Gegen die Epidemie DER ANGST

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Am 9. November erhielt Renate Welsh den literatur-Preis der stadt Wien. In ihrer hier abgedruckten Rede plädierte sie für mut und Neugier.

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Am 9. November erhielt Renate Welsh den literatur-Preis der stadt Wien. In ihrer hier abgedruckten Rede plädierte sie für mut und Neugier.

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Ringsum werden Mauern gebaut. Baumaterial könnte man doch sehr viel besser einsetzen: für Schulen zum Beispiel, in denen Lehren und Lernen Freude macht, für Wohnungen, für Brücken, auch für Aussichtstürme, die einen weiten Blick erlauben. Aber es werden Mauern gebaut, immer höhere, zum Schutz unserer Werte, unserer europäischen, abendländischen Werte, unserer schönen Heimat, auf die die Fremden begehrliche Augen geworfen haben. Peinlich nur, dass wir von wesentlichen Aspekten dieses kostbaren abendländischen Erbes keine Ahnung hätten, wenn nicht zum Beispiel Araber und Juden die griechischen Philosophen für uns gerettet hätten, als sie die klassischen Texte in Toledo übersetzten und vor dem endgültigen Vergessen bewahrten.

Anerkennung für das ganz Andere

An unserer Wohnungstür hängt das Plakat einer Ausstellung im Museum der Stadt Wien von 1996 mit dem Titel "WIR. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien". Darauf breitet ein mächtiger Baum starke Äste aus, auf den grünen Blättern stehen die Namen all derer, die hier ihre Spuren hinterlassen haben, von Afrikanern über Kelten bis zu Ukrainern und Vorarlbergern. Wenn wir uns der Vielfalt dieses Erbes bewusst sind, können wir auf dieser Grundlage etwas Neues errichten. Wenn wir die Vielfalt leugnen, berauben wir uns selbst, lassen mutwillig Ansätze verkümmern, die vielleicht besonders wichtig geworden wären. Wollte man alles Fremde aus jenen Traditionen entfernen, die für viele den Begriff Heimat schlechthin ausmachen, bliebe nur ein recht kläglicher Rest, wahrscheinlich sogar gar nichts übrig.

Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass Vielfalt eine Gefahr für die Eigenständigkeit darstellt. Ich bin im Gegenteil überzeugt, dass Eigenständigkeit sich gerade dann am lebendigsten entwickeln kann, wenn das ganz und gar Andere ebenso Achtung und Anerkennung findet. Dann wird jene Form von kreativer Auseinandersetzung und Reibung möglich, die eine Aufwärtsspirale erzeugen kann. Kultur in all ihren Ausdrucksformen hat hier eine wesentliche, vermittelnde und Mut machende Aufgabe. Der Vormarsch der Rechtsextremen bezieht seine Dynamik auch daraus, dass sie als Anwälte jener Werte auftreten, die sie in Wahrheit missbrauchen und zerstören. Kultur und Nationalismus sind unvereinbare Gegensätze: indem der Nationalismus das Fremde bekämpft, bekämpft er auch wesentliche Anteile der eigenen Kultur, deren Aufgabe nur mehr darin besteht, Menschen massentauglich zu machen, statt sie in ihrer Individualität zu bestärken. Mauern können unsere Werte nicht retten, sie können sie nur gefährden.

Es scheint mir Programm und Auftrag zu sein, dass die Stadt Wien die Vertreter verschiedener Sparten gemeinsam ehrt. Die Probleme, vor denen wir stehen, können ja längst nicht mehr innerhalb eines Fachgebietes gelöst werden, sondern dort, wo sich die Bereiche überschneiden und dadurch Zusammenarbeit immer notwendiger wird.

Zusammenarbeit setzt Zuhören voraus, setzt voraus, nicht vorschnell zu glauben, man hätte verstanden, noch weniger, Lösungen anzubieten, die sich meist besonders eilfertig andienern, wenn man die ganze Komplexität einer Frage nicht kennt. Wer nie gelernt hat, der eigenen Sprache zu vertrauen und ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln, wird kaum den Mut haben, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, verschiedene Möglichkeiten offen zu lassen. Darum sind Populisten so verlässliche Lieferanten einfacher Lösungen und eher bereit, die Wirklichkeit anzuzweifeln als ihre Antwort darauf. Allzu viele lassen sich leicht damit ruhig stellen, dass sie wenigstens nicht zu jenen gehören und Sündenböcke finden sich immer schnell.

Die Aufgabe der Kultur: Fragen zu stellen

Angesichts dessen, was täglich an neuen Schrecklichkeiten über uns hereinbricht, ist es schwer, nicht in Mutlosigkeit zu verfallen, in einen lähmenden Pessimismus, der zuletzt den resignierten Rückzug in völlige Privatheit legitimiert und damit den Weg freimacht für die, die behaupten, im Besitz aller Antworten zu sein. Ich glaube daran, dass sie es sind, vor denen wir uns hüten müssen. Die Aufgabe der Kultur ist es doch immer wieder, Fragen zu stellen, Fragen zu legitimieren. So ist es - muss es so sein? Kann man das auch ganz anders sehen? Diese schlichten Fragen müssen wir immer wieder neu stellen, wenn wir lebendig bleiben wollen. Das bedeutet nicht permanente Verunsicherung, sondern vielmehr eine ständige Bereitschaft, offen zu sein, sich neuen Erfahrungen zu stellen, die Wirklichkeit an sich heranzulassen.

Das Furchtbare, das Böse drängt sich auf, und es ist höchst gefährlich, es nicht nur Kenntnis zu nehmen, es zu übertünchen, unter irgendwelche Teppiche zu kehren. Das Gute und Schöne, oder zumindest die Sehnsucht danach, ist aber ebenso Teil der Wirklichkeit, auch wenn man es oft weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick sieht, sondern sehr genau schauen muss, um es zu entdecken. Dabei ist es besonders wichtig, sich nicht von Behübschungen und Maskeraden aller Art täuschen zu lassen, weil die in sehr gefährliche Abgründe führen.

Ich fürchte die Angstmacher, die die Eckpfeiler der Demokratie gefährden, indem sie die Menschenrechte zur Disposition stellen. Lebendige Demokratie setzt einen ständigen Dialog und die Bereitschaft zum Wandel voraus. Wer den Grundpfeiler der bedingungslosen Achtung vor der Würde des Einzelnen in Frage stellt, bringt das ganze Gebäude zum Einsturz. Alle Menschen sind gleich und frei an Rechten und Würde geboren. In dem Augenblick, wo irgendeinem anderen Wert - zum Beispiel der Sicherheit - Vorrang eingeräumt wird, ist die Demokratie bedroht und mit ihr die Kultur.

Was kann die Kultur, was können wir den Angstmachern entgegensetzen? Wir können einladen zu einem Dialog in den verschiedensten Medien, in realen oder gedachten Räumen, mit real existierenden oder erdachten Figuren. Jedes Bild, jede Musik, jedes Buch ist ja eine Einladung Stellung zu nehmen, in einen Dialog mit dem Werk zu treten. Wir können Interesse wecken und neugierig machen auf mehr Wissen. Wir können der Phantasie Mut zum Abheben machen. Aber wir können immer nur einladen, zum Schauen, zum Hören, zum Lesen, zu Entdeckungen. Schon bei einem so schlichten Ding wie einem Würfel kann keiner mehr als drei Seiten gleichzeitig sehen, aber mehrere können ihre verschiedenen Sichtweisen zusammentragen und vergleichen.

Möglichkeiten, die die anderen bieten

Die Lage ist zu ernst und die Herausforderung zu groß, um sich im Pessimismus häuslich einzurichten. Wenn wir das tun, arbeiten wir den Rechtsextremen und Nationalisten in die Hände, die nur darauf warten, dass wir ihnen das Feld überlassen. Wie hoch müssen die Mauern werden, damit die Festung Europa sich sicher fühlen kann? Es geht dabei keineswegs nur darum, dass wir den anderen eine Chance geben sollen, es geht darum, dass wir die Möglichkeiten nutzen sollten, die gerade die anderen uns bieten. Tun wir das nicht, dann besteht tatsächlich die Gefahr, dass wir fremd werden im eigenen Haus.

Wir können auch nicht darauf warten, dass uns die großen Lösungen einfallen, so viel Zeit haben wir nicht. Wir können die Entwicklung der letzten hundert Jahre nicht ungeschehen machen, wir können die Teilhabe an der globalisierten Welt nicht aufkündigen. Es gibt tausend gute Gründe Angst zu haben, aber Angst ist ein schlechter Ratgeber, und wenn wir es schaffen, der Angst ins Gesicht zu lachen, haben wir einen Funken Hoffnung in die Welt gesetzt, auch wenn das Lachen noch nicht sehr überzeugend war. Selbst ein schiefes Lachen kann ansteckend wirken und vielleicht sogar Mut machen. Den Mut sich einzulassen auf jene Genauigkeit, die es braucht, um hinter den Bedrohungen Möglichkeiten zu sehen.

Wir sind nicht so hilflos, wie wir manchmal fürchten. Gegen die Epidemie der Angst ist die Neugier ein starker Schutz, und es gehört zu den Aufgaben der Kultur, die Neugier wach zu halten. Ebenso wichtig wie die Neugier ist die Fähigkeit sich zu freuen. Die scheint mir manchmal in Gefahr zu verkümmern, und ich glaube, hier schließt sich der Kreis, weil Freude sehr viel mit Achtung zu tun hat, mit bedingungsloser Achtung vor anderen und vor sich selbst. Auf der Grundlage ist es möglich, auch kleine Schritte mit Freude wahrzunehmen

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