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Digital In Arbeit

„Die Basis mehr direkte will nicht Demokratie“

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Sollen Gewerkschaftsmitglieder mehr mitreden dürfen? Ist eine Art Quotenregelung auch für den ÖGB denkbar? Wie gefährlich ist die Ausländerfeindlichkeit wirklich?

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Sollen Gewerkschaftsmitglieder mehr mitreden dürfen? Ist eine Art Quotenregelung auch für den ÖGB denkbar? Wie gefährlich ist die Ausländerfeindlichkeit wirklich?

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FURCHE: Europaweit gibt es einen Rückgang an Gewerkschaftsmitgliedern, auch die „blue collars“ werden tendenziell weniger. So hatte beispielsweise die Edelstahlindustrie vor zehn Jahren noch 20.000 Beschäftigte, jetzt sind es nur mehr 10.000. Müssen die Gewerkschaften ihr Selbstverständnis ändern?

SEPP WILLE: An unserem derzeitigen Selbstverständnis wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Nach wie vor werden wir für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen unserer Mitglieder kämpfen. Verstärkt müssen wir uns in Zukunft aber bemühen, dieses Apartheidsystem innerhalb der Gewerkschaften aufzuheben. Die strikte Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten empfinde ich als kraße soziale Diskriminierung. Weiters werden wir um die Verkürzung der Arbeitszeit kämpfen und um eine Pensionsreform, die für keine Gruppe eine Schlechterstellung bringt.

FURCHE: Gibt es seitens der Basis überhaupt einen Druck zu solchen gravierenden Forderungen wie Verkürzung der Arbeitszeit?

WILLE: Bei den organisierten

Mitgliedern verspüren wir kaum einen massiven Wunsch, oft sogar das Gegenteil. Meist argumentieren die Beschäftigten dort genauso wie die Unternehmer und warnen vor einer sinkenden Wettbewerbsfähigkeit. Diese betriebswirtschaftliche Sicht unserer Mitglieder finde ich verständlich, aber als Gewerkschaft müssen wir volkswirtschaftlich denken. Und wenn bei wachsender Wirtschaft die Arbeitslosigkeit steigt, dann kann das für uns nur die Verkürzung der Arbeitszeit und damit Aufteilung der Arbeit auf alle Arbeitswilligen bedeuten.

FURCHE: Dieser Akt der Solidarität bringt doch nicht so einfach den gewünschtenEffekt. Viele kleinere Betriebe können keine zusätzlichen Arbeitskräfte einstellen, weil die Lohnkosten zu hoch sind. Keine Gewerkschaft hat aber bis heute erklärt, auf Lohnerhöhungen zugunsten von Arbeitsplätzen für andere verzichten zu wollen.

WILLE: In anderen Ländern wie der Bundesrepublik sind die Lohnkosten weitaus höher als hier. In Österreich fressen die Löhne kein Unternehmen auf. Jene Unternehmer, die ihren Betrieb gut führen und wettbewerbsfähig sind, die leben noch immer recht gut, und ein schwaches Unternehmen wird immer Probleme haben.

FURCHE: Es herrscht derzeit Einigkeit zwischen den Spitzen der beiden Großparteien, daß einschneidende Sanierungsmaßnahmen nötig sein werden, soll Österreich wirtschaftlich überleben. Was bedeutet das für die wettbewerbsorientierten Industrien? Für die VOEST-Ar-beiter ist man ja nicht auf die Barrikaden gestiegen. Wird diese Haltung beibehalten?

WILLE: Man wird uns nicht ernsthaft vorwerfen wollen, jenen Modernisierungsschub verhindert zu haben, von dem jetzt wieder so viel geredet wird. Seit Jahren hört man, daß sich die Stahl- oder die Fahrzeugindustrie den geänderten Marktbedingungen anpassen muß. Daß das bis heute nicht passiert ist, liegt nicht an uns. Die Gewerkschaften sind jetzt eine billige Ausrede. Wer mit schlüssigen Konzepten kommt, dem helfen wir auch, denn gesunde Betriebe sind auch in unserem Interesse. Aber sicherlich können die Gewerkschaften in Zukunft nicht mehr so viele Forderungen stellen wie bisher.

FURCHE: Seit Jahren wird die mangelnde Basisdemokratie im ÖGB beklagt. Wäre es nicht auch für diese Organisation wichtig, den modernen Tendenzen Rechnung zu tragen? So wäre es doch beispielsweise viel demokratischer, wenn die Mitglieder direkt ihren Vorsitzenden wählen und nicht der Gewerkschaftstag.

WILLE: Ich frage mich, was das für einen Sinn hätte? Es gibt doch in Österreich jeden Augenblick Wahlen, und jetzt sollen die Leute auch noch ihren Gewerkschaftsvorsitzenden wählen? Außerdem, wen sollen sie schon wählen? Es würden nur Millionen für Wahlkämpfe ausgegeben für ein Ergebnis, das ohnehin nicht viel anders aussehen würde als jetzt. Bei meiner Gewerkschaft verlangt jedenfalls so etwas niemand ernsthaft.

FURCHE: Denkt man auch nicht daran, die Mitglieder wie in anderen Ländern über Lohnforderungen abstimmen zu lassen?

WILLE: Was bringt das? In Ländern, wo direkt abgestimmt wird, ist die Organisationsdichte nicht so hoch wie bei uns. Sie beträgt dort vielleicht 30 Prozent, bei uns 85 Prozent. Die Praxis in diesen Ländern hat gezeigt, daß

an solchen Urabstimmungen vielleicht fünfzig Prozent der Mitgliederteilnehmen. So etwas ist ja bloß eine Verzerrung der Demokratie.

Außerdem muß man zur Kenntnis nehmen, daß ein Großteil der Arbeitnehmer aus politisch nicht interessierten Menschen besteht. Ihnen ist vielleicht derzeit lieber, ihr Haus fertig zu bauen. Diese Menschen sind damit zufrieden, daß sich die Betriebsräte um ihre Angelegenheiten kümmern. Warum also sollen sie sich an einer Arbeit beteiligen, die ohnehin ein anderer für sie macht?

FURCHE: Also soll es auch in Zukunft keine Anreicherung des ÖGB mit Elementen der direkten Demokratie geben?

WILLE: Im politischen Bereich bin ich dafür, im gewerkschaftlichen besteht derzeit kein Grund.

FURCHE: Gibt es auch keine Ansätze zu einer Art Quotenregelung, um Frauen mehr Chancen für Gewerkschaftsfunktionen einzuräumen?

WILLE: So etwas steht derzeit überhaupt nicht zur Diskussion.

FURCHE: Wollen die Frauen nicht?

WILLE: Wir hätten gerne mehr weibliche Betriebsräte, aber es bieten sich nur wenige an.

FURCHE: Wie sehen Sie die Affäre um den deutschen gewerkschaftseigenen Wohnbaukonzern „Neue Heimat“?

WILLE: Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Offensichtlich haben die deutschen Gewerkschaften die Grenzen ihrer Möglichkeiten übersehen. Auch wir haben, wenn auch in ganz kleinem Umfang, ähnliche Probleme, unter anderem mit einigen unserer Urlaubsheime. Es ist aber nicht so, daß wir Geld für die Gewerkschaftskasse brauchen, wie einige Medien vermuten. Wir wollen einfach schlechter gehende Betriebe verkaufen.

FURCHE: Soll das Privatisierung im Sinne der Gewerkschaften sein?

WILLE: Hier soll die Privatisierung, von der wir doch immer reden, wirksam werden.

FURCHE: Ein anderes Problem: Wieso haben Ende November Gewerkschaftsfunktionäre am Kongreß der offiziellen Gewerkschaft Polens in Warschau teilgenommen? Sind Österreichs Gewerkschaften nur mehr auf Seiten der Herrschenden?

WILLE: Erstens fuhren ohnehin nur, um es höflich auszudrük-ken, Funktionäre der mittleren Ebene nach Polen. Und zweitens wollten wir uns durch die Kontakte mit den offiziellen Vertretern davor hüten, eine Entwicklung für die „Solidarnosc“ herbeizuführen, die wir am Ende nicht hätten unterstützen können. So sehr wir uns immer schon für soziale Bewegungen oder Freiheitskämpfer eingesetzt haben, so sehr mußten wir uns in diesem Fall unserer Verantwortung bewußt sein.

FURCHE: Gibt es auch Kontakte zu anderen kommunistischen Gewerkschaften?

WILLE: Wir haben sehr gute Beziehungen zu unseren ungarischen, sowjetischen und polnischen Freunden, weniger gute zu den tschechischen Gewerkschaften. Für uns war immer .wichtig, nicht am- gewerkschaftlichen Mauerbau mitzuwirken, sondern die Kontakte aufrechtzuerhalten.

FURCHE: Vermitteln Sie Ihr ,J£now-how“ auch an Gewerkschaftsbewegungen in der Dritten Welt?

WILLE: Im internationalen Metallgewerkschaftsbund sind zwar auch solche aus der Dritten Welt vertreten, aber viele Kontakte haben wir nicht. Das liegt sicherlich daran, daß sie sich genauso wie ihre Industrien nur langsam entwickeln. Außerdem haben vor allem die Länder Afrikas engere Verbindungen zu ihren ehemaligen Kolonialländern wie Frankreich oder Italien. Wir haben halt, historisch bedingt, mehr Beziehungen zum Ostblock.

FURCHE: Gerade in Ländern wie Frankreich macht sich steigende Ausländer- und Gastarbeiterfeindlichkeit bemerkbar, und radikale Politiker wie Le Pen haben starken Zulauf. Befürchten Sie für Österreich so etwas auch, und wie solidarisch werden sich dann die Gewerkschaften verhalten?

WILLE: Bei uns haben sich die türkischen und jugoslawischen Arbeitnehmer so gut eingelebt, daß es hier überhaupt keine Ausländerfeindlichkeit gibt. Wenn es um die berufliche Existenz geht, dann wird der Konkurrenzkampf eben immer härter, das hat gar nichts mit Ausländern zu tun. Außerdem werden natürliche Aggressionen dramatisiert. Die gibt es doch auch zwischen Sozialisten und Konservativen und umgekehrt. Ich sehe hier keine Gefahr.

Mit dem Klubobrnanri der SPD und Vorsitzenden der Gewerkschaft Metall-Bergbau-Energie sprach Elfi Thiemer.

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