Sehnsucht nach Mystik

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"Mystik" ist modern. Aber welche Mystik? Ein fiktiver Dialog mit Mechthild von Magdeburg und Meister Eckhart zeigt: In christlicher Mystik geht es um anderes als ums eigene Wohlbefinden.

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"Mystik" ist modern. Aber welche Mystik? Ein fiktiver Dialog mit Mechthild von Magdeburg und Meister Eckhart zeigt: In christlicher Mystik geht es um anderes als ums eigene Wohlbefinden.

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Das Wort Mystik und das Adjektiv mystisch sind seit geraumer Zeit Anwärter auf das Unwort des Jahres. Nicht nur jede Winterlandschaft und jeder Goldfischteich werden in Tourismusprospekten mit diesen Begriffen geschmückt, sogar silvesternächtliche Lokaltouren sollen den Teilnehmern ein mystisches Erlebnis bescheren. Ein Mystiker ist, wer die Mystik des oben Genannten zu entdecken weiß. Die Sehnsucht nach Mystik ist groß und umfasst beinahe alles, was eben nicht eindeutig mess- und fassbar ist. Die Wissenschaft, selbst ernannte Meisterin des Mess- und Fassbaren, hat natürlich eine viel prosaischeres Verständnis: Als Mystik gilt eine bestimmte religions- und geistesgeschichtliche Strömung, deren Hochblüte vom späten Mittelalter bis zu einigen verzögerten Highlights im 16. Jahrhundert stattfindet. Als Mystiker hätte sich selbst freilich keine der unter dieser Rubrik genannten Personen bezeichnet.

Was also ist Mystik für jene, denen die Wissenschaft attestiert, Mystiker zu sein? Wenn wir uns in einen fiktiven Dialog mit zwei prominenten Vertretern der mittelalterlichen Mystik begeben - und dabei eine Frau und einen Mann wählen - was hätten sie uns zu sagen? Unsere Dialogpartner: Mechthild von Magdeburg, geboren ca. 1210, lebt lang als Begine in Armut in Magdeburg, erst um 1250 beginnt sie, ihre persönlichen Erfahrungen mit Gott niederzuschreiben. Ob ihrer massiven Kleruskritik (die Domherren sind "stinkende Böcke") muss sie schließlich Magdeburg verlassen und findet ihren Lebensabend im Zisterzienserinnenkloster in Helfta, wo sie 1294 stirbt. Ihr Werk trägt den Titel "Das Fließende Licht der Gottheit". Unser zweiter Dialogpartner: Meister Eckhart, geboren um 1260 nahe Gotha, durchläuft eine klassische Ordens- und Akademikerkarriere als Professor in Paris, Provinzial und Beginenseelsorger, bis er 1325 der Häresie angeklagt wird und 1327 am Weg nach Avignon, wo er dagegen berufen will, stirbt. Sein Publikationsverzeichnis umfasst mehrere Werke in Deutsch und Latein.

Von der Ekstase bis zu "wahrer Gelassenheit"

Was diese beiden aus unserer Sicht zu Mystikern macht, ist ihre konsequente Suche nach der unio mystica, der Vereinigung oder gar Einheit (ein feiner, aber wichtiger Unterschied) mit Gott. Mechthild beschreibt diese unio als Liebesvereinigung mit Gott.

Sie ist eine "nackte Seele", eine "heimliche Geliebte", die "im Minnebett wartet", die vor "Sehnsucht fast vergeht", die "den Minnetod stirbt" und "lieber zur Hölle fährt", als von ihrem Liebsten getrennt zu sein. Ihre Gotteserfahrung ist eine ekstatische Erfahrung, ein "grundloses" Fallen und himmlisches Schweben zugleich - und ja, es ist eine erotische Erfahrung, deren sprachliche Darstellung viele moderne Dichterinnen alt aussehen lässt. Mechthilds Sehnsucht richtet sich nicht auf einen diffusen Zustand, sondern auf eine Person, auf die einzige Person, für die sie lebt (und beinahe aus Sehnsucht und Askese stirbt): auf Gott. Ihre Texte sind nicht mystisch im Sinne von "heimelig" (die Winterlandschaft) oder esoterisch naturmeditativ (der Goldfischteich), sondern emotional, gewagt, extrem, ein Ausreizen aller ihrer Zeit bekannten lyrischen Formen, und sie lassen den Leser und die Leserin ob so viel exzessiver Sehnsucht bar jeder postmodernen Ironie verstört zurück.

Meister Eckhart hingegen würde uns belehren, dass es zum einen das Substantiv "Mystik" zu seiner Zeit noch gar nicht gibt, und es der Sache nach wohl um nichts anderes gehen könne als um das Erlangen wahrer Gelassenheit. Die unio mystica muss für Eckhart eine Seinseinheit sein, keine Liebesvereinigung mit einem arg vermenschlichten Gott, wie ihn der Professor in seiner Zeit als Seelsorger Frauen wie Mechthild auszureden versucht hat. Allein der Begriff der Sehnsucht ist für Eckhart, geht es um die Einheit mit Gott, fehl am Platz. Denn Sehnsucht bedeutet, etwas zu wollen, und der Eigenwille steht zwischen Gott und dem Menschen. Einswerden mit Gott heißt für Eckhart, alles diz und daz, wie er es nennt, zu lassen, vor allem auch sich selbst zu lassen. Was dann noch überbleibt, ist Gott. Der Mensch ist in seinem irdischen Zustand in allerlei Hüllen verpackt, materielle wie immaterielle, und darunter ist das Sein an sich, und dieses fließt dem Menschen von Gott zu. Wer sich aller Hüllen entledigt hat und nackt dasteht, ist im Zustand der Einheit.

Meister Eckhart gilt heute nicht zu Unrecht als Vertreter einer hochspekulativen Mystik, in der mittelalterliche Ontologie und Neuplatonismus sich zu einem gefährlichen Gedanken verbinden: Der Mensch definiert sich nicht durch Äußerlichkeiten, auch nicht durch äußere Werke, mögen sie noch so fromm sein (und der Kirche Geld bringen), der Mensch braucht Gott auch nicht zu fürchten wegen Verfehlungen in diesen Äußerlichkeiten, denn Gott kann gar nicht anders, als beim Menschen zu sein, sogar in der Hölle. Es ist bezeichnend für das Mittelalter und für die Gegenwart, dass die kirchlichen Autoritäten Eckhart als Häretiker gesehen haben, wir aber meinen, die Kirche hätte doch Mechthild ob ihrer expliziten Gotteserotik verfolgen müssen.

Radikale Ausrichtung am anderen

Was hätten Mechthild und Eckhart zu sagen zur Sehnsucht nach Mystik? Sie wäre ihnen sicher fremd, der Begriff mystisch missbräuchlich, fast blasphemisch verwendet für Urlaubskataloge, aber auch für Gefühlszustände, in denen es ums eigene Wohlbefinden geht. Eckhart fordert ganz radikal "Lass dich selbst!" und erteilt damit jeder spirituellen Selbsterfahrung schon im Wortsinn eine Abfuhr. Mechthild will nicht sich selbst, sondern Gott erfahren, die Winterlandschaft um sich herum nicht bewusst wahrnehmen, sondern vergessen, ebenso wie den eigenen Körper und dessen Bedürfnisse.

Die Mystik des Mittelalters hat sich bisher weitgehend einer Vereinnahmung durch die Sehnsüchte der Postmoderne nach einer "Mystik light und für alle" entzogen, auch wenn Eckhart-Zitate in Spruchkalendern und ein Mechthild-Likör Schlimmes befürchten lassen. Unsere Sehnsucht nach Mystik gilt im Letzten uns selbst, unseren Bedürfnissen und bleibt deshalb unbefriedigt. Christliche Mystik richtet sich radikal am anderen aus, ihre Sehnsucht gilt Gott, dem Vergehen in ihn hinein und dem Wirken aus ihm heraus. Sehnsucht ist, lehrt Mechthild, kein romantisches Gefühl, sondern eine radikale Erfahrung, die oft auch eine Erfahrung der Abwesenheit, der Leere ist. Vielleicht halten wir ihre Texte auch deshalb heute so viel schwerer aus als jene Eckharts, den zunehmend die Esoterik für sich zu entdecken meint. Dabei ist Eckhart, ernsthaft gelesen und verstanden, noch radikaler als Mechthild: Er würde beides aus dem Titel streichen: die Sehnsucht und die Mystik. Eckharts Überschrift hieße einfach: Gott.

Fakt

Mystik-Schwerpunkt an der Uni Graz

Der hier abgedruckte Beitrag der Grazer Theologin und Religionswissenschafterin Theresia Heimerl fasst die Ausführungen zusammen, die sie im Rahmen der öffentlichen Vorlesungsreihe "Religion am Donnerstag" an der Uni Graz vorgelegt hat. Zum Semesterthema "Sehnsucht Mystik?" finden noch Vorträge zur politischen Sprengkraft der Mystik am Beispiel der Katharina von Siena (13. Jänner) sowie zum Themenkomplex Frage nach dem Leid/Krankheit/Tod (20. und 27. Jänner) statt. (ofri)

Religion am Donnerstag

Universitätszentrum Theologie, 8010 Graz

Heinrichstraße 78, donnerstags, 19 Uhr

www-theol.uni-graz.at

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