7018801-1988_37_07.jpg
Digital In Arbeit

Sinnvoll arbeiten Solidarisch leben

Werbung
Werbung
Werbung

1 Einfuhrung

Alles dreht sich um die Arbeit

Glaubensüberzeugung hat Konsequenzen. Gelebter Glaube sieht Mensch und Gesellschaft in einem besonderen Licht, das Unrechtssituationen sichtbar macht und in dem Möglichkeiten zur Veränderung gesucht werden können. Davon sind auch Arbeit und Wirtschaft nicht ausgenommen; denn die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens stellt sich in allen Lebensbereichen.

1. Der Glaube macht nachdenklich

Wo immer es um den Menschen geht, fühlt sich die Kirche als Volk Gottes herausgefordert, mit den Menschen über Wege zu einem geglückten Leben und über gerechte Ordnungen in der Gesellschaft nachzudenken, und sie tut dies im Licht des Evangeliums und mit Respekt vor der Eigenständigkeit der Sachbereiche, die auch sie sorgfältig studieren muß.

So ist die soziale Botschaft der Kirche in zweifacher Weise wirksam: durch ihre Kontinuität, die sie aus den bleibenden Grundzügen ihres Menschenbildes gewinnt, aber auch durch eine fortwährende Erneuerung, indem sie sich in der Auseinandersetzung mit den Gegenwartsfragen weiterentwickelt. Diese lebendige Spannung von Kontinuität und Erneuerung bezeugen die päpstlichen Sozialrundschreiben seit 100 Jahren, zahlreiche Stellungnahmen aus allen Teilen der Weltkirche und nicht zuletzt die Sozialhirtenbriefe der österreichischen Bischöfe von 1925, 1956 und 1961, Stellungnahmen der österreichischen Katholikentage und Diöze-sansynoden.

2. Was der Arbeit Sinn gibt

Die Arbeit ist „Dreh- und Angelpunkt“ der sozialen Frage (Johannes Paul II., Uber die menschliche Arbeit, Nr. 3). Sie bietet sich darum als zentrales Thema an, das wie in einem Brennpunkt sammelt, was die soziale Lage der Menschen bestimmt. Arbeit in den verschiedenen Formen macht einen Großteil des menschlichen Lebens aus. Sinnvolle Arbeit trägt bei

— zur Sicherung des Lebensunterhaltes und zur Erhaltung und Entfaltung der Natur (Naturalfunk-tion),

— zur Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten (Personalfunktion) und

— zu sozialer Anerkennung für Dienste an der Gesellschaft (Sozialfunktion).

Unsere Gesellschaft wird wesentlich von der Arbeit geprägt. Die Probleme stellen sich innerhalb der Arbeitsverhältnisse und in der Beziehung Arbeit und Leben, Mensch und Natur. Unser Ziel ist „sinnvoll arbeiten — solidarisch leben“.

Um diesem Ziel näherzukommen, muß über die Fragen gesprochen werden, auf die es am meisten ankommt: Wer bestimmt, wie gearbeitet wird? Wer entscheidet, was produziert und was aus den Produkten unserer Arbeit wird: ob sie der Naturzerstörung, dem Krieg oder der Erhaltung der Schöpfung und einer friedlichen Entwicklung dienen? Wie hängt Arbeit zusammen mit Familie und Freizeit, mit Konsum und Einkommen, mit unseren Beziehungen zu anderen Ländern? Wo schafft Arbeit Abhängigkeit, wo ist sie gemeinsame Gestaltung des Lebens?

3. Fragen

(1) In welchen Bereichen hat sich die soziale Lage erheblich verändert? Was bedeutet das im Hinblick auf die Arbeit?

(2) Welche gesellschaftlichen Entwicklungen stimmen Menschen, die sich am Evangelium orientieren, nachdenklich? Was ist positiv, was negativ zu beurteilen? Warum?

(3) Welche Aussagen der Sozialrundschreiben der Päpste sind besonders aktuell? Welche Impulse haben die Sozialhirtenbriefe der österreichischen Bischöfe gesetzt? In welche Richtung weisen die Beschlüsse der Katholikentage und Synoden?

(4) Wie kann die soziale Botschaft der Kirche heute — unter den geänderten Bedingungen — verwirklicht werden? Wie im Bereich der Kirche selbst?

Erwerbsarbeit

Bleibt der Mensch auf der Strecke?

Arbeit in den verschiedensten Formen macht einen Großteil des menschlichen Lebens aus. Das Problem entsteht dort, wo Arbeit nur als Erwerbsarbeit, als Verdienstmöglichkeit gesehen wird. Er/sie arbeitet, um das für den Lebensunterhalt notwendige Geld zu verdienen oder sich mehr leisten zu können. Es wird dann nicht mehr darauf geachtet, ob Menschen durch die Arbeit überbelastet oder in ihren Fähigkeiten unterfordert werden. Fragen nach dem Sinn der Arbeit werden übergangen.

1. Erwerbsarbeit ist nicht alles

In unserer Gesellschaft werden Einkommen und Lebenschancen fast ausschließlich über Erwerbsarbeit verteilt. Die negativen Folgen sind:

(1) Der Arbeitsbegriff ist auf Erwerbsarbeit verengt. Arbeiten in Familie, Kindererziehung und Nächstenhilfe, die nicht entlohnt sind, gelten — oberflächlich gesehen - nicht als Arbeit.

(2) Um der Verdienstmöglichkeit willen werden oft körperliche und seelische Belastungen in Kauf genommen, die bei steigendem Konkurrenz- und Anpassungsdruck zur Uberforderung werden können.

(3) Jugendliche sind in ihrer Berufswahl eingeengt. Wertvolle Fähigkeiten und Interessen werden so für die Gesellschaft nicht wirksam.

(4) Unternehmen müssen auf Konkurrenzfähigkeit und Gewinn bedacht sein. Zählen nur diese, werden auch Produkte erzeugt, die wir nicht brauchen, die uns selbst oder Menschen in anderen Teilen der Erde schaden. Oft wird dabei die Umwelt belastet und manchmal schwerstens und für lange Zeit geschädigt. Solche Perversionen menschlicher Arbeit werden um der Arbeitsplätze) willen gerechtfertigt.

2. Arbeit muß menschengerecht sein

Auch Erwerbsarbeit ist menschliche Arbeit, die dem Menschen als Person gerecht werden muß. Sie muß dem Arbeitenden den würdigen Lebensunterhalt ermöglichen. Jede Leistung ist auch mit Anstrengung und Mühe verbunden. Damit darf aber nicht kränkende oder krankmachende Anpassung gerechtfertigt werden. Menschengerechte Arbeit geht mit der Entfaltung der Fähigkeiten und Kräfte des Arbeitenden Hand in Hand. Darüber hinaus und vor allem heißt sinnvolle Arbeit lebensfördernde Arbeit, die den Menschen nützt. Arbeiten und Wirtschaften sind nicht Selbstzweck, sie haben ihr Ziel im Dienst an Mensch und Gemeinschaft. Sinnvolle und menschenwürdige Arbeit verlangt nach entsprechender Mitbestimmung, Mitgestaltung und Beteiligung in Betrieb, Wirtschaft und Gesellschaft.

3. Fragen

(1) Wodurch könnten neben Erwerbsarbeit sinnvolle, nicht entlohnte Tätigkeiten aufgewertet werden?

(2) Wer bestimmt, was erzeugt wird? Wie können wir von der Erzeugung von schädlichen Produkten und von schädlichen Produktionsweisen zu menschen- und umweltgerechten Produktionen, Erzeugnissen und Dienstleistungen kommen? Wie kann vermieden werden, daß dabei die in diesen Branchen Arbeitenden einseitig die Lasten zu tragen haben?

(3) Nach welchen Kriterien wird ein Beruf gewählt? Wie kann sichergestellt werden, daß die persönlichen Fähigkeiten der Gesellschaft zugute kommen?

(4) Welche (strukturellen) Änderungen sind notwendig, damit Arbeit die Persönlichkeit fördert und als sinnvoll erfahren werden kann?

(5) Wie können Formen der betrieblichen Mitbestimmung und Mitarbeiterbeteiligung gefördert werden?

3Glaube und Arbeit

„... damit sie das Leben haben“ (Joh 10,10)

Wer die Bibel liest, lernt die Arbeit im Licht des Glaubens sehen: die schöpferische Freude an der Arbeit ebenso wieMühe undLast; Arbeit als Möglichkeit zum selbständigen Leben und zum Dienst an der Gemeinschaft ebenso wie in Abhängigkeit und Rivalität. Arbeit ist Teilnahme am Werk der Schöpfung und zugleich erlösungsbedürftig wie der Mensch selbst.

1. Schöpferische und erschöpfende Arbeit

Der Mensch ist geschaffen als Gottes Ebenbild, als sein Partner. Darin gründet seine Würde als Person, die unbedingte Achtung verdient. Gott will, daß der Mensch teilhat an seiner Schöpfung und mitarbeitet an ihrer Vollendung. In der Arbeit übernimmt der Mensch Verantwortung für diese Welt, gestaltet sie und lebt seine Berufung. Arbeit ist aber von der Gebrochenheit menschlichen Lebens nicht ausgenommen; sie kann sich gegen die Absicht Gottes kehren, Menschen zugrunderichten, die Schöpfung zerstören.

2. Ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit

Gott hat das Volk Israel aus der Sklavenarbeit Ägyptens in die Freiheit geführt und ihm am Sinai eine neue Lebensordnung gegeben: Der Glaube an den einen, lebendigen Gott befreit von allen Götzen, die die Menschen sich machen und denen Menschen geopfert werden; Gerechtigkeit und Achtung voreinander lassen in Frieden und Freiheit leben. In der Feier des Sonntags und der Feste ist der Arbeit eine Grenze gesetzt, darf sich der Mensch der Schöpfung, des Geschenks der Freiheit und der Früchte seiner Arbeit freuen. Im Innehalten, in der Besinnung, im Verzicht auf Nutzen und Leistung kann er nach dem Sinn seines Tuns fragen, neue Möglichkeiten entdecken, sein Leben als Geschenk erfahren.

Wie Israel wieder den Götzen verfiel und Arme und Fremde unterdrückte, so besteht immer die Versuchung, menschenunwürdige Zwänge hinzunehmen, Unrecht zu begehen. Es besteht aber auch die Chance zu Umkehr, Vergebung und Veränderung, wie die Botschaft der Propheten bezeugt.

3. Sorgt euch, aber sorgt euch nicht ängstlich

In Jesus Christus erfüllt sich die Zusage eines erlösten Lebens in Freiheit und Gerechtigkeit. Von ihm gilt das Wort des Propheten Jesaja: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18f.).

Die Erlösung gilt dem ganzen Menschen — auch in seiner Arbeit. Im Vertrauen auf Gottes Zusage wird er frei von ängstlicher Sorge: „Euch aber muß es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben“ (Mt 6,33).

In der Nachfolge Jesu nehmen die Christen teil an seiner. Sendung. Männern und Frauen „kommt es zu, mit christlichem Engagement die irdischen Bereiche zu durchdringen und sich darin als Zeugen und Mitarbeiter des Friedens und der Gerechtigkeit zu erweisen“ (Johannes Paul II., Die soziale Sorge der Kirche, Nr. 47).

Christen verstehen ihre Fähigkeiten als Gaben Gottes (Charismen, Talente) zum Dienst an der Gemeinschaft. In der Arbeit setzen sie diese Gaben ein und werden zu Mitarbeitern/innen am Reich Gottes.

4. Die Gnade läßt atmen

Der Mensch lebt immer aus der Gnade Gottes — auch im persönlichen Bemühen und im Einsatz seiner Fähigkeiten. Seine Würde hängt nicht an dem, was er sich erarbeitet oder besitzt. So wird einseitiges Leistungsdenken überwunden: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ (1 Kör 4,7) Angenommen, gerechtfertigt findet sich der Mensch im Glauben! im Vertrauen auf Gott, der ihn schuf und sein Leben will — vor aller persönlichen Leistung. Auch das Leben von Menschen ohne Arbeit, von leidenden, kranken, schwachen und alten Menschen ist sinnvoll.

Arbeit berührt Kejnaussagen des Glaubens; sie gehört ins Zentrum der Rede von Gott.

5. Fragen

(1) Welchen Sinn haben meine/ unsere verschiedenen Arbeiten im Zusammenhang mit der Schöpfung? Welche Arbeiten sind aufbauend? Wann werden sie zerstörerisch?

(2) Arbeit bedeutet auch Mühe und Leid. Wie kommen wir damit zurecht?

(3) Welchen „Götzen“ wird in unserer Gesellschaft vieles geopfert?

(4) Wie können wir den Zwängen der Arbeit und Leistung begegnen, wie menschenunwürdige Arbeitsbedingungen überwinden? Wie können wir bewußter von unserer Freiheit Gebrauch machen?

(5) Wo liegen meine besonderen Fähigkeiten? In welchen Arbeiten kann ich sie für andere einsetzen?

4 Familie

Der Lebensraum wird enger

Trotz verkürzter Arbeitszeit und gestiegenem Wohlstand haben die Belastungen des Familienlebens durch die Arbeitswelt zugenommen. Wachsende Anforderungen des Berufslebens und die drohende Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, werden im Zusammenleben der Familien ebenso spürbar wie der Sog steigender Bedürfnisse einer Konsumgesellschaft. Dabei müssen immer noch viele, vor allem kinderreiche Familien am Rande des Existenzminimums leben. Schließlich kann steigende Flexibilisierung der Arbeit dazu führen, daß die Familie für ein Eigenleben keine gemeinsame Zeit mehr findet.

1. Familie: Nur ein Dienstleistungsbetrieb?

Ein für die Bedürfnisse der Familien ausreichendes Einkommen muß in unserer Erwerbsarbeitsgesellschaft sehr oft unter Bedingungen erworben werden, die für das Familienleben selbst sehr belastend sind:

(1) Wenn beide Elternteile einer Erwerbsarbeit nachgehen, dann werden Haushaltsführung, Erziehung und Pflege leicht zur Uberforderung. Wird ein „Familienerhalter“ für die Erwerbsarbeit „freigestellt“, dann fällt dieser weitgehend für Arbeiten in der Familie aus. Fast immer bedingt die Berufslaufbahn des Familienerhalters den vollen Einsatz des Partners zu Hause, fast immer sind es die Frauen, die diese „Schattenarbeit“ in der Familie leisten.

(2) Der Lebensrhythmus der Familie muß sich dem Arbeitsrhythmus ihrer Mitglieder unterordnen. Dies hat besonders schwerwiegende Folgen für Pendler, sowie dort, wo Schicht- und Nachtarbeit oder Sonn- und Feiertagsarbeit geleistet wird. Angesichts hoher Kapitalinvestitionen in moderne Anlagen ist die Tendenz zu solch „flexiblen“ Arbeitsformen derzeit steigend.

(3) Aggression und Gewalt in der Familie sind nicht selten die Folge von Anpassungsdruck und Streß in der Erwerbsarbeit. Von der Familie wird erwartet, die beruflichen Belastungen auszugleichen, die „Arbeitskraft“ wiederherzustellen.

(4) Partnerschaftswidrige Verhältnisse im Arbeitsleben wirken auf die Familie zurück. Kinder und Jugendliche werden einseitig zu Einzelleistungen, Konkurrenz und Unterordnungerzogen; soziale Fähigkeiten (wie Zusammenarbeit, partnerschaftliche Konfliktaustragung, selbstbestimmtes Handeln, Toleranz) werden vernachlässigt.

(5) Die Familie ist auch der Lebensraum derer, die noch nicht oder nicht mehr in der Erwerbsarbeit stehen. Die Betreuung von Alten und Kranken und die Erziehung künftiger „Arbeitskräfte“ wird von der Familie selbstverständlich erwartet, aber weder anerkannt noch abgegolten.

(6) Die Familie wird als Konsumeinheit umworben; aggressive Werbung, die sich an Hausfrauen und Kinder richtet, zielt darauf ab, Familienzeit mehr und mehr zur Konsumzeit umzufunktionieren.

2. Gemeinschaft will sich entfalten

„Das Wohl der Person sowie der menschlichen und christlichen Gesellschaft ist zuinnerst mit einem Wohlergehen der Ehe- und Familiengemeinschaft verbunden“ (II. Vatikanisches Konzil, Kirche in der Welt von heute, Nr. 47). Erwerbsarbeit soll den Familien einen ausreichenden Lebensunterhalt sichern. Dazu gehören gesetzliche Regelungen für Arbeitszeit und Sonn- und Feiertagsruhe, die den Familien einen eigenen Rhythmus und gemeinsame Familienzeit ermöglichen. Dazu gehören — neben ausreichendem Einkommen durch gerechte Löhne - auch Transferzahlungen. Dazu gehört die (nicht nur ideelle) Anerkennung der Familienarbeit.

3. Fragen

(1) Wie kann das Existenzminimum jedes Familienmitgliedes gesichert werden? (Durch gesetzliche Mindestlöhne, durch steuerliche Maßnahmen, Familienbeihilfe, sonstige Sozialleistungen?)

(2) Wie könnte die Arbeit in Haushalt und Kindererziehung gerechte Anerkennung finden? (Anerkennung in der Sozialversicherung? Erziehungsgeld?)

(3) Wie kann bezahlte und unbezahlte Arbeit gerechter—vor allem gerechter zwischen den Geschlechtern — aufgeteilt werden?

(4) Wie können Kinder und Jugendliche zu einem partnerschaftlicheren Rollenverhalten geführt, Väter für mehr Engagement in der Familie gewonnen werden?

(5) Braucht es eine organisierte Gegenwerbung: für einen kritischen Konsum, für einen bewußten Gebrauch von Gütern und eine überlegte Inanspruchnahme von Diensten?

(6) Wie können die Bedürfnisse und der Lebensrhythmus der Familie zu einem anerkannten Faktor innerhalb der Arbeitswelt gemacht werden? j Sozialstaat

Solidarität muß wachsen können

Der Sozialstaat wird heute oft in Frage gestellt. Die Kritik richtet sich gegen gelegentlich feststellbaren Mißbrauch, gegen verfestigte Ansprüche und Privilegien, gegen nicht mehr zeitgemäße Regelungen und Systeme. Statt den Sozialstaat unter den veränderten Bedingungen weiterzuentwickeln, lassen Pauschalverdächtigungen den A b bau sozialstaatlicher Einrichtungen auch dort fordern, wo sie im Interesse der Bedürftigen notwendig sind. Die Wirkungen solcher Kritik treffen gerade die schwächeren Glieder der Gesellschaft und zersetzen die Solidarität.

1. Mißtrauen entsolidarisiert

Unsere sozialstaatlichen Einrichtungen sind das Ergebnis der Kämpfe der Arbeiterbewegungen und sozialpartnerschaftlicher Auseinandersetzungen. Ihr Ziel war es, die wirtschaftlichen Erfolge in angemessener Weise allen gesellschaftlichen Gruppen zukommen zu lassen. Der Anspruch auf Sozialleistungen ist wesentlich an die Erwerbsarbeit gebunden. Die Finanzierung des sozialen Netzes erfolgt durch arbeitsabhängige Beiträge. Gerade wenn der Bedarf am größten ist (in Krisenzeiten, bei hoher Arbeitslosigkeit), gehen die Beitragsleistungen zurück. Die Folgen:

(1) Um einzusparen, werden allgemein Sozialleistungen gekürzt, Anspruchsvoraussetzungen verschärft oder erschwert;

(2) Verbesserungsvorschläge (Mindestleistungen, Gleichstellung von Ausländern und Jugendlichen) werden als „unfinanzier-bar“ verschoben oder abgelehnt;

(3) Leistungsempfänger/innen werden als Schmarotzer verdächtigt, Arbeitslosigkeit oder Armut als persönliche Schuld angelastet. So werden die Menschen gegeneinander ausgespielt, entsolidarisiert.

2. Der Staat ist nicht überflüssig

Staatliche Einrichtungen sind unersetzlich für die Durchsetzung des Gemeinwohls. Die Politik muß Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß Solidarität zwischen allen Gruppen wirksam werden kann und daß den Familien und den kleineren Einheiten

(Initiativgruppen, Vereine... ) die nötige Hilfe zur Selbsthilfe gesichert ist (Subsidiarität). Dabei kommt der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Armen Vorrang zu. Zur Wahrnehmung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen bedarf es Organisationen und Verbände, die aber in der Vertretung ihrer Interessen immer dem Gemeinwohl und der Solidarität verpflichtet bleiben.

3. Fragen

(1) In welchen Bereichen müßten die sozialstaatlichen Einrichtungen den geänderten Bedingungen angepaßt werden? (Z. B. Verwaltungsvereinfachung, Steuerreform, Volkspension, Mindestsicherung?) Wieweit wäre eine Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Sozialleistungen sinnvoll?

(2) Wie können Sozialstaat und Nächstenhilfe einander besser ergänzen? Wodurch werden Eigeninitiativen geweckt?

(3) Wie kann der Zugang zu Sozialleistungen für Jugendliche, Ausländer/innen, Nicht-Erwerbstätige verbessert werden?

(4) Vor welchen neuen Herausforderungen stehen die Interessenvertretungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer? Welche Anliegen müßten stärker wahrgenommen werden?

(5) Welche sozialpolitischen Maßnahmen fordern die Umschichtungen in der Bevölkerungsstruktur (z. B. Zunahme des Anteils der älteren Menschen)?

(6) Solidarische Lösungen sind der Durchsetzung von Einzelinteressen überlegen. Wo kann das erfahren und eingeübt werden?

6 Arbeitslosigkeit

Schlittern wir in eine Zweidrittelgesellschaft?

In einer Arbeitsgesellschaft, in der Einkommen und Le benschan-cen über die Erwerbsarbeit verteilt werden, bedeutet Arbeitslosigkeit nicht nur Einkommenseinbußen, sondern auch Ausschluß aus vielen Bereichen des gesellschaftlichenLebens.Das erfahren Arbeitslose, ihre Angehörigen und alle, die nicht im Erwerbsarbeitsleben stehen, wie alte und kranke Menschen. An den Folgen der Arbeitslosigkeit wird deutlich, wie sehr Erwerbsarbeit über das Zusammenleben bestimmt.

1. Arbeitslosigkeit schließt aus

Unsere Gesellschaft spaltet sich immer mehr in Menschen, die relativ sichere Arbeitsplätze und gute Einkommen haben, und solche, die sich mit unsicheren Arbeitsplätzen und schlechtbezahlten Tätigkeiten, die immer wieder durch Perioden der Arbeitslosigkeit unterbrochen werden, zufriedengeben müssen. Behinderte Menschen, ältere Arbeitnehmer/ innen und Frauen im allgemeinen finden nur schwer einen Arbeitsplatz. Dies gilt vor allem für Krisenregionen. Durch Arbeitslosigkeit verlieren Jugendliche die Chance, in ein Erwerbsarbeitsleben hineinzuwachsen und damit in die Gesellschaft integriert zu werden. Die Auswirkungen:

(1) Arbeitslose, die wieder einen neuen Arbeitsplatz finden, müssen häufig mit einem niedrigeren Einkommen zufrieden sein. Zusammen mit den niedrigen Einkommen der Arbeitslosen senkt dies einerseits das Lohnniveau, andererseits aber auch die Masseneinkommen. Sinkende Kaufkraft im unteren Einkommensbereich wirkt sich auf Konsum und Wirtschaft aus, wodurch erst wieder Arbeitsplätze verlorengehen.

(2) Arbeitslosigkeit vermittelt das Gefühl, von der Gesellschaft nicht gebraucht zu werden. Dies trifft Jugendliche oder auch Haftentlassene besonders hart. Daraus entstehende Sinnkrisen münden oft in Aggression: gegen sich selbst (Alkoholismus, Sucht, Selbstmord), gegen die Nächsten (Streit in den Familien und Gewalttätigkeit), gegen die Allgemeinheit (Vandalismus, Kriminalität).

(3) Massenarbeitslosigkeit destabilisiert, das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle wächst, die Kosten für den Sicherheitsapparat steigen (Polizeistaat).

(4) Arbeitslosigkeit als eine Form der Arbeitszeitverkürzung ist unmenschlich und langfristig teuer; sie entsolidarisiert und spaltet die Gesellschaft.

2. Es gibt ein Recht auf Arbeit

Vor allem durch die Arbeit verwirklicht der Mensch seine Fähigkeiten im Dienst an der Gemeinschaft. Es übersteigt die Möglichkeiten der einzelnen Arbeitgeber/ innen wie Arbeitnehmer/innen, sicherzustellen, daß alle, die Arbeit suchen, auch Arbeit finden können. Darum bedarf es gesetzlicher Regelungen und beschäftigungspolitischer Maßnahmen, die das Recht auf Arbeit, und zwar auf sinnvolle Arbeit, zur Geltung bringen. „Sinnvoll“ ist Arbeit, die den Lebensunterhalt sichern hilft, menschengerecht und gesellschaftlich nützlich ist.

3. Fragen

(1) Welche solidarischen Formen eines Teilens der Erwerbsarbeit sind möglich? (Allgemeine Arbeitszeitverkürzung? Abbau von Uberstunden? Teilzeitarbeit für Mann und Frau?)

(2) Welche Steuer- und Beschäftigungspolitik wäre notwendig, um Arbeitslosigkeit abzubauen und nach Möglichkeit zu vermeiden?

(3) Kenntnisse und Fähigkeiten sind heute rasch veraltet. Welche Maßnahmen und Einrichtungen wären notwendig, um Aus- und Weiterbildung zu verbessern, um auf dem laufenden zu bleiben?

(4) Welche Möglichkeiten gibt es, nicht nur Erwerbsarbeitsplätze im herkömmlichen Sinn zu schaffen, sondern auch neue Arbeit zu „erfinden“ und sowieso geleistete „Schattenarbeit“ anzuerkennen?

(5) Was kann, was soll die Kirche (Diözesen, Pfarreien, Ordensgemeinschaften) für die Arbeitslosen tun?

7 Frauen

Die Armut ist weiblich

Frauenarbeit hat zwei Gesichter: die unbezahlte Arbeit im häuslichen und familiären Bereich und die Erwerbsarbeit. Für viele Frauen bedeutet dies doppelte Belastung. Ihre Erwerbsarbeit wird anders eingeschätzt als die der Männer, Frauen tragen auch die Folgen des ungelösten Verhältnisses zwischen Familie und Erwerbsarbeit: Frauenarbeit in der Familie genießt nicht die Anerkennung der Erwerbsarbeit; Frauenarbeit im Beruf genießt nicht die Anerkennung männlicher Arbeit, weil Frauen ,ja eigentlich in die Familie gehören“.

1. Mehr Arbeit -weniger Einkommen

Frauen leisten den größten Teil der unbezahlten Arbeit. Weil der Alltag von Frauen durch familiäre Zusammenhänge bestimmt ist, müssen sie in der Erwerbsarbeit mit ungünstigeren Bedingungen und schlechterer Bezahlung zufrieden sein. Dies hat Folgen für die Stellung aller Frauen in der Erwerbsarbeitsgesellschaft:

(1) Weil Frauen auf Arbeit angewiesen, aber weniger flexibel sind, werden sie in „Leichtlohngruppen“ eingestuft; weil sie als „Zuverdienerinnen“ gelten, wird steigende Frauenarbeitslosigkeit politisch nicht sehr ernst genommen; weil Frauen Kinder bekommen könnten, sind gewöhnlich ihre beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten schlechter.

(2) Frauen ohne eigenes Einkommen stehen bisweilen in einer demütigenden Abhängigkeit von ihren alleinverdienenden Ehemännern. Bei Arbeitslosigkeit fallen sie oft unter das Existenzminimum, im Alter stellen sie das Gros der Ausgleichszulagenempfänger.

(3) Mädchen erhalten im Durchschnitt eine geringere Ausbildung, junge Frauen leisten vielfach Fließband- und Akkordarbeit; auch sind sie nicht selten am Arbeitsplatz sexuellen Belästigungen ausgesetzt.

(4) Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt als persönliches Problem jeder einzelnen Frau überlassen, obwohl nur wenige die Voraussetzungen haben, zwischen Beruf und Familie frei zu wählen. Trotzdem müssen sich berufstätige Frauen oft den Vorwurf machen lassen, sie würden wegen „egoistischer Selbstentfaltung“ die Familie „vernachlässigen“.

So werden Frauen gegeneinander ausgespielt: „Nur-Haufrau-en“ (die „nichts zum Familienunterhalt beitragen“) gegen Erwerbstätige (die sich „zuwenig um Familie und Kinder kümmern“).

2. Gleiche Würde ist nicht nur ein Wort

„Gott schuf den Menschen als sein Abbild... als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,27). Die gleiche Würde von Mann und Frau muß auch in gleichwertigen Lebenschancen ihren Ausdruck finden. Eine geschlechtsbezogene Arbeitsteilung, die den größten Teil der unbezahlten Arbeit den Frauen, den besten Teil der Erwerbsarbeit den Männern zuweist, kann dem nicht gerecht werden. Auch für Frauen bedeutet Erwerbstätigkeit Sicherung des Lebensunterhalts, Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, Möglichkeiten zu zwischenmenschlichen Kontakten und Dienst an der Gemeinschaft. Starre Rollenzuweisung statt Einsatz von Männern und Frauen nach ihren persönlichen Begabungen und Fähigkeiten stellt eine Verarmung des Zusammenlebens in Familie und Arbeitswelt dar.

3. Fragen

(1) Wie können sich Frauen gemeinsam einsetzen für gerechte Anerkennung ihrer Arbeit in Beruf und Haushalt?

(2) Wodurch könnten Benachteiligungen der Frauen abgebaut werden? (Arbeitszeitverkürzung? Bezahlung der Hausarbeit? Veränderung der Sozialgesetzgebung?)

(3) Warum gelingt es so schwer, unbezahlte Arbeit zwischen Frauen und Männern, Müttern und Vätern gerechter aufzuteilen? Wie können diese Schwierigkeiten überwunden werden?

(4) Wie könnte ein „Grundrecht auf Familienarbeit“ für beide Elternteile durchgesetzt werden?

(5) Wie könnten die Chancen von Frauen, die um der Familie willen ihre Berufslaufbahn unterbrochen haben, beim Wiedereintritt ins Erwerbsleben verbessert werden?

8 Landwirtschaft

Die Natur hat andere Gesetze

Die Bauern, und mit ihnen die ländlichen Regionen, sind abhängig von Organisationen, Industrie, Regelungen der Marktordnung und Bedingungen des Weltmarktes. Strukturveränderungen zwingen viele Bauern und Bäuerinnen zum Aufgeben der Landwirtschaft oder zum Zuerwerb. Junge Menschen suchen nicht zuletzt wegen der ungeregelten Arbeitszeit in der Landwirtschaft Erwerbsmöglichkeiten in der Stadt. Der ländliche Raum wird entvölkert. Traditionelle Familienstrukturen und bäuerliche Kultur lösen sich dabei mehr und mehr auf.

1. Mehr Produktion bringt weniger Geld

Die Landwirtschaft ist heute weithin zum Rohstofflieferanten degradiert und von mächtigen Interessen abhängig. Sie hat mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen:

(1) Europaweite Uberschußproduktion führt zu niedrigen Einkommen für die Landwirte, hohen Exportkosten für die Steuerzahler und hohen Lebensmittelpreisen für die Konsumenten.

(2) Die Abhängigkeit von industriellen Zulieferungen (Saatgut, Düngemittel, Pflanzenschutz) und der Einsatz teurer Maschinen führt häufig zur Verschuldung. Um Schulden abzuzahlen oder einen entsprechenden Lebensstandard zu erreichen, wird viel in Kauf genommen: Nebenerwerb, Uberbelastung der Frauen, Arbeit an den Wochenenden, Verzicht auf Freizeit und Urlaub.

(3) Industrielle Bewirtschaftung und Marktverhältnisse zwingen die Bauern, entgegen ihrer Tradition, mitzuwirken an der Zerstörung der natürlichen Umwelt, die zudem ihre wirtschaftliche Grundlage darstellt.

Eine Landwirtschaft, die mit schonenden Methoden Lebensmittel für die Konsumenten produziert, scheint in der modernen Industriegesellschaft keinen Platz mehr zu haben und der weltweiten Konkurrenz weichen zu müssen. Neue Formen bäuerlicher Aufgaben und Existenzmöglichkeiten sind erst in Ansätzen vorhanden.

2. Den Garten Gottes pflegen

Waldschäden, Vergiftung von Flüssen und Grundwasser, Zerstörung einst fruchtbarer Böden und das rapide Verschwinden vieler Tiere und Pflanzen aus unserer Lebenswelt lassen uns nachdenklich werden. Es wird uns bewußt, daß unsere Lebensqualität, auf lange Sicht vielleicht das biologische Uberleben der Menschen, gefährdet ist. Um unseren natürlichen Lebensraum zukünftigen Generationen zu erhalten, gilt es, das in der Natur grundgelegte Kreislaufprinzip zu achten.

Für die bäuerlichen Betriebe erfordert dies materielle und ideelle Hilfestellungen, um die neuen Aufgaben der Erhaltung unseres Lebensraums und der Erzeugung natürlicher qualitätsvoller Lebensmittel erfüllen zu können. Dabei haben die Landwirte Anspruch auf die allen Gliedern unserer Gesellschaft zustehenden wirtschaftlichen und sozialen Rechte.

3. Fragen

(1) Welche strukturellen Hilfen brauchen bäuerliche Betriebe, um den neuen Aufgaben gerecht zu werden?

(2) Welche neuen Produkte, welche neuen Vermarktungsmöglichkeiten bieten sich an?

(3) Worin besteht der Beitrag der Landwirtschaft zur Erhaltung unserer Lebenswelt, unseres Er-holungs- und Siedlungsraumes?

(4) Welche Maßnahmen sind für strukturschwache Gebiete vorzusehen?

(5) Vor welchen Herausforderungen stehen die ländlichen Genossenschaften und Interessenvertretungen?

9Internationale Verflechtung

Die Erde gehört nicht allein den Reichen

Der Graben zwischen den reichen Ländern des Nordens und den armen Ländern des Südens wird immer größer. Diese Unterschiede sind nicht einfach auf natürliche Ursachen, sondern wesentlich auf „Gier nach Profit“ und „Verlangen nach Macht“ — und das „um jeden Preis“ — zurückzufuhren (Johannes Paul IL, Die soziale Sorge der Kirche, Nr. 37). So entwickelten sich Strukturen des Welthandels, die so beschaffen sind, daß Rohstoffe und Arbeitskraft der Armen zugunsten der Reichen ausgebeutet werden. Auch die österreichische Wirtschaft ist in diese Zusammenhänge eingebunden.

1. Die Welt bricht auseinander

Die Verflechtung der modernen Welt (Kommunikations- und Transportsysteme, internationales Kapital, transnationale Unternehmen ... ) erlaubt es, Wirtschaftskraft fast unbeschränkt jeweils dort einzusetzen, wo die größten Vorteile (Gewinne) zu erwarten sind.

(1) Billige Rohstoffe und Konsumartikel aus der Dritten Welt tragen dazu bei, unseren Wohlstand zu mehren. Dieser Vorteil ist häufig durch äußerst niedrige Löhne der Arbeiter/innen in den Entwicklungsländern erkauft, die durch ihre Arbeit oft nicht einmal den nötigen Lebensunterhalt für sich und ihre Familien verdienen. Exportprodukte aus Österreich und anderen Industrieländern sind dagegen mit hohen Lohnkosten belastet.

(2) Arbeit bei uns kann zur Bedrohung von Leben in der Dritten Welt beitragen (z. B. Export von Waffen oder umweltschädlichen Produkten). Es wird versucht, Arbeitsplätze auf Kosten von Menschen in anderen Teilen der Welt zu sichern.

(3) Gastarbeiter haben zur wirtschaftlichen Entwicklung Österreichs beigetragen. Sie sind weder in den Arbeitsbedingungen noch in den Sozialleistungen Österreichern voll gleichgestellt. Wenn man sie nicht mehr braucht, werden sie in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt.

(4) Das Gefälle zwischen reichen und armen Ländern hinsichtlich Wohlstand und Achtung der Menschenrechte spiegelt sich auch in der Frage der Flüchtlinge. Mit steigender Arbeitslosigkeit sinkt die Bereitschaft, sie aufzunehmen.

Die Strukturen des Welthandels führen dazu, daß wir uns als Teil der reichen Welt die „Früchte der Arbeit“ aus den armen Ländern zu ungerechten Bedingungen aneignen. Extreme Verschuldung der Entwicklungsländer ist auch eine Folge dieser Strukturen und verstärkt sie weiter. Da wir mit unseren Industrie- und Medienprodukten Konsummuster und Lebenseinstellungen exportieren, werden eigenständige Kulturen zerstört. Die Vielfalt von menschlichen Ausdrucksformen geht so verloren.

2. Entwicklung durch Solidarität

Die Güter dieser Welt sind für alle bestimmt. Dieses kennzeichnende Prinzip der christlichen Soziallehre besagt, daß eine Ordnung der Welt zutiefst ungerecht ist, in der die Mehrheit bestenfalls das Lebensnotwendigste hat, während eine Minderheit immer reicher wird. Christen sind herausgefordert, diese „perversen Strukturen“ zu verändern und in internationaler Solidarität für gerechteren Austausch einzutreten. Dies ist die Voraussetzung für die Entwicklung „des ganzen Menschen und aller Menschen“ — nicht nur in der Dritten Welt, sondern letztlich und langfristig auch bei uns.

3. Fragen

(1) Wie sollte Österreich Entwicklungshilfe leisten?

(2) Welche Möglichkeiten hat Österreich, zum Abbau von Schuldenlasten von Dritte-Welt-Ländern und zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung beizutragen?

(3) Wie können wir die sozialen Kosten der Einstellung von Waffenexporten solidarisch tragen?

(4) Welche Voraussetzungen sind nötig zur vollen Integration von Gastarbeitern/innen?

(5) Welche Möglichkeiten sollte die Kirche weiterhin in diesem Problembereich wahrnehmen?

10

Zukunft

Unsere Kinder sollen leben

Heute wird über die Zukunft entschieden. Wenn wir heute die Umkehr wagen zu sinnvoller Arbeit in Respekt vor der Schöpfung, wird auch in Zukunft sinnvolle Arbeit möglich sein. Wenn wir uns heute mühen um Gerechtigkeit gegenüber Menschen überall auf der Erde, wird solidarisches Leben möglich werden. Wenn wir heute den Mut haben, Strukturen der Sünde“ aufzubrechen, können Strukturen des Friedens entstehen!

1. Fehler haben Folgen

Die Zukunft ist gefährdet, wenn die „Sachzwänge“ der Gegenwart Zukunftsperspektiven keine Chance lassen:

(1) wenn die Umweltschäden der gegenwärtigen Wirtschaftsweise verdrängt und verschwiegen werden;

(2) wenn weltweite Armut und die daraus entstehenden Spannungen als Preis des Wohlstands in den Industrieländern hingenommen werden;

(3) wenn der Krieg als Institution nicht überwunden und Frieden mit immer gefährlicheren Waffen „gesichert“ wird;

(4) wenn in der Politik kurzsichtige Wählerinteressen langfristigen Problemlösungen vorgezogen werden.

2. Heute entscheiden wir über die Zukunft

„Aus der tiefen Erfahrung von Sorge und Angst... erhebt sich allmählich die Einsicht, daß das Gut, zu dem wir alle berufen sind, und das Glück, nach dem wir uns sehnen, ohne die Anstrengungen und den Einsatz aller ... nicht erreicht werden können“ (Johannes Paul IL, Die soziale Sorge der Kirche, Nr. 26). Das Leben künftiger Generationen ist davon abhängig, wie wir heute arbeiten und leben. Bewahrung der Schöpfung, weltweite soziale Gerechtigkeit und Sicherung des Friedens entscheiden sich heute.

Ein tiefgreifender Bewußtseinswandel ist erforderlich, eine Umkehr, die sich vertrauensvoll neuen Möglichkeiten der Zukunft öffnet. Die entsprechende soziale Haltung ist die Solidarität.

3. Fragen

(1) Wieweit leben und wirtschaften wir heute auf Kosten zukünftiger Generationen? Was können, was müssen wir ändern?

(2) Wo muß sich die Art und Weise, zu planen, Folgen abzuschätzen und Entscheidungen zu treffen, wandeln, um die Zukunft offenzuhalten?

(3) Wie ernst werden Kinder und Jugendliche genommen, ihre Lebensinteressen, ihre Zukunftsvisionen?

(4) Was können Christen zum Bewußtseinswandel beitragen? Was ist Aufgabe der Kirche, ihrer Gliederungen und Gemeinschaften, der kirchlichen Sozialbewegungen?

II Der nächste 1 Schritt

Arbeit und Einkommen gerechter teilen

Vor allem aufgrund der neuen Technologien ist immer weniger Arbeitseinsatz erforderlich, um immer mehr Güter und Leistungen zur Verfügung zu stellen. Ein großer Teil der in der Gesellschaft geleisteten Arbeit (in Haushalt, Erziehung und Pflege, in Pfarrgemeinden, Vereinen und Organisationen) wird nicht bezahlt. Im sozialen Bereich, in Fragen der Bildung und der Umwelt wäre noch vieles zu tunz doch die Mittel dafür scheinen zu fehlen. Von unbezahlter Arbeit aber kann in einer Geldwirtschaft niemand leben, auch wenn diese Arbeit sinnvoll und notwendig ist.

1. Der Reichtum wächst, die Armut auch

Viele reden davon, daß wir anders arbeiten, anders wirtschaften und anders leben müssen. Die Gründe dafür sind nicht nur Umweltzerstörung und die Not der Dritten Welt, sondern auch als ungerecht empfundene Verhältnisse in unserer Gesellschaft.

(1) Während die einen Uberstunden anhäufen und sich durch übermäßige Arbeit krankmachen, bekommen andere keine Arbeit.

(2) Während die einen Kinder erziehen, Kranke pflegen und sich für die Gemeinschaft einsetzen, ohne dafür bezahlt zu werden, können andere mit der Herstellung fragwürdiger Produkte oder aufgrund von Privilegien hohe Einkommen erzielen. ;

(3) Während bestimmte Bevölkerungsgruppen (wie kinderreiche Familien, ältere und zunehmend auch jüngere Menschen) in beschämender Armut leben, wachsen Reichtum und Luxuskonsum.

2. Gerechtigkeit heißt teilen und beteiligen

„Soziale Gerechtigkeit bedeutet, daß Menschen verpflichtet sind, sich aktiv und produktiv am Leben der Gesellschaft zu beteiligen, und daß es der Gesellschaft obliegt, ihnen die Möglichkeiten einer solchen Beteiligung zu schaffen“ (US-Bischöfe, Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle, 1986, Nr. 71). Nur aktive Beteiligung am gesellschaftlichen Leben wird dem Menschen in seiner Würde und Verantwortung als Person gerecht. Nicht Zuteilen, sondern miteinander Teilen ist Grundlage für ein menschenwürdiges, solidarisches Leben. Es besteht darin, eigene Fähigkeiten und Interessen einzubringen, aber auch miteinander über die Verteilung der Arbeit und ihrer Ergebnisse zu entscheiden. Soziale Gerechtigkeit fordert, allen das lebensnotwendige Einkommen zu sichern und alle geleistete Arbeit anzuerkennen.

3. Fragen

(1) Welche Bewußtseinsänderungen sind notwendig, um einen Wandel zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu erreichen?

(2) Wie kann die Abhängigkeit von der Erwerbsarbeit vermindert, wie unbezahlte Arbeit aufgewertet werden? Wie kann jedem Mitglied unserer Gesellschaft das Lebensnotwendige gesichert werden?

(3) Wie können die bestehenden Lohn-Ungerechtigkeiten verringert werden? (Durch Einführung gesetzlicher Mindestlöhne? Durch Fixbeträge bei Lohnerhöhungen? Durch Umverteilung von den höchsten zu den niedrigsten Einkommen?)

(4) Welche Möglichkeiten habe ich/haben wir zur Mitgestaltung des Arbeitsplatzes und des Arbeitsablaufes? Wie kann von diesen Möglichkeiten mehr Gebrauch gemacht werden?

(5) Es gibt Menschen, die schon heute versuchen, anders zu leben und zu arbeiten (in gemein-schaftsfördernden Wohnformen, Erzeuger/Verbraucher-Initiativen, selbstverwalteten Betrieben u. a. m.). Was können wir von solchen Initiativen lernen, wie sie unterstützen?

(6) Wie können in kirchlichen Betrieben beispielhaft Formen des Teilens von Arbeit und Einkommen erprobt werden?

.l.-'l Schon jetzt JL iL beginnen

Damit das Gewissen wach wird

Den Sozialhirtenbrief durch einen breiten Diskussionsprozeß vorzubereiten, ist das Anliegen des vorliegenden Grundtextes. Anregungen dafür geben die vorangehenden thematischen Kapitel. Mehr noch als durch Diskussionen bildet sich das soziale Gewissen in der verantwortlichen Entscheidung für konkretes Handeln.

1. Den Versuchungen widerstehen

Menschen, die sich sozialen Problemen zuwenden, sind Versuchungen ausgesetzt:

(1) der Versuchung der Resignation, da die Probleme oft unüberschaubar und der Handlungsspielraum sehr gering erscheint;

(2) der Versuchung zum Fanatismus, da die Probleme als sehr dringlich erlebt werden und einfach gehandelt werden muß;

(3) der Versuchung, sich skeptisch zu distanzieren und es bei Einwänden und Kritik zu belassen.

2. Aus dem Glauben entscheiden

Der Mensch ist berufen, Verantwortung zu übernehmen. Für eine Entscheidung, was konkret zu tun ist, hilft es, zu achten auf:

(1) den besonderen Anruf: Welche Problemsituation liegt mir/ uns besonders nahe?

(2) Talente und Fähigkeiten: Worin bestehen meine/unsere Kenntnisse, zur Verfügung stehende Mittel, besondere Fähigkeiten, um einen Beitrag zur Problembewältigung zu leisten?

(3) Erfahrungen und Einsichten: Was ist mir/uns bereits klargeworden, wovon für ein konkretes Handeln ausgegangen werden kann?

Wo sich Menschen in gemeinsamem Gebet und ernster Auseinandersetzung mit den Sachproblemen dem Wirken Gottes öffnen, wird ihnen die Klarheit geschenkt werden, das Rechte zu erkennen und der Mut, es zu tun.

3. Vorschläge

(1) Sanierung des Zeitbudgets: Wofür verwende ich/verwenden wir zuviel Zeit? Wie kann ich/ können wir frei werden für das, •vas mir/uns wichtiger ist?

(2) Sozial- und Umweltverträglichkeitsprüfung unserer Arbeiten: Welche Folgen haben unsere Arbeiten in Beruf, Haushalt und Gemeinwesen für andere, für die Umwelt? Wie könnten sie sozial-und umweltverträglicher gestaltet werden?

(3) .Aktion...“: Welche Initiative können wir dieses Jahr in unserem Einflußbereich setzen—zugunsten von... ? Wie kann unser Glaube in dieser Initiative zum Ausdruck kommen?

(4) „Lernfeld...“: In welchem Bereich, durch welche Bildungsmaßnahme kann ich/können wir unsere soziale Kompetenz erweitern?

Damit es nicht bei Worten bleibt, sind alle eingeladen, begleitend zur Diskussion der Fragen des vorliegenden Grundtextes eine konkrete Initiative zu setzen, einen praktischen Schritt zu tun.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung