Nachfolge Christi in der Nachfolge der ältesten und größten Traditionen Israels zu sehen.Wir stehen heute, im Christentum und im Katholizismus, erst am Anfang eines Anfanges: einer neuen Begegnung mit Israel, mit den Juden. Mit dem II. Vatikanischen Konzil hat das Neue Jahr, ein neues Weltenjahr, eine neue weltgeschichtliche Epoche des Christentums noch nicht begonnen. Wohl aber stehen wir vor seiner Schwelle. Wir werden sie nur überschreiten, wenn wir nüchtern und ernst die Worte vernehmen, die in diesem Herbst 1964 Kardinal Dr. Franz König, Erzbischof von Wien, der Jüdischen Kultusgemeinde in Wien entboten hat: „Zu Rosch Haschanah ist es ein schöner Brauch, Glück für das kommende Jahr zu wünschen. Aber diese Wünsche blieben doch leer, wenn sie nicht von der Bereitschaft zur Tat, die das Wohl des anderen begründen hilft, begleitet wären.

So verspricht nun gerade das Jahr 5725 Ihrer Zählung für die Beziehungen zwischen Menschen jüdischen und christlichen Glaubens ein neuer Beginn zu werden. Das II. Vatikanische Konzil wird ja die Vorlage De Judaeis behandeln. Jeder, der weiß, welche Bedeutung eine solche geistige Weichenstellung hat, wie sie durch ein Konzil erfolgt, wird ermessen können, wie wichtig dieses neue Jahr für das jüdisch-christliche Verhältnis sein wird; gilt es doch durch die Erklärungen des Konzils einen unvertretbaren und falschen Begriff von Kollektivschuld samt seinen psychologischen Wirkungen zu überwinden. So soll durch die ausdrückliche Beseitigung weitverbreiteter Irrtümer ein neues und besseres Klima in den christlich-jüdischen Kontakten nicht nur einzelner besonders interessierter und aufgeschlossener Fachleute, sondern vor allem der breiten Öffentlichkeit geschafften werden. In diesem Sinn richtet sich mein Neujahrsgruß an die Menschen beider Bekenntnisse, um zu erkennen, wie sehr die gemeinsamen geistigen und religiösen Wurzeln in jenem Buch verankert sind, das die Juden und auch die Christen als Heilige Schrift anerkennen und aus dem sich ergibt, daß wir alle uns Söhne Abrahams nennen dürfen. Daß dieses kommende Jahr uns ein tieferes gegenseitiges Verstehen, nicht nur auf der Basis rein bürgerlicher Toleranz, sondern auf der Grundlage jener Glaubensüberzeugung, die wir gemeinsam haben, bringen möge, ist sicher das Schönste was wir aus diesem Anlaß wünschen können.“

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