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Mehrdeutige Trends: „ So leid es uns freut”

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Die Sehnsucht nach Freiheit und Glück hat in den letzten Jahren religiöse und andere Bindungen zurückgedrängt. Zeichnen sich Änderungen ab?

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Die Sehnsucht nach Freiheit und Glück hat in den letzten Jahren religiöse und andere Bindungen zurückgedrängt. Zeichnen sich Änderungen ab?

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Prognosen waren immer schon schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen: Dieser selbstkritische Satz von Sozialwissenschaftern warnt davor, Trends zu sehr zu trauen. Zudem werden von den Fachleuten Trends noch einmal getrennt in solche, die sich selbst erfüllen (je mehr Kirchenaustritte prognostiziert werden, desto mehr Leute treten auch aus), und die anderen, die sich selbst zerstören, nicht zuletzt deshalb, weil die Verantwortlichen Maßnahmen gegen die Trends setzen (je mehr inakzeptable Bischöfe, desto mehr innere Kündigungen in der Kirche - deshalb werden akzeptablere Kandidaten nach Rom gemeldet).

So dünneisig also Prognosen sind: Es werden im folgenden drei Vorhersagen riskiert. Dabei handelt es sich um wahrscheinliche Entwicklungen, die in sich doppelgesichtig sind, also ein freundliches und ein unfreundliches Gesicht tragen. Sie lösen nicht nur eitel Zuversicht aus, sondern haben bei aller positiven Seite immer auch einen bitteren Beigeschmack. Eben „so leid es uns freut”. Die drei Prognosen drehen sich um die großen Stichworte Freiheit, Solidarität, Religiosität.

Der Freiheitsanspruch im Sinn von Selbststeuerung ist seit dem Anfang der 70er Jahre in Österreich merklich angewachsen. Die Leute wollen ihr lieben so leben, wie sie es für richtig halten. „Autoritarismus” (Adorno) als die Bereitschaft eines Menschen, sich lebensmäßig Autoritäten, Normen und Institutionen zu unterwerfen, hat hingegen abgenommen. „Recht hat, wer oben ist.”

Nun zeigen einige Studien zwischen 1990 und 1994, daß der Trend zu mehr Selbststeuerung offenbar gebrochen ist. Die Zahl der Autoritäten nimmt wieder zu. Ist also die Kehrseite des euphoristischen Freiheitstrends der Versuch, die lästige Last der Freiheit in Richtung von Führern, identitätsleihenden Gruppen (sekto-id-frommen oder politisch-rechten) wieder loszuwerden? Die Folge wäre dann nicht das Ende des „Freiheitstrends” , sondern eine dramatische Polarisierung zwischen Freiheitsbean-spruchern und Freiheitsflüchtern.

Zögerlich wird sich eine dritte Entwicklung verstärken: der Wunsch nach einer neuartigen Verbindung von freier Selbststeuerung und institutioneller Entlastung. Als Ausgleich zur Überlastung des einsamen Individuums werden freiheitsermöglichende Institutionen neue Akzeptanz finden.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Fähigkeit der österreichischen Bevölkerung zu belastbarer Solidarität eher gemindert denn gemehrt. Politische Parteien geraten daher immer öfter vor die fatale Wahl, entweder solidarische Politik zu machen oder die Wähler in Richtung Parteien zu verlieren, cjie mit der Angst um den erreichten Wohlstand wenig solidarische Politik machen („Österreich zuerst”). Aus der großen Solidartradition der österreichischen Sozialdemokraten kann dann unter der Hand eine Partei mit einer erstaunlich solidaritätsarmen Ausländerpolitik werden.

Zugleich wissen aber, so eine neuere Studie, die Menschen um die Überlebensnotwendigkeit von Solidarität. Längst ist an der Spitze der Erziehungsziele nicht mehr der Gehorsan sondern das Teilenlernen zu finden: 85 Prozent der Österreicherinnen haben diese Ansicht.

Auch gibt es einen gut erkennbaren Trend, Lebensräume, geprägt von „Stabilität und Liebe” (Brigitte und Peter L. Berger) immer mehr hochzuschätzen. Gewiß, Treue und Verläßlichkeit geraten inmitten einer fast religiösen Sehnsucht nach dem optimal leidfreien Glück in kurzer Zeit unter die Lebensräder. Aber gerade was uns heute fehlt, wird uns morgen wichtig werden: und das sind eben Solidarität, Treue, Verläßlichkeit, Verbindlichkeit. Es wird von Experten vorhergesagt, daß sich familienübergreifende „private Hilfsnetze” bilden werden, um das überlastete familiäre Hilfsnetz zu entlasten. So schwer wir uns also heute mit handfester Solidarität, zumal jener mit großer Reichweite tun, umso mehr wird es davon morgen geben.

Bleibt als dritter Trend noch jener in Bichtung einer religiösen Suche mit neuer Qualität. Ganz entgegen pessimistischen Prognosen der 70er Jahre vertritt heute in der Religions-forschung niemand mehr die Hypothese „je moderner, desto säkularisierter” . Gerade hochmoderne Gesellschaften (wie USA, Kanada) weisen hohe sozioreligiöse Prozentwerte auf. Aber auch in Europa wird seit geraumer Zeit eine leichte Zunahme religiöser Indikatoren beobachtet.

Übersehen wird vor allem die latente religiöse Aufladung des modernen Alltagslebens in Arbeit, Liebe und Amüsement. Um es gleich in herkömmlicher religiöser Sprache zu formulieren: Weil jeder Mensch „himmelsfähig” ist (sein Wünschen paßt nicht in Raum und Zeit), und weil vielen Zeitgenossen dank einer historisch einmaligen „Vertröstung auf das Diesseits” der „Himmel über uns” verschlossen ist, unterliegt das Leben innerhalb der mäßigen Grenzen von 70-90 Jahren der Last, maximales Glück in immer kürzerer Zeit hergeben zu müssen. Wir wollen alles, und zwar subito.

Das macht unser Leben hastig wie noch in keiner Kultur, führt aber, so kundige Therapeuten, immer mehr zu einer heillosen Überforderung: Wir arbeiten uns noch alle zu Tode (D. Fassel), wir amüsieren uns zu Tode (N. Postman), und auch die Liebe stirbt oft genug an religiöser Überforderung (J. Willi).

Aus solchem Leiden werden morgen Menschen einen Ausweg suchen. Die maßlose leidproduktive Sehnsucht wird als religiöse erkannt und wegen ihrer zwiespältigen Kraft (sie treibt das Leben voran und zerstört es zugleich) durchgearbeitet, religiös geheilt werden.

Es ist nicht schwer, auf diesem Hintergrund auch nur ansatzhaft eine Prognose über die Entwicklung der christlichen Kirchen zu riskieren. Diese wird auch davon abhängen, was sie mit den drei doppelgesichtigen Trends machen werden.

1. Die Kirchen könnten eine der verläßlichsten Freiheitsinstitutionen werden. Dazu müßten sie zunächst eine grundsätzliche Freiheitsoption abgeben. Den „Modernitätsverlierern” (den überlasteten Freiheitsflüchtern also) wäre Entlastung durch freiheitsförderliche Institutionen, Autoritäten und Normen zu verschaffen. Wird solche Entlastung gegeben, dann könnte sie zur Ermutigung werden, die Freiheit zu wagen statt vor ihr zu fliehen. Die Alternative zu einer solchen freiheitserhaltenden Kirche wäre die Gefahr zu rechtslastigen religiösen und politischen Fundamentalismen.

2. Die Kirchen könnten den Menschen dabei behilflich sein, wider verstehbare Ängste dennoch solidarischer zu leben. Das wird nicht geschehen, wenn Solidarität allein im moralischen Appell gefordert wird. Lahme laufen nicht schneller, wenn man es ihnen befiehlt. Es müßte, gelingen, die Solidaritätslähmung zu heilen. Jene Angst ist zu mindern, die an der Wurzel der Seele den Wunsch nach Solidarität blockiert.

3. Die Kirchen müßten sich schließlich ihrer ureigenen Stärke entsinnen, und diese ist die heilende Kraft wahrer „Mystik”. Sowohl Freiheit als auch Solidarität können in deren Umkreis am ehesten aufblühen. Ohne solche am Evangelium ausgerichtete „Mystik” der Nachfolge werden die Kirchen nicht die Kraft haben zu verhindern, daß aus einem störend -unpassenden Gott ein störungsfreier, uns passender Gott wird.

Damit ist auch gesagt, daß eine Erleichterungskirche („church light”) zukunftslos sein wird. Was anziehen wird, ist nicht so sehr die Modernität sondern die Radikalität. No risk, no fun.

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