Bibliothek Stuttgart - © Foto: iStock / Zhang Shu

Geisteswissenschaft: Die letzte Bastion

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250 Jahre nach Hegels Geburt sind die Geisteswissenschaften in Bedrängnis geraten. Doch gerade heute sind ihre Leistungen neu zu würdigen. Das zeigt sich sogar in Medizin und Psychotherapie.

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250 Jahre nach Hegels Geburt sind die Geisteswissenschaften in Bedrängnis geraten. Doch gerade heute sind ihre Leistungen neu zu würdigen. Das zeigt sich sogar in Medizin und Psychotherapie.

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Dampfmaschine, Röntgenstrahlen, Penicillin, unzählige Erfindungen, großartige Entdeckungen und hoffentlich auch bald ein Impfstoff gegen Corona lassen sich am Konto naturwissenschaftlicher Forschung verbuchen. Es ist einleuchtend, dass der empirische und analytische Geist der Naturwissenschaften für viele Sternstunden der Menschheit verantwortlich ist. Und dabei auch viel Leid und Übel verhindert hat, indem Infektionskrankheiten und andere Plagen ausge­rottet wurden. Was die Geisteswissenschaften im Vergleich dazu leisten beziehungsweise was der Nutzen und Wert von Philosophie, Theologie, Geschichte, Literaturwissenschaft & Co. genau ist, das wird vielen Zeitgenossen immer unklarer. Speziell jenen, die herablassend von „Orchideenwissenschaften“ sprechen.

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Wer den Begriff der Geisteswissenschaft geprägt hat, ist unklar. Ein erster Beleg des Wortes findet sich 1787 in der Schrift „Wer sind die Aufklärer?“ eines Anonymus. Ausgebreitet und langsam etabliert hat sich der Terminus dann ab 1883 durch die Schrift „Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und ihrer Geschichte“ aus der Feder des deutschen Lebensphilosophen Wilhelm Dilthey. Von ihm stammt auch die berühmte Formel: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“, mit der er die Psychologie, die er den Geisteswissenschaften zurechnet, von den Naturwissenschaften abgrenzt.

Der Gegenstand, mit dem sich die letzteren beschäftigen, ist die Natur im weitesten Sinne: Sie kann untersucht, beobachtet und vermessen werden. Manche Vorgänge können kausal abgeleitet und als Spezialfall einer generell gültigen Gesetzmäßigkeit aufgefasst werden. Das naturwissenschaftliche Begreifen ist seinem Objekt gegenüber neutral eingestellt und für die Persönlichkeitsentwicklung des jeweiligen Forschers, Schülers oder Studenten von geringer Bedeutung.

Gefahren der Bilderflut

Bei den Geisteswissenschaften ist genau das Gegenteil der Fall. Da sie sich mit den Erzeugnissen des menschlichen Geistes beschäftigen, verfahren sie nicht nur anders, sondern haben sie auch einen anders gearteten Sinn. Was der Mensch hervorbringt – Bauten, Kunstwerke, literarische Zeugnisse, philosophische und religiöse Texte – kurz, die Kultur und Geschichte, in der Menschen leben und sterben, kann, soll und muss durch verstehendes Einfühlen erschlossen werden – also indem man sich nachvollziehend in den jeweiligen Entstehungszusammenhang der Bauten, Kunstwerke, Texte etc. hineinversetzt.

Wer das 21. Jahrhundert verstehen möchte, muss in die Geschichte blicken; wer die eigene Kultur begreifen will, tut gut daran, sich mit fremden Ethnien und deren Lebenspraxis zu beschäftigen; und wer sich wünscht, der metaphysischen Obdachlosigkeit unserer Zeit etwas entgegenzuhalten, wird vielleicht bei den religiösen Virtuosen, in den Traktaten der Mystiker fündig. Diese Art der Forschung und Wissensvermittlung ist alles andere als neutral. Vorausgesetzt, es wird dabei nicht die Asche der Tradition angebetet, sondern das lebendige Feuer der Kultur weitergegeben.

Die Beschäftigung mit den Erzeugnissen des Geistes lässt die Seele reifen: Diese Art der Bildung bewahrt uns davor, eindimensional zu werden.

Es ist die Ur-Idee der Bildung, dass die Beschäftigung mit den Erzeugnissen des Geistes die Seele formt und reifen lässt. Wem es aufgrund seiner Sozialisation vergönnt ist, sich zu bilden; wem Zeit gegeben ist, sich mit den Bildern und Weltbildern der Vergangenheit, anderer Kulturen und deren Lebensweisen vertraut zu machen; oder wer sich als Autodidakt diese Zeit nimmt, hat große Chancen, dass er in der Bilderflut der Gegenwart nicht untergeht – und somit nicht zum Spielball von Verschwörungstheoretikern, Rechtspopulisten und laut rufenden Blendern und Narzissten wird. Denn diese Bildung bewahrt Menschen davor, eindimensional zu werden.

Diltheys epochale Unterscheidung von naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen wurde spätestens durch den Neukantianer Wilhelm Windelband um eine weitere Facette bereichert. Als der aus preußischem Haus stammende Philosoph 1894 zum Rektor der Universität Straßburg berufen wurde, argumentierte er in seiner Antrittsrede, dass die Naturwissenschaften als „Gesetzeswissenschaften“ auf das Erfassen eines allgemein gültigen Gesetzes abzielen, während die Geisteswissenschaften als „Ereigniswissenschaften“ auf einmalige Geschehnisse fokussieren: Die einen wären nomothetisch (nomos: Gesetz), die anderen ideographisch (idios: individuell).

Medical Humanities

Wenn sich zum Beispiel ein Psychiater für den Zusammenhang zwischen Depression und den Vorgängen im Gehirn interessiert, will er allgemeingültiges, gesetzmäßiges Wissen in Bezug auf diese Krankheit gewinnen: Er verfährt erklärend, also nomothetisch. Wenn sich dagegen ein existenzanalytischer Psychotherapeut mit der Depression eines speziellen Menschen beschäftigt, etwa mit der abgrundtiefen Melancholie Friedrich Nietzsches, dann versucht er herauszufinden, warum dieser einmalige Philosoph, den es ja kein zweites Mal gibt, so geworden ist, dass ihm das Leben freudlos erschien; warum er so niedergeschlagen war, dass er zeitweise sogar an Selbstmord dachte. Man versucht sich in den Patienten einzufühlen, verstehend nachzuvollziehen, warum Nietzsche als Diagnostiker des Nihilismus zum Leidenden geworden ist: Das ist ideographische Forschung. Sie spielt auch für die jungen „Medical Humanities“, die neuartige Verbindung von Medizin und Geisteswissenschaften, eine zentrale Rolle.

Auch wenn Historiker wissen wollen, warum es zur Französischen Revolution oder zum Zweiten Weltkrieg gekommen ist, beschäftigen sie sich mit einmaligen geschichtlichen Ereignissen und tun etwas grundlegend anderes als Naturwissenschaftler, die allgemeinen Zusammenhängen biologischer oder chemischer Tatsachen auf der Spur sind. Beides ist eminent wichtig. Die Tatsache jedoch, dass die einen auf konkrete Technologien verweisen können, die anderen aber auf keine direkt vergleichbaren und unmittelbar zugänglichen Errungenschaften, ist vielleicht mit daran schuld, dass die gesellschaftliche Bedeutung der Geisteswissenschaften allzu oft unterschätzt wird.

Dass deren erkenntnistheoretische Bestimmung eine deutsche Affäre ist, zeigt nicht nur der Verweis auf Dilthey und Windelband, die beide das Erbe des deutschen Idealismus auf ihre eigene Art verwalten, sondern auch die Schwierigkeit, den Begriff ins Englische zu übersetzen, das mittlerweile ja zur primären Wissenschaftssprache geworden ist. Die üblichen Analoga „humanities“ und „(liberal) arts“ suggerieren, dass das weniger mit Wissenschaft zu tun hat als mit der Pflege von Bildungs-Zierrat und dem Abstauben von alten Büsten, Bildern und Büchern.

Ein weiterer Grund, warum die Geisteswissenschaften unter so etwas wie gesellschaftlicher Anerkennungsvergessenheit leiden, liegt wohl auch daran, dass spätestens seit der Moderne das Credo gilt: „Messen, was sich messen lässt, und messbar machen, was sich noch nicht messen lässt“. Damit wird Wirklichkeit auf Messbarkeit, Beweisbarkeit, Begründbarkeit und Feststellbarkeit reduziert. Mit der Folge, dass heute pseudowissenschaftliche Abhandlungen religiöse Phänomene und andere nicht-messbare und nicht-beweisbare Wirklichkeitsaspekte, wie zum Beispiel jenen des Lebenssinns, einfach weg-erklären. Was bleibt, ist eine entzauberte, ausgehöhlte und nihilistische Welt. Zum Glück gibt es noch die Geisteswissenschaften, die als letzte Bastion gegen die metaphysische Heimatlosigkeit des postmodernen Menschen dienen können. Wenn etwas unsere geistlose Zeit und die bedrohte Vielfalt der Phänomene retten kann, dann der Geist – und die Wissenschaften vom Geist.

Der Autor ist Philosoph, Psychotherapeut und Professor für Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien.

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