Über die Unfähigkeit zu glauben

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Information und Wissen sind, wenn es um die Veränderung von Lebensweisen geht, nur begrenzt wirksam.

Was man nicht schätzt, wird man kaum mit Leidenschaft verteidigen. Existenz und Funktionieren des säkularen Staatswesens sind fragil und nicht selbstverständlich.

Das Thema Religion steht wieder auf der politischen und gesellschaftlichen Tagesordnung, und zwar ganz oben." Horst Dreier schreibt dies in einem Band über Säkularisierung und Sakralität, in dem es, so der Untertitel, um das Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates geht. (...) Die religiösweltanschauliche Neutralität des Staates, so Dreier, führe nicht zu einem Ausschluss ethischer und religiöser Argumente aus öffentlichen und politischen Diskursen, im Gegenteil gründe aus deren Inklusion "letztlich die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen in der pluralistischen Demokratie." (...) Es gehe darum, den einzelnen Bürgerinnen "eine autonome Sphäre der Lebensgestaltung [zu] sichern und den Staat im wahrsten Sinne des Wortes in eine gute Verfassung [zu] bringen: individuelle Freiheit garantieren, staatliche Herrschaft legitimieren, hoheitliche Eingriffe limitieren."

Der säkulare Staat spreche der Religion keineswegs das Wahrheitspotenzial ab -er spreche es nur keiner bestimmten Religion zu: "Der säkulare Staat der Moderne versteht sich nicht als Wahrheitsoder Tugendstaat, sondern als Freiheits-und Friedensordnung."

Die gefährdete Freiheit

Dass diese Freiheit und dieser Friede heute gefährdet sind, ist Charakteristikum des Ausnahmezustands. Das Paradox, die westliche Lebensweise mit allem Mitteln verteidigen und gleichzeitig grundlegend transformieren zu müssen, spitzt sich an diesen Begriffen gleichsam zu. Denn der Frieden ist eben "nachhaltig" nur dann erreichbar, wenn die Lebensweise einer Minderheit nicht die Lebensbedingungen einer Mehrheit zerstört. Freilich ist das Zerstörungspotenzial des Westens wesentlich mit der Freiheit verbunden, die (in) ihm so wichtig ist.

Udo Di Fabios Buch "Schwankender Westen" beinhaltet eine wichtige Ergänzung. Trotz des immensen Erfolgs des Westens bestünden Zweifel an seiner soziokulturellen Nachhaltigkeit: "Entscheidende Institutionen () werden als selbstverständlich gegeben angenommen. Von solchen Institutionen wird Leistung verlangt, manchmal zu viel, ohne vernünftiges Augenmaß, während ihre Wertschätzung leidet."

Als Beispiele für die als selbstverständlich angenommenen Institutionen nennt Di Fabio unter anderem den Rechtsstaat, die Demokratie, tolerante Glaubensgemeinschaften und die Wissenschaftsfreiheit. Es scheint für den Ausnahmezustand geradezu charakteristisch, dass diese und andere Institutionen einerseits stark beansprucht, aber andererseits, wie Di Fabio richtig feststellt, nicht angemessen geschätzt werden.

Was man nicht schätzt, wird man kaum mit Leidenschaft verteidigen. Existenz und Funktionieren des säkularen westlichen Staatswesens sind also nicht nur überaus voraussetzungsvoll - die Voraussetzungen sind fragil und eben nicht selbstverständlich.

Dasselbe gilt für eine andere Ressource, die man für die Überwindung des Ausnahmezustands braucht und die mit Glaube und Religion zusammenhängen kann: die Hoffnung. Hoffnung, so darf man auch als religiös unmusikalischer Mensch vermuten, gehört zum Kerngeschäft des Religiösen. Dass sie nicht zum Kerngeschäft des Wissenschaftlichen gehört, hat zwar einerseits gute Gründe, kann aber andererseits auch frustrieren. Das hohe Frustrationspotenzial der wissenschaftlichen Hoffnungs-Losigkeit lässt sich beispielsweise bei Diskussionen um Themen wie Gerechtigkeit, Umweltschutz oder "Nachhaltigkeit" besichtigen. (...)

Ganz ohne Hoffnung geht es in der Tat nicht. Die Hoffnung auf eine gute Zukunft, die Imagination von Fortschritt und die Verbreitung positiver Zukunftsbilder sind gewiss Kernelemente einer Überwindung des Ausnahmezustands. (...)

Auch als Atheistin oder Agnostikerin kann man sich von der 2015 von Papst Franziskus veröffentlichten Enzyklika "Laudato Si'" beeindrucken und ansprechen lassen. Denn man ist unabhängig vom (Nicht)Glauben angesprochen: Diese "Öko-Enzyklika" richtet sich ausdrücklich nicht nur an Chris-tenmenschen, sondern versteht sich als Aufruf zum Dialog.

Schönheit und Nutzenfixierung

Neben der konsequenten sozialökologischen Perspektive thematisiert die Enzyklika auch immer wieder die Bedeutung von Schönheit. Unter anderem spricht der Papst von der "Schönheit der Herausforderung": "Auf die Schönheit zu achten und sie zu lieben hilft uns, aus dem utilitaristischen Pragmatismus herauszukommen. Wenn jemand nicht lernt innezuhalten, um das Schöne wahrzunehmen und zu würdigen, ist es nicht verwunderlich, dass sich für ihn alles in einen Gegenstand verwandelt, den er gebrauchen oder skrupellos missbrauchen kann."

Durch die Würdigung des Schönen den Utilitarismus zu dekonstruieren und in seine Schranken zu weisen -das wäre es. Der Ausnahmezustand ist nicht zuletzt durch eine Verbreitung und Vertiefung ökonomischen Denkens geprägt. Ihn zu überwinden, erfordert unter anderem, die Relevanz nicht-wirtschaftlicher Faktoren zur Kenntnis zu nehmen und dieser Kenntnisnahme auch Taten (und Unterlassungen) folgen zu lassen.

Mit Blick auf den Verlust von Tier- und Pflanzenarten spricht Franziskus von Werten, "die jedes Kalkül überschreiten." Diese Art von Werten nicht nur im Ökologischen wertzuschätzen, erscheint dringend notwendig.

Eine weitere für unser Thema relevante Baustelle, die mit dem Glauben zu tun hat, ist das komplizierte Verhältnis von Überzeugungen, Wissen und Handeln. Dass Wissen nicht zum Handeln führt, wissen nicht nur Umweltsoziologinnen, Kettenraucherinnen und Lottospielerinnen. Information und Wissen sind, gerade wenn es um die Veränderung von Lebensweisen geht, von sehr limitierter Wirksamkeit.

Deshalb sind Integrations-Crashkurse für Migrantinnen auch, genau besehen, eine eher lächerliche und für alle Beteiligten unbefriedigende Angelegenheit. Zu glauben, dass man in wenigen Wochen grund-legende Ein- und Ansichten und alltägliche Verhaltensweisen "umprogrammieren" könne, ist bestenfalls naiv, schlimmstenfalls demagogisch. Dasselbe gilt für den Glauben und die Hoffnung, im Vertrauen auf die Einsichtsfähigkeit "der Menschen" sozialpädagogisch bewirken zu können, dass Konsumentinnen etwa die Grenzen ihres ökologischen Fußabdrucks berücksichtigen und dass sie beim Einkaufen auf die Arbeitsbedingungen achten, unter denen ihr Kaffee und ihre T-Shirts hergestellt wurden. Wenn Initiativen wie "Bildung für nachhaltige Entwicklung" erfolgreich sein könnten, wäre die Welt einer großen Transformation sehr nahe.

Ist sie aber nicht. Sie ist im Ausnahmezustand, auch sozial und ökologisch. Und das hat wesentlich mit dem Umstand zu tun, dass Wissen um Dinge und die Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit mit Blick auf diese Dinge nur sehr lose gekoppelt sind. Das geht über das Phänomen der Verkennung hinaus. (...) Hier geht es um das Nichtglauben-Können. René Girard beschreibt das so: "Wir sind die erste Gesellschaft, die weiß, dass sie sich ein für alle Mal zerstören kann. Und dennoch fehlt uns der Glaube, der dieses Wissen untermauern könnte."

Glaube und Zukunft

Die "Unfähigkeit zu glauben" ist für wichtige Elemente des Ausnahmezustands höchst relevant. Ein Beispiel ist die Klimaerwärmung. Dass sie bevorsteht, wenn nicht drastische Veränderungen der westlichen Lebensweise eingeleitet werden, ist gesellschaftlicher Mainstream -alle wissen das. Aber die Mehrheit der Menschen scheint diese Zukunftsaussicht nicht zu glauben. Anders gesagt: Intellektuell ist die Bedrohung der globalen Erwärmung in der Mitte der Gesellschaft angekommen, emotional ist sie von eher peripherer Natur.

Ein anderes Beispiel für das Phänomen des Nicht-glauben-Könnens ist die Unfähigkeit, sich "wirklich wirklich schlimme" politische Entwicklungen vorzustellen. Mit Blick auf die Kriegserklärung von 1914 beschrieb der Philosoph Henri Bergson seine Bestürzung angesichts der für ihn unvorstellbaren Entwicklungen.

René Girard meint dazu, es sehe "ganz danach aus, als entspräche die Leichtigkeit, mit der sich diese Verwirklichung des Unmöglichen vollzog, der Schwierigkeit, sie sich auszumalen." Auch Autoren wie Ivan Krastev und Timothy Snyder weisen darauf hin, dass noch so absurd und unmöglich scheinende Dinge tatsächlich passieren können. (...) Ja: Dinge, die heute noch völlig abstrus und unglaubwürdig scheinen, können schon morgen Realität sein.

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