Zeichen einer unübersichtlichen Zeit

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Theologie und Politik haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Welche Berührungspunkte sollten zwischen Gottesrede und kaltem Macht- und Interessenkalkül bestehen? Doch sieht man es als Aufgabe der Politik, das bonum commune, also das gute Zusammenleben aller, zu fördern und jene der Theologie, "nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Lichte des Evangeliums zu deuten" (so die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes des II. Vatikanum, Nr. 4), dann zeigt sich ein auf den ersten Blick unerwartetes Naheverhältnis. Dann sehen sich die Theologie als Glaubenwissenschaft und die Kirchen gemeinsam mit der Politik herausgefordert durch die Zeitsituation und ihre menschenwürdige Gestaltung.

Die politische und geistige Landschaft der Gegenwart ist durch eine Vielzahl neuer in der Geschichte einmaliger Entwicklungen geprägt. Dies macht die Lage ebenso spannend wie schwierig. Um nur einige davon zu nennen: Die politisch-rechtlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse in Ost- und Mitteleuropa sind noch lange nicht abgeschlossen. Doch die "Wende" von 1989 markierte nicht nur den Zusammenbruch totalitärer Regime. Mit ihr ging vielmehr auch eine Ära intellektueller Auseinandersetzungen um die rechte (oder linke) Politik zu Ende, die über ein Jahrhundert hin das geistige und politische Klima in Europa aber auch im außereuropäischen Raum geprägt hatte.

Was aber tritt an die Stelle dieser Diskurse? Welche Denkansätze und -traditionen können neue Orientierungen "jenseits von links und rechts" anbieten? Diese aber sind umso dringlicher angesichts von Globalisierungsprozessen die durch die neuen Kommunikationstechnologien mit atemberaubender Dynamik vorangetrieben werden. Denn ein geistiges Vakuum verführt zur Attitüde des Laisser-faire und des reinen politischen Pragmatismus.

Doch die Hoffnung auf Selbstregulierungsprozesse des Marktes stellt kaum mehr als eine neue Variante eines Sozialdarwinismus dar, der die Ausgrenzung der Schwächeren als Naturgesetz hinzunehmen bereit ist. Die systematische Ausblendung der moralischen, kulturellen und organisatorischen Rahmenbedingungen verstellt den Blick auf die konkrete gesellschaftliche Realität, in der Menschen leben. Sie erinnert in ihrer Beschränktheit an die liberalistische Wirtschaftsideologie des 19. Jahrhunderts. Die aber war wesentlich mitverantwortlich für die Machtübernahme durch totalitäre Regime, die das 20. Jahrhundert zum "schrecklichsten Jahrhundert in der Geschichte des Westens" - so der Sozialphilosoph Isaiah Berlin - machten.

Eine wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen bietet auch heute den Nährboden für politische Konflikte. Nationalismen und Fundamentalismen, die die ethnische und/oder religiöse Exklusivität und den Hass gegen die Anderen predigen, beziehen ihre Verführungskraft weitgehend aus den enttäuschten Erwartungen jener, die nichts gewonnen und wenig zu verlieren haben. Darüber hinaus vermitteln sie nach dem "Ende der Ideologien" (D. Bell) kohärente Wert- und Weltanschauungssysteme und damit personale und kollektive Identität.

Auf der positiven Seite der Zeitbilanz ist vor allem ein neuer Humanismus zu nennen, die Bereitschaft, sich jenseits ideologischer Polarisierungen für die Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen für alle auf unserem Planeten einzusetzen. Dies gilt für Menschenrechtsbewegungen, Soldaritätsbewegungen aller Art, kurz: den gesamten Bereich der so genannten Zivilgesellschaft, der sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur vernetzt, sondern auch an Kraft und Professionalität wesentlich zugenommen hat.

Zu einem humanen Zusammenleben bedarf es jedoch auch Voraussetzungen in der einzelnen Persönlichkeit, individueller Werthaltungen und der ethischen Kompetenz, sie zu praktizieren. Dieser ethischen Mikroebene jedoch wurde bisher wenig Beachtung geschenkt. Zwar hat der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits in den siebziger Jahren angemerkt, dass die Demokratie auf individuelle Werthaltungen angewiesen ist, die sie selbst nicht schaffen kann. Doch die Frage nach der Wechselwirkung zwischen zivilem Verhalten und Politik blieb bis heute unterbelichtet.

Ein halbes Jahrhundert gesellschaftlichen Friedens hat - so scheint es - die Illusion genährt, dass die zivile Kultur ein dauerhafter Besitz ist. Zunehmender Egoismus, Intoleranz bis hin zur Gewaltbereitschaft gegenüber Andersartigen, zeigen jedoch, dass auch moralische Ressourcen der Regeneration bedürfen. Eine ethische Formung der weiter wachenden Freiheitsräume durch humane Werte, Normen und Vorbilder, die Menschen zur Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung befähigen, stellt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar.

Die Formung der Freiheit und damit die Bildung starker personaler Identität aber wird vor allem in und durch die großen religiösen und humanistischen Traditionen geleistet: In Kirchen, Familien, Schulen, weltanschaulichen Gemeinschaften und Gruppen. Ein öffentlicher Diskurs darüber, welche Wertgrundlagen hier vermittelt werden sollen, wäre hoch an der Zeit.

Dazu ein (Negativ-)Beispiel: Auf meine Frage, ob sie über Menschenrechte und Demokratie bereits in der Schule Grundlegendes gehört hätten, gaben von ungefähr neunzig Studenten nur drei eine positive Antwort. Hier zeigt sich ein eklatantes Defizit an politischer Bildung. Andererseits: Wieweit wird in den Kirchen eine Weltsicht bewusst gefördert, die die Menschenfreundlichkeit Gottes für unsere Zeit aktualisiert?

Dass hier berechtigte Erwartungen nicht-christlicher Zeitgenossen bestehen, zeigt folgendes Zitat aus dem World-Governance-Bericht: "Die wichtigsten Änderungen, die Menschen machen können und müssen, ist die Art wie sie die Welt sehen ... wenn wir unsere Sichtweise ändern, dann ändert sich alles ... In der Geschichte der Religion war es immer wieder dieses Aufbrechen neuer Vorstellungen, das den Beginn neuen Lebens brachte ... eine Wandlung, durch die die Menschen lernten, mit neuen Augen zu sehen und ihre Energien neuen Lebensformen zuzuwenden ..."

Wird unsere Theologie und unsere kirchliche Praxis dieser Erwartung gerecht? Gelingt es, die christlichen Denk- und Lebenstraditionen so fruchtbar zu machen, dass sie eine neue Weltsicht zu fördern imstande sind, zu humanen Fortschritten anspornen? Dies gilt heute für praktikable Formen der Solidarität unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, ebenso wie für die Wahrung der Achtung vor dem Anderen, dem Fremden ebenso wie dem Gegner, und für Prioritätensetzungen, die sich nicht zuerst am quantitativen Wohlstand einzelner sondern am qualitativen Wohlstand aller orientieren.

Geschichte entdecken Auf der politischen Makroebene sei auf zwei Entwicklungen hingewiesen, die Theologie und Politik gleichermaßen herausfordern. Ein Zeichen der Zeit ist, dass Geschichte als Grundlage eigener Identität wiederentdeckt wird. Dies kann zur Instrumentalisierung historischer Erblasten führen. Adam Michnik, der polnische Bürgerrechtler und Journalist, nannte bei einem Symposium in Wien die "Manipulation der Leichen im Keller" das hervorstechendste Merkmale der neuen Nationalismen und Populismen.

Dem gegenüber tut ein verantwortlicher Umgang mit Geschichte not, der Schuld und Schrecken beim Namen nennt, aber zugleich die Gräben zu überbrücken sucht. Dies ist für die Zukunft Europas hochbedeutsam. Denn wirtschaftlicher Fortschritt kann die Integration nur bis zu einem Punkt vorantreiben. Darüber hinaus bedarf es jedoch der Aussöhnung mit dem (ehemaligen) Feind, einer Überwindung der ethnischen, nationalen und religiösen Konfliktgeschichten, die in eine Akzeptanz des Anderen als Anderen mündet.

Ein zweites: Die Globalgesellschaft funktioniert bisher weitgehend anarchisch. Es fehlt ein genügend dichtes Netzwerk von Verträgen und Institutionen, die den sozialen Ausgleich und Frieden fördern. Die Gruppe von Lissabon hat in ihrem Bericht vier globale Verträge für eine derartige Rahmenordnung vorgeschlagen: Einen Sozialvertrag, einen Demokratievertrag, einen Kulturvertrag und einen Erdvertrag. Dies heißt, es geht um die Schaffung von institutionellen Mechanismen, die die Erfüllung der Grundbedürfnisse aller, eine globale Partizipation an Entscheidungen, einen "Dialog der Kulturen", der kulturelle Vielfalt als Chance und nicht als Bedrohung wahrnehmen lehrt, sowie einen Schutz der Ökosphäre ermöglichen. Eine außeralltägliche politische Kreativität und Innovationsbereitschaft sind gefordert, um diese zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts in Angriff zu nehmen.

Die Kirchen als Weltorganisationen könnten und sollten hier eine Vorreiterrolle spielen, die sich durch Kompetenz auszeichnet, vor allem aber durch ihren Glauben an den Menschen und seine Zukunft, der zugleich den Glauben an Gott bezeugt.

Die Autorin ist Vorstand des Instituts für Ethikund Sozialwissenschaften an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien.

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