Einbunkern und einfach weitermachen?

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Generell wird es auch nach dem 11. September keine radikalen Änderungen im Wertesystem geben. Nachhaltige und massive Änderungen vollziehen sich zumeist nur bei Katastrophen mittlerer Reichweite, die man real und unmittelbar am eigenen Körper erfährt. Die Bilder von den einstürzenden Türmen des World Trade Center und vom Krieg allein werden in diesem Land nichts verändern; ohne breit angelegte, begleitende Reflexion und langatmige Nachdenklichkeit wird die Hornhaut unserer Seelen wahrscheinlich so nur noch unempfindsamer. Freilich hinterlassen die Ereignisse eine dumpfe und unheimliche Angst vor dem Irrationalen und Bösen. Über unser aller Köpfen schwebt etwas Unheimliches, das mit den Mitteln der Vernunft allein nicht zu verstehen ist. Dies wird in Zukunft den ohnedies bereits sehr starken Angst- und Verunsicherungspegel der modernen Kulturen verstärken.

Ängste aber haben direkte (und leider nicht immer vorhersehbare und vernünftige) Reaktionen im Verhalten zur Folge: auch im Werteverhalten. Die Älteren, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, erahnen Dimensionen eines dritten, bei den Jüngeren nimmt die diffuse Lebensangst zu.

Die Wertesysteme werden insgesamt widersprüchlicher. Konsistenz war und ist niemals ein Kennzeichen von Wertessystemen. In Österreich beobachteten wir schon längere Zeit die Entwicklung zu einer Konfliktgesellschaft, in der einander heterogene und unvereinbare Werte gegenüberstehen, auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene. Wir sehen die Gefahr, dass sich diese Widersprüchlichkeiten verschärfen. Unsere These: Die je bereits gewählten Optionen werden sich zuspitzen. (In der Diskussion um die Asylfrage ist das ja schon zu beobachten).

Der Autoritarismus der Österreicher (mehr als 50 Prozent sind als autoritär einzustufen) nimmt zu, damit verbunden auch der Wunsch nach dem starken Mann: Die Autoritären werden autoritärer - und finden in den derzeitigen Ereignissen eine Legitimation für entsprechende Maßnahmen, denen stichhaltig etwas zu entgegnen schwieriger wird.

Zugleich werden aber auch solidarische Bestrebungen sowie der Wunsch nach Freiheit trotz des Schreckens deutlicher artikuliert. Der starke österreichische Wunsch nach einem "Wir" führt zur Bereitschaft, sich dafür auch aktiv einzusetzen, wenn konkrete Optionen zur Verfügung stehen. Das Unbehagen am kapitalistischen Wirtschaftssystem wird intensiver, die sozial Engagierten werden sich stärker engagieren. Erschwert wird dieses Engagement möglicherweise durch die österreichische Tendenz, sich auf der Insel der Seligen in die eigenen vier Wände einzubunkern, und so weiter zu machen wie bisher - solange es eben geht. Das Sicherheitsstreben wird intensiver werden.

Die Angst hat freilich auch noch eine andere Seite: Sie weckt auch eine Art von apokalyptischer "Lustangst". Ruft man sich die Titelblätter so manchen Mediums in Erinnerung, entsteht der Eindruck, hier wird auch mit dieser Angst gespielt. Nun ist dies angesichts der Dimensionen der Katastrophe nicht eben etwas, das man laut zugeben könnte - solche Emotionen müssen also abgewehrt werden, was im Gegenzug rigide Wertvorstellungen verstärkt. Die Kraft der "apokalyptischen Faszination" und ein gewisser menschlicher Hang zum Nekrophilen sollten nicht unterschätzt werden - auch er kann sich im Wertedenken auswirken und unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit archaische Sehnsüchte nach Vergeltung und Rache wecken, auch hier in Österreich. Je unthematisierter solche Dimensionen bleiben, umso wirkmächtiger können sie sein.

"Lustangst"

Zugleich sehen wir aber auch, dass Werte wie Toleranz, Frieden und Solidarität wieder lauter artikuliert werden und zu differenzierten, sachlichen und vernunftgeleiteten Diskussionen führen, die nach angemessenen Lösungen und Veränderungen suchen. Globalisierung und Europäisierung - beides Werte, die im österreichischen Bewusstsein nicht unbedingt tief verankert sind - haben jetzt paradoxerweise eine Chance, breit in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Dass man das unter veränderten Vorzeichen und mit Blick auf massive Widerstände vorsichtig tun muss, steht außer Frage; diese Werte tot zureden, wäre fatal für eine in sich zerrissene Welt. Wir sehen schließlich auch noch die Entwicklung zweier westlicher Wertesysteme: eines amerikanischen und eines europäischen. Ohne jetzt einem undifferenzierten Anti-Amerikanismus das Wort zu reden, kann sich das europäische Wertesystem mit seinen leidvollen Erfahrungen einer gewaltvollen Verquickung von Christentum und Politik, seinen Wertegrundlagen aus Christentum und Aufklärung, seiner (nicht immer zufriedenstellenden, aber doch versuchten) Multikulturalität, seinem reichen interreligiös-politischen Dialogen als Wert-Mediator der westlichen Welt mit der islamischen Welt bewähren (und dabei selbst auch etwas aus der islamischen Tradition lernen). Es mag naiv klingen, aber die Möglichkeit, zu einer Welt zusammenzuwachsen, sollte man trotz aller Tragik der Situation nicht als Utopie aus dem Auge verlieren.

Sollen die Werteentwicklungen in Österreich in eine positive Richtung verlaufen, stehen allen gesellschaftlichen Institutionen große Aufgaben ins Haus. Neben einer verantwortungsbewussten Weltpolitik müssen sich Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion auch innerösterreichisch vernetzen und an einem Strang ziehen. Die Trennlinien verlaufen zukünftig noch weniger zwischen den Institutionen, sondern zwischen kompatiblen Wertesystemen quer durch die Institutionen. "Dazwischen" braucht es zukünftig eine neue Institution eigens auszubildender Gesellschafts-Mediatoren, die in der Lage sind, zwischen unterschiedlichen Wertesystemen zu dolmetschen.

"Gut" oder "Böse"?

Ängste und Widerstände der Menschen müssen ernstgenommen, konkrete Mitgestaltungsmöglichkeiten angeboten werden. Differenziertes Argumentieren und Informieren ist wichtiger denn je, dabei zählt Qualität, nicht Quantität. Die Medien müssen sich der Verantwortung ihrer Schlüsselposition stellen und in Bildwahl und Sprache besonnen vorgehen. Kunst und Philosophie und Religion sind gefordert, sich behutsam, aber eigeninitiativ zu Wort zu melden - nicht nur in elitären Nischen wissenschaftlichen Diskurses (so wichtig das ist!), sondern auch dort, wo man ihnen keinen Platz einräumen möchte.

Religion wird in Zukunft wichtiger werden, vor allem ihr Trost und ihre Antworten auf die Fragen nach "Gut" und "Böse". Dabei ist Sorge zu tragen, dass keine der Institutionen aus den Ereignissen primär eigene Interessen verfolgt. Die wertstiftende Kräfte sind dabei weder zu überschätzen noch zu unterschätzen. Wertediskussionen sind anzuzetteln, so dass sich auch die Verängstigten, weniger Informierten beteiligen und die Gesprächsverweigerer nicht entziehen können.

Schließlich werden die Herausforderungen an die Religionsgemeinschaften steigen. Denn Religionen wollen nicht nur Wahrheit aufdecken, sondern auch Interessen kaschieren und können zur Vereinfachung einer unhintergehbaren Komplexität benützt werden. Die Religionen müssen also ihre eigene Ambivalenz und Missbrauchbarkeit aufdecken und zugunsten von Frieden und Menschlichkeit handeln und sprechen.

Wir haben die apokalyptische Hoffnung, dass sich dann etwas ändern kann - weil sich etwas ändern muss. Die Pointe der apokalyptischen Traditionen ist ja nicht, dass wir untergehen sollen, sondern dass auch in der schwierigsten Situation Neues und Menschlicheres möglich ist.

Um Derrida auch abschließend zu Wort kommen zu lassen: "Mein unbedingtes Mitgefühl, das den Opfern des 11. September gilt, hindert mich nicht, es auszusprechen: Ich glaube angesichts dieses Verbrechens an die politische Unschuld von niemandem. Man darf von den eigenen Fehlern, dem eigenen Unrecht, den Irrtümern der eigenen Politik sich nicht freisprechen, und sei es auch in dem Augenblick, da man den furchtbarsten Preis für sie zahlt."

Die Autorin ist Vertragsassistentin am Institut für Pastoraltheologie an der Universität Wien und arbeitete u. a. an der "Europäischen Wertestudie" mit.

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