Ukraine-Krieg - © APA/AFP/Dimitar DILKOFF

Trauerarbeit: Wie umgehen mit Krieg?

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Über "politische Emotionen" angesichts von Krieg, Zeitenwende und Desillusionierung.

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Über "politische Emotionen" angesichts von Krieg, Zeitenwende und Desillusionierung.

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Angst, Ohnmacht, Verzweiflung, Wut, Zorn, Schmerz: Das Leid, das die ukrainische Bevölkerung derzeit erdulden muss, lässt sich wohl nur ansatzweise erahnen – zumindest für jene Menschen in Österreich, denen Krieg bisher erspart geblieben ist. Da mag es etwas beschämend sein, über die emotionale Gemengelage hierzulande nachzudenken. Gleichwohl: Man muss diese „politischen Emotionen“ auch hierzulande ernst nehmen. Denn sie sind – wie die Philosophin Martha Nussbaum in ihrer gleichnamigen Publikation zeigt – die Grundlage jeglichen politischen Handelns und lassen sich auch instrumentalisieren. Deshalb bedürfen sie der ethischen Reflexion und Bildung.

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In den vergangenen Tagen war ich mit vielfältigen Emotionen konfrontiert. Herausstreichen möchte ich die Angst, die vor allem bei alten Menschen, die selbst Krieg erlebt haben, durch den Krieg in der Ukraine wieder reaktiviert wird. Aber auch für viele Menschen mit Fluchterfahrung, für viele Kinder und Jugendliche ist die aktuelle Situation emotional höchst bedrohlich.

Unter all diesen Emotionen ist mir eine allerdings selten begegnet: die Trauer.

Trauer ist jener körperliche Schmerz, der einen erfasst, wenn man etwas verliert, das existenziell bedeutsam ist: einen Menschen, eine Lebensweise, aber auch eine Sicht auf Welt und Wirklichkeit. Damit diese Trauer gut durchlitten werden kann, geht es um nichts weniger, als eine neue innere „geistige Landkarte“ zu entwickeln. Man muss neu fühlen, neu denken, anders handeln lernen. Um diesem Schmerz auszuweichen, wird Trauer manchmal von „sekundären Emotionen“, d.h. „Deckgefühlen“ ersetzt, die vor der Trauer schützen sollen: emotionale Taubheit, Resignation, Depression, Aggression, manchmal auch Hass. Durchlebte Trauer aber ist die Voraussetzung für das Entstehen gebildeter Hoffnung, die gleichsam durch die Tränen hindurch wachsen kann. Eine solche Trauer ist etwas anderes als Zuversicht oder gar Optimismus. Hoffnung, die aus Trauer geboren wird, ist realistisch: Sie muss die Übel und das Böse nicht rationalisieren, kleinreden oder ausblenden. Und sie ist widerständig und wird zur Quelle von Handlung. Eine solche Hoffnung benötigen wir angesichts der Belastungen, die wohl auf uns zukommen werden, dringend.

Auch wenn derzeit immer wieder von „Zeitenwende“ (Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung), vom „Ende einer Epoche“ (Gudrun Harrer im Standard) oder gar vom „Ende der Illusionen“ auf eine friedliche und tolerante Zukunft (Yascha Mounk in der Zeit) die Rede ist: die Notwendigkeit der mit solchen Abschieden verbundenen Trauerprozesse – individuell wie kollektiv – ist vermutlich kaum bewusst. Es ist noch zu früh. Obwohl doch bereits die Finanzkrisen, die Migrationskrisen, die Klimakrise oder die Pandemie schon länger von der Aufgabe einer mentalen und psychischen Transformation künden. Der Krieg in Europa drängt sie mit voller Brutalität ins Bewusstsein.

Wie ist das mit dem „Ende der Illusionen“ auf eine Zukunft, die von Demokratie, Frieden, Toleranz und Gerechtigkeit geprägt ist? Soll man das „Friedensprojekt Europa“ tatsächlich aufgeben?

Aber worüber wäre zu trauern? Zum Beispiel über den wohl endgültigen Verlust jener Unbeschwertheit und Leichtigkeit, die viele Menschen in Österreich noch vor Beginn der Pandemie als „Normalität“ erleben durften. Oder um all die bewussten und nicht-bewussten Vorstellungen einer Zukunft, die so, wie sich viele davon ein Bild gemalt haben, wohl nicht eintreten wird. Selten war die Zukunft wieder so offen.

Aber: Diese Unbeschwertheit war eigentlich auch schon vor der Pandemie vielen Menschen in Österreich und weltweit nicht möglich. Über Kriegsleiden hätten wir auch schon angesichts der Kriege in Syrien und Afghanistan trauern können. Eine gewisse Form der Unbeschwertheit ist schon seit längerem nur um den Preis der Ausblendung und Ignoranz möglich. Der Krieg erschüttert diese Option. Und konkrete Bilder einer guten Zukunft sind genau besehen vor allem für viele junge Menschen, schon länger keine erfahrbare Realität mehr. Sie waren meiner und der Generation davor geschenkt gewesen.

Und wie ist das mit dem „Ende der Illusionen“ auf eine Zukunft, die von Demokratie, Frieden, Toleranz und Gerechtigkeit geprägt ist? Soll man das „Friedensprojekt Europa“ tatsächlich aufgeben, sich von dessen Werten verabschieden und durch „realistische“ politische Konzepte ersetzen, wie mancherorts gefordert wird?

Ohne Zweifel wird angesichts der hegemoniepolitischen Aggression (nicht nur) Russlands die europäische Sicherheits- und Außenpolitik nachjustiert werden müssen, nicht zuletzt militärisch. Aber diese dem aktuellen Anlass geschuldete militärische Aufrüstung darf kein ideologisches Programm werden. Die Verabschiedung des Friedensprojektes Europas würde jenen autoritären Kräften in Europa Recht geben, die es „ohnedies immer schon gewusst haben“: dass der Einsatz für Friede, Dialog, Kooperation, partizipative Demokratie etc. „naiv und weltfremd“ sind.

Die Fähigkeit, Spannungen zu halten

Hier ist nicht Trauer über das Ende von Illusionen gefordert, sondern eine neue Fähigkeit zu lernen: die Spannung zu halten zwischen dem, was die Situation politisch jetzt erfordert, und dem, was der weitere Einsatz für die Vision Europas verlangt. Diese Friedensvision war keine Illusion; sie ist ein wertvolles Erbe, das angesichts des Krieges einer Reinterpretation in Theorie und Praxis bedarf.

llusionär waren aber wohl die Hoffnungen, dass diese Friedensvision selbstverständlich und ohne aktive Mitgestaltung der Gesellschaft Wirklichkeit wird. Illusionär waren die Vorstellungen über das Ausmaß ihrer Anerkennung in der Bevölkerung wie auch über das Tempo, in dem sie sich verbreiten würde. Davon wäre Abschied zu nehmen. Aber die Vision aufzugeben wäre resignatives Ausweichen.

Zygmunt Baumann hat in seinem Buch „Europa: Ein unvollendetes Abenteuer“ 2015 trotz scharfer Kritik die Überzeugung geäußert, dass Europa alle nötigen Ressourcen hat, weltweit zu fördern, was um des „nackten Überlebens der Menschheit willen“ unabdingbar ist: ein universales Mitgefühl, ein universales, menschenrechtsbasiertes Ethos. Und zwar nicht infolge kultureller Superiorität, sondern weil es die Notwendigkeit dazu durch die Katastrophen von Gewalt und Krieg mühsam und nicht immer freiwillig gelernt hat. Die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion und zum Lernen angesichts von Leid, Schmerz und eben Trauer haben dabei geholfen.

Was wir demnach mittelfristig neben allen politischen Maßnahmen zur Bewältigung multipler Krisen benötigen, ist die pädagogische, psychologische, ethische und auch spirituelle Begleitung von politischen Emotionen. Denn es steht zu befürchten, dass Angst, Ohnmacht, Zorn und Wut die Trauer überdecken und zu Quellen politischen Handelns werden. So verständlich diese Emotionen sind: Sie sind keine guten Wegbegleiter für Politiken, die uns in jene gute Zukunft führen können, die eine gebildete Hoffnung trotz allem für möglich hält.

Pastoraltheologisch könnte man von der Notwendigkeit sprechen, eine „politische Seelsorge“ zu entwickeln, das heißt einen reflektierten, in christlicher Spiritualität gegründeten Umgang mit Emotionen, um deren politische Dimensionen und Aufgaben man weiß. Wenn die Kirche(n) ihr individualistisch verengtes Verständnis von Spiritualität weiten, kann ihnen für die nächsten Jahre eine zentrale Rolle zukommen. Wenn sie sich daran erinnern, dass auch der biblisch bezeugte Glaube maßgeblich aus Leidenserfahrungen mit politischen Dramen und Katastrophen entstanden ist, können sie neue Quellen der Hoffnung freilegen. Sie können dabei eine Hoffnung entdecken, die auch angesichts von Katastrophenszenarien nicht aufgibt. Neben ihrem Evangelium vom Frieden, der Kraft des Gebets und den unzähligen engagierten Gläubigen müsste sie dazu allerdings noch entsprechende Kompetenzen erwerben und für eine solche Seelsorge Räume und Zeiten eröffnen. Jetzt ist dafür die Stunde gekommen.

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