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Digital In Arbeit

Jeder tut, was er kann ?

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Nicht nur Schwärmer träumen von einer Arbeitswelt, in der es um mehr als das bloße Geldverdienen geht. Die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch hat konkrete Vorstellungen.

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Nicht nur Schwärmer träumen von einer Arbeitswelt, in der es um mehr als das bloße Geldverdienen geht. Die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch hat konkrete Vorstellungen.

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FURCHE: Angesichts wachsender Arbeitslosigkeit, der Etablierung neuer Technologien in fast allen Wirtschaftsbereichen und einer Welt, in der die Arbeit tendenziell weniger wird, muß wahrscheinlich die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Arbeit neu gestellt und neu definiert werden.

JEANNE HERSCH: Im Lauf der Geschichte war das Verhältnis der Menschen zur Arbeit vielen Wandlungen unterworfen. Sei es durch die Produktionsbedingungen, sei es durch das Wesen der Arbeit. Aber die grundlegendste Veränderung gab es mit dem Beginn des industriellen Zeitalters, als der Mensch mehr und mehr die Beziehung zu dem verlor, was er eigentlich herstellte.

FURCHE: ... also von seiner Arbeit entfremdet wurde?

HERSCH: Bei der Arbeit im heutigen Sinn geht es meist nicht mehr um den zu produzierenden konkreten Gegenstand, sondern um das Geld, das dabei verdient wird.

FURCHE: Was ist daran so schlimm?

HERSCH: Weil das Geld zur Entfremdung von der Arbeit beiträgt. Sie wird schon von vielen Menschen als Zwang empfunden, und der ganze Lebenssinn wird in die Freizeit verlegt.

FURCHE: Der Lebenssinn des Menschen ist von der Arbeit ab-

,,Der Mensch muß lernen, in seiner Arbeit Sinn zu sehen” hängig?Er könnte doch auch woanders, beispielsweise in den zwischenmenschlichen Beziehungen, vermittelt werden. In der Familie, bei Freunden, im Religiösen...

HERSCH: Selbstverständlich gibt es andere Quellen für Lebenssinn. Aber es geht doch um etwas anderes. Es geht darum, daß die Menschen fühlen, daß sie eine Einheit sind. Sie leiden darunter, daß sie sich zweiteilen müssen: zweiteilen in einen arbeitenden und in einen die Freizeit genießenden Menschen. Natürlich gibt es etliche Berufstätige, die sich bis in die Freizeit hinein mit ihrem Beruf identifizieren. Aber das sind die wenigen glücklichen Ausnahmen, Privilegierte gewissermaßen.

FURCHE: Diese Teilung des Menschen ist folglich unmenschlich, widerspricht der Natur des Menschen. Gibt es heute überhaupt eine Möglichkeit, diese Inhumanität zu überwinden?

HERSCH: Indem der Mensch lernt, auch in seiner Arbeit sinnvoll gegenwärtig zu sein.

FURCHE: Heißt das, daß jeder Arbeitende in jeder Arbeitsleistung einen Sinn finden kann? Wie verhält sich das aber beispielsweise mit Menschen, die bei der Müllabfuhr, der Kanalreinigung, bei Strafgefangenen tätig sind? Das ist alles sicherlich für die Gesellschaft sehr nützlich, wird aber wahrscheinlich von denjenigen, die diese Arbeit ausführen, als Last empfunden. Wie wollen Sie diesen Arbeitenden eine Arbeitsbefriedigung oder gar Sinn vermitteln?

HERSCH: Bei manchen unentbehrlichen Arbeiten bleibt allerdings nur mehr als Genugtuung und als Sinn, daß sie einen Dienst am Mitmenschen verrichten. Der Arbeitende kann sich mit seiner Arbeit sicher nicht identifizieren. Solche schweren und unbeliebten

Jeanne Hersch: Arbeit ist heute mehr Lastals Lust (Foto Zugmann)

Arbeiten müssen eben viel besser bezahlt werden, oder man verkürzt die Arbeitszeit.

FURCHE: Unser Sozialminister zum Beispiel und die Gewerkschaften hoffen, die steigende Arbeitslosigkeit durch eine generelle Kürzung der Arbeitszeit in den Griff zu bekommen. So soll das sozialpolitische Ziel der Vollbeschäftigung erreicht werden.

HERSCH: In diesem Zusammenhang gäbe es noch viele Aspekte, die man in Betracht ziehen muß. Zum ersten die Neigung, im Sinne dieses Zieles „Vollbeschäftigung” einfach künstlich Arbeit zu schaffen, einfach um Menschen zu beschäftigen.

Vielleicht könnten aber in den neuen Technologien, die oft als arbeitsplatzvernichtende Mittel kritisiert werden, Chancen liegen, wenigstens teilweise Probleme zu lösen. Nämlich Arbeitsplätze beschaffen und den Menschen wieder mehr Sinn in der Arbeit vermitteln.

Durch die Einführung der neuen Technologien in allen Bereichen der Arbeit wird man vielleicht immer weniger Arbeitszeit brauchen, um die gleiche Menge an Produkten herzustellen wie heute. Das kann zwei Konsequenzen haben. Entweder man kürzt tatsächlich drastisch die Arbeitszeit, oder es arbeiten viel weniger Menschen bei gleicher Wochenarbeitszeit.

FURCHE: Davor fürchten sich die Gewerkschafter und dagegen kämpfen sie mit allen Mitteln...

HERSCH: Gerade hier liegen aber die Möglichkeiten. Wenn die Produktivität mit Hilfe neuer Techniken stark steigt, dann entsteht in der Gesellschaft ein Reichtum, der es wieder ermöglicht, die Arbeit der menschlichen Hand, die etwa vor zweihundert Jahren verschwunden ist, wieder aufleben zu lassen.

FURCHE: Wer kann sich das leisten?

HERSCH: Der Staat könnte hier mit Subventionen helfen, um

„Es könnte eine Renaissance der Einheit von Arbeit und Freizeit geben” diese Arbeit anständig zu bezahlen, und sie einer größeren Zahl Menschen zu ermöglichen. Das könnte eine Renaissance der Einheit von Arbeit und Freizeit bedeuten.

FURCHE: Das heißt, wir könnten in eine Richtung gehen, die uns schon von den sogenannten Aussteigern und Alternativen vorgelebt wird. Sie betreiben Kunsthandwerk, töpfern, züchten Schafe...

HERSCH: Ich bin gegen einen radikalen Abbau der Industrien und der Technik, wie es in manchen utopischen Vorstellungen propagiert wird. Ich glaube, daß es möglich sein könnte, verschiedene Arbeitsorganisationen nebeneinander existieren zu lassen.

FURCHE: Und wer entscheidet, welcher Mensch töpfern darf und welcher am Bildschirm sitzen muß?

HERSCH: Das können nicht die Politiker, die Gewerkschafter oder sonst wer von oben verordnen. Ein entsprechendes Bewußtsein kann nur durch eine breite Diskussion aller Möglichkeiten entstehen. Und da bin ich optimistisch.

Jeanne Hersch ist Professorin für Philosophie. Sie erhielt mehrere Gastprofessuren in den USA und in Kanada und ist seit 1976 Mitglied der nationalen schweizerischen UNES-CO-Kommission. In ihren Publikationen beschäftigt sie sich mit Grundproblemen der Philosophie. Das Gespräch führte Elfi Thie-

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