7215146-1992_46_07.jpg
Digital In Arbeit

Demokratie braucht eine Vertrauensbasis

19451960198020002020

Was heißt Zivilisation? Die einen bringen sie mit Kunst, Literatur und Musik in Verbindung. Andere weisen auf die wirtschaftliche Entwicklung, den technischen Fortschritt hin. Sind das die entscheidenden Maßstäbe? Ist nicht vielmehrVertrauenswürdig-keit ein wesentliches Kriterium?

19451960198020002020

Was heißt Zivilisation? Die einen bringen sie mit Kunst, Literatur und Musik in Verbindung. Andere weisen auf die wirtschaftliche Entwicklung, den technischen Fortschritt hin. Sind das die entscheidenden Maßstäbe? Ist nicht vielmehrVertrauenswürdig-keit ein wesentliches Kriterium?

Werbung
Werbung
Werbung

Zivilisation ist eben ein Wort, das wir leicht verwenden, ohne es scharf definieren zu können. Das ist nicht unbedingt schlecht. Es gibt vieles und wichtiges, worüber sich reden läßt, ohne es genau umschreiben zu können, wie zum Beispiel die Zahl „pi" in der Mathematik, oder wie sogar Gott selbst.

Es nützt aber, sich auch mit unklaren Begriffen auseinanderzusetzen, nicht um „ein endgültiges Wort" zu sagen, sondern um den Begriff neu zu beleuchten. Hier sei versucht den Begriff „Zivilisation" zu befragen. Er wird oft mit den Begriffen Fortschritt und Entwicklung in Zusammenhang gebracht und mit der Frage was entwickelt werden soll und wozu?

Ein englischer Professor der Pädagogik gab einmal folgenden Maßstab des Entwicklungsstandes eines Landes: „In welchem Maße ist es ein Land wo Kinder glücklich aufwachsen können?" Und er fügte gleich hinzu: „In dem Sinne ist in meiner Erfahrung das ländliche Indonesien das am meisten zivilisierte, das höchst entwickelte Gebiet der Welt."

Ich finde die Meinung des Professors interessant und herausfordernd. Sie hilft, manches mit einem neuen Blick zu betrachten. Wir können uns da etwa fragen, wie glücklich Kinder in Westeuropa aufwachsen. Es gibt da sicher keine pauschale Antwort.

Manche glauben, westeuropäische Kinder sollten eigentlich glücklich sein, weil sie so reich sind. Andere meinen, unsere Kinder müßten unglücklich sein: wegen der Umweltverschmutzung, der Aussichtslosigkeit, der Kinderfeindlichkeit. Aber was würden die Kinder selber dazu meinen? Und umgekehrt: wie unglücklich sind Kinder in Entwicklungsländern?

Auf meinen beruflichen Reisen habe ich mich oft gefragt, auf welcher Grundlage wir bestimmte Länder als „entwickelt" und andere als „entwicklungsbedürftig" bezeichnen. Vielleicht sind da eine Menge Kriterien aus Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik im Spiel.

So wichtig sie sein mögen, sie vernachlässigen alle eine gewisse menschliche Qualität, die auf einer anderen Ebene liegt. Was ist ein zivilisierter Mensch? Manche leseunkundigen Bauern kommen mir menschlich zivilisierter vor als so manche hochgebildete Westeuropäer.

Schließlich bin ich auf ein Kriterium gestoßen, das oft vergessen wird, wenn von Zivilisation oder Entwicklung die Rede ist: Vertrauen. Welches Maß an spontanem Vertrauen gibt es in einer Gesellschaft? Ich behaupte nicht, dies sei das endgültige und einzige Kriterium der Zivilisation, sondern nur, daß dieses oft vergessene Kriterium sehr bedeutend ist.

Wenn wir ein wenig über dieses Thema nachdenken, so stellen wir fest, daß Vertrauen für jedes Menschenleben und für das bloße Funktionieren einer Gesellschaft absolut notwendig ist.

Das fängt schon beim Lebensbeginn an. Ein Baby lebt ausschließlich vom Vertrauen. Und ähnlich geht es das ganze Leben weiter: Ich vertraue, daß der Bäcker mir nicht vergiftetes Brot verkauft. Ich vertraue, daß die Straßenbahn funktionstüchtig ist. Und das setzt eine ganze Menge voraus, von der guten Konstruktion bis zum regelmäßigen Unterhalt, von der Personalausbildung bis zum Verhalten der anderen Fahrgäste. Wenn wir es uns überlegen, so können wir uns kaum etwas einfallen lassen, das nicht auf Vertrauen abgestützt ist.

Der Einsatz jeder Technik setzt eine ganze Menge Vertrauen voraus. Wenn dieses Vertrauen tatsächlich gerechtfertigt und unumstritten ist, so übersehen wir diese Voraussetzung nur allzu leicht. Zumindest die Sicherheitsvorschriften könnten uns daran erinnern, daß dieses Vertrauen nicht so selbstverständlich ist.

Und manchmal kommt es in dieser Frage zu harten Auseinandersetzungen, etwa bei Atomkraftwerken. Im

Grunde genommen sprechen die „Grünen" dieser Technologie längerfristig die Vertrauenswürdigkeit ab. Und nach jedem Flugzeugabsturz werden die Ursachen des Unfalls gründlich erforscht. Sonst hätten wir bald kein Vertrauen im Fliegen mehr.

Selbst das bloße sprachliche Kommunizieren setzt Vertrauen voraus.

Verhandlüngsspezialisten im Kalten Krieg hatten damit Erfahrung. Manchmal mußten Worte für Russen und Amerikaner endlos definiert werden, weil man eben nicht darauf vertrauen konnte, daß die Worte „normal" interpretiert würden.

In den Jahren des Kalten Krieges hat es in Genf einen geradezu komischen Vorfall gegeben, der dieses Problem illustriert: Die Russische Vertretung hat den Schweizerischen Behörden die Kontrolle eines großen Russischen Lastwagens mit dem Hinweis verweigert, der Lastwagen wäre ein „Diplomatenkoffer" - „une valise diplomatique". Im normalen Alltag Vertraue ich darauf, daß ein Gesprächspartner die Worte nicht ganz künstlich oder extrem interpretiere.

Es bleibt mir in lebendiger Erinnerung, wie wohl ich mich in manchen Dörfern Ägyptens, fern der „Zivilisation", gefühlt habe, bevor diese von den islamitischen Fundamentalisten aufgeputscht worden sind. Dort hat es keine verfeinerte Kunst oder Technologie gegeben, sogar manchmal keinen Unterricht, aber mir wurde mit einem spontanen, freundlichen Vertrauen begegnet, obwohl ich völlig fremd und ein Weißer war.

Die Bewohner waren arm und „ungebildet", aber in einem tiefen, menschlichen Sinn höchst zivilisiert. Das äußerte sich sogar in prächtigen, würdigen, sanften Gesten und Bewegungen. Noch heute nehme ich mir daran eine Vorbild.

Eine alte Frau in New York erklärte mir mal, sie hatte vor 40 Jahren nicht daran gedacht, nachts die Haustür zu verschließen. Jetzt, wo sie noch immer im selben Häuschen in Queens lebt, hat sie eine ganze Sammlung von Schlössern an der Tür. Das Vertrauen ist verschwunden - leider harter Fakten wegen. Dieses Beispiel zeigt, was sich weltweit an vielen Orten abspielt: Das spontane Vertrauen in unseren Beziehungen, zunächst Fremden gegenüber, manchmal sogar auch im

Umgang mit Bekannten, scheint nach und nach zu schrumpfen. Das ist eine langsame Vergiftung, die unsere Zivilisation ins Herz trifft. Paradoxerweise bringt uns dieses Gift in eine ähnliche Situation wie in kommunistischen Regimen! Eine Diktatur verfällt eben der Versuchung das gegenseitige Vertrauen unter den Menschen zu vernichten. Die Diktatur muß sogar ihr Gesellschaftssystem auf diese Vernichtung bauen.

Auch der Terrorismus ist enorm vertrauenszerstörend. Es wird behauptet, Ziel des Terrorismus sei es weniger zu töten oder materiell zu vernichten, als mit gezielten Aktionen das Vertrauen im normalen Alltag anzufressen, und so die Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft einzuschränken. Die Fluggesellschaften spüren das stark: Mit jeder Bedrohung schwindet die Zahl der Fluggäste.

Aber wir sollten nicht den Terrorismus abwarten, um zu erkennen, wie bedroht das gegenseitige Vertrauen heute ist. Vielleicht können wir in unserem eigenen Leben damit anfangen, und uns bemühen vertrauenswürdig zu sein. Jesus sagte schon: „Ihr ja sei ja und ihr nein nein." Trauen wir uns das noch zu?

Es ist kein Zufall, daß die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies, die manche Grundstrukturen unserer Existenz aufzeigt, sehr viel mit Vertrauensverfall zu tun hat. Die teuflische Strategie ist eben, das Gottesvertrauen der Menschen zu untergraben.

Eine der Folgen ist, daß die Menschen, daß Mann und Frau einander nicht mehr vertrauen. Trotzdem sind wir darauf angewiesen, einander zu vertrauen. Und wir sehnen uns auch danach. Wir wissen, wie wichtig gegenseitiges Vertrauen für eine tiefe und tragende Beziehung ist. Dann wissen wir auch gegenseitig von unserer Verletzbarkeit, aber wir respektieren diese Verletzbarkeit - und setzen auf den Respekt, den wir voreinander haben. Letztlich ist es Gott, der unsere Verletzbarkeit am besten kennt und am meisten respektiert.

Solche Beziehungen schaffen tiefe Geborgenheit. Sie gehören zum Wertvollsten in einem Menschenleben, in einer Gesellschaft, in einer Zivilisation. Versuchen wir das Vertrauen, auf dem sie bauen, zu hüten und zu pflegen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung