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Aus den Angeln heben

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Die nördlichsten Provinzen Italiens, Triest, Gorizia, Udine, Venezia Giulia. waren bisher die politisch ruhigsten. Sie sind es auch, in denen die Democristiani den größten politischen Einfluß besitzen. Streikwellen,: die Italien wie der Gezeitenstrom des Meeres, nur eben etwas unregelmäßiger, überfluten, erreichten hier keine besondere Gewalt, viele davon verebbten schnell.

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Die nördlichsten Provinzen Italiens, Triest, Gorizia, Udine, Venezia Giulia. waren bisher die politisch ruhigsten. Sie sind es auch, in denen die Democristiani den größten politischen Einfluß besitzen. Streikwellen,: die Italien wie der Gezeitenstrom des Meeres, nur eben etwas unregelmäßiger, überfluten, erreichten hier keine besondere Gewalt, viele davon verebbten schnell.

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Das beginnt sich nun deutlich zu verändern. Die Häfen von Triest und Venedig sind für Spediteure und Schiffsunternehmen zu einer „Hölle an Ungewißheit“ geworden: einmal streiken die Verladearbeiter, dann wieder die Zubringerdienste, dann die Schiffsbesatzungen. Zumeist halbtagsweise. An manchen Tagen ist das Chaos perfekt. Die Schläge sind für die „sterbende Hafenstadt“ Triest kaum noch zu verkraften. Auch wenn's „immer irgendwie geht, wie, das ist ein Wunder!“

Die Anlaßfälle sind zumeist gering: da eine angeblich oder wirklich „ungerechtfertigte Entlassung“, dort ein Lohn- oder Zulagenstreik zumeist wegen lächerlicher Beträge, oft geht es auch nur um irgendeine spezielle Art von „Mitbestimmung“.

Doch das gilt nur für die „kleinen Wellen“. Jetzt rollen auch die „großen Wogen“ heran. Und da geht es um mehr. Nicht mehr um lokale Zwistigkeiten an Arbeitsplätzen, spezielle „Modellfälle“ sondern um die ganz große Politik. Entweder es wird aus „Protest gegen den Neofaschismus“ gestreikt — der eb%n daraus paradoxerweise seine nahrhafteste Nahrung zieht! — oder „um die Regierung zu einer neuen Wirtschaftspolitik“ zu zwingen und natürlich auch zu einer „neuen Sozialpolitik“.

Das Lizitationskarussell dreht sich wie rasend: christliche, sozialdemokratische und andere, meist kleinere Gewerkschaften, versuchen da und dort an Radikalität noch die größte, die kommunistische Gewerkschaft, zu übertreffen. Und wo sie das gar nicht erst versuchen, schließen sie sich der kommunistischen Initiative zumeist an. Tun sie das zunächst nicht, so geben sie ihr alsbald» wenn auch widerwillig nach. Denn sie brauchen jetzt mehr als je zuvor ihre Mitglieder, womöglich sogar noch etliche dazu. Man sinnt nämlich über das „Modell einer Einheitsgewerkschaft“ nach und da wird es auf die Stärke der jeweiligen Fraktionen ankommen, wie diese Einheitsgewerkschaft schließlich aussehen wird.

Kenner der Verhältnisse wissen, was das bedeutet: Am Ende wird diese Einheitsgewerkschaft zwar nicht ein offizieller Verbündeter der kommunistischen Opposition sein, dennoch aber von dieser so entscheidend beeinflußt, daß diese sich der Gewerkschaft womöglich noch besser — und sogar weniger augenscheinlich! — bedienen wird können. Was dann als „neue Wirtschaftspolitik“ formuliert wird, was dann als „neue Sozialpolitik“ zu gelten hat, wird nicht mehr Gegenstand einander oft erbittert bekämpfender gewerk-schafts-politischer Rabulistik sein, die eben dadurch um ihren Erfolg gebracht wird, sondern ein „einheitlicher Wille der Arbeiterschaft“, natürlich „völlig unabhängig“ vom speziellen politischen Willen jedes einzelnen Mitgliedes, denn die Einheitsgewerkschaft, beziehungsweise ihre Propheten, sprechen ja davon, daß sie „streng überparteilich“ sein wollen.

Wer nicht zur Euphorie neigt, weiß schon jetzt, daß in diesem Prozeß der Formulierung die auch zahlenmäßig überlegenen Kommunisten, die zudem weder auf das bestehende parlamentarische System, das sie im Grunde ablehnen, noch auf Gesin-nungs- und Parteifreude in der Regierung, der sie nicht angehören, Rücksicht nehmen müssen, den Ton angeben werden.

Zu jeder anderen historischen Stunde wäre Italien mit einer Einheitsgewerkschaft besser gedient gewesen — jetzt zieht mit dieser eines der größten Probleme herauf: die kommunistische Opposition greift dann mit zwei Armen nach der Macht. Ja, sie muß gar nicht erst in deren vollen Besitz gelangen, um den Großteil der gewünschten Veränderungen sozusagen nicht von der Straße, sondern vom viel reputier-licheren Arbeitsplatz her durchzudrücken, so ist es keine Panikmache, wenn Christdemokraten, Sozialdemokraten und andere nichtkommunistische Politiker sehr offen darüber reden, daß es vielleicht noch nie so sehr wie hier und jetzt der Fall gewesen ist, daß sich eine kommunistische Opposition auf völlig legale Weise zunächst an die eigentliche und dann auch an die wirkliche Macht taktiert.

In kommunistischen Gewerkschafts- und Parteikreisen hat man sich dazu eine neue Strategie ersonnen, die auch anderswo, zum Beispiel in Frankreich, angewendet wird. Man ist nicht mehr „gegen die EWG“. Man akzeptiert sie sogar. Doch will man sie, das heißt die in ihr organisierten Gesellschaften „von innen heraus“ umgestalten. Damit gerät der italienische Kommunist aus der Sichtweite des Verdachtes, gegen Europa zu sein oder gegen den nur mit den anderen europäischen Staaten zu organisierenden Industrialisierungs- und Wohlstandsprozeß. Auch die Kritik an der NATO, bisher ein Nonplusultra aller kommunistischer Agigation, wird milder und leiser. Gewöhnlich hört man von Kommunisten, das sei jetzt ein Problem, das auf der Sicherheitskonferenz ohnehin „erledigt werden wird“; es lohne sich daher der agitatorische Aufwand nicht mehr.

Besieht man, was unter „neuer Wirtschaftspolitik“ zu verstehen ist, so tritt ziemlich unverhüllt ein Sozialismus jener Art zutage, den Tito einst in Jugoslawien praktizierte. „Ein klassisch sowjetisches Modell wäre anachronistisch“, kann man hören, EWG und COMECON, West-Europa und die östliche, sozialistische Hälfte sollten vielmehr nach dem System der allmählichen Konvergenzen „zusammenwachsen“. Wobei unausgesprochen bleibt, daß die „Abstriche vom Gewohnten“ weit mehr beim Westen als beim Osten liegen sollen, doch wird das sofort deutlich, wenn die Kommunisten von den „unverrückbaren Zielen“ des Sozialismus sprechen, die, weil sozusagen wissenschaftlich fundiert, vernünftigerweise auch nicht verändert werden könnten.

Im Süden Italiens hat die Schwächlichkeit der herrschenden Parlamentsparteien und ihre offenkundige Unfähigkeit, das kommunistische Modell durch einleuchtende Alternativen zu entzaubern, dazu geführt, daß sich als Anti-Reaktion der Neofaschismus der MSI breitmachen konnte. Im Norden, wo die Dinge anders liegen, drohen nun die Streikwogen den festen Boden wegzuspülen. Sie erzeugen eine Art „Fatalismus der Unzufriedenheit“ und ein „politisches Reizklima“, in welchem jene, die auf radikale Veränderungen aus sind, sehr oft attraktiver wirken als jene, die beharren und bewahren wollen.

Einst gehörte es zur Taktik der immer noch staatsführenden Democristiani, die in ihrem Herzen durchaus römisch-zentralistisch gesonnen sind, durch diverse Autonomie-Projekte zu dezentralisieren. Dies in der Hoffnung, der erst in einigen wenigen Provinzen wirklich durchbrechende Kommunismus könnte so einerseits isoliert, anderseits von Rom ferngehalten werden. Nun aber erweist sich die Schwäche des Autonomismus (von Föderalismus zu sprechen wäre Blasphemie) in „sozialen Krisenzeiten“. In taktische Scharmützel auf vielen Einzelschauplätzen verheddert, fehlen ihm die Kenntnisse und sehr oft auch die Möglichkeiten, sich zu einer großen und allgemeinen Aktion aufzuraffen.

Wird es gelingen, Italien „aus den Angeln zu heben“? Die KPI ist zuversichtlicher denn je, gibt sich besonnen, ja, staätsmännisch und verspricht das Ende aller lästigen Wirren mit dem Aufkommen ihrer „neuen Politik“. Zugleich sorgt sie via Gewerkschaft dafür, daß die „alte Politik“ um ihre Erfolge gebracht wird oder doch ständig darum bangen muß.

„Die anderen“, wenn man von den „Misinis“ absieht, warten zu oder auch nur ab und hoffen darauf, daß sich die Wogen glätten und die maßvollen Reformen sich ausbreiten können. Doch daß es irgendwann zur „großen Konfrontation“ kommen könnte, damit rechnet eigentlich jeder. Jetzt auch schon im Norden. Ein Triestiner sozialdemokratischer Gewerkschafter formulierte das so: „Italien wird man aus den Angeln heben müssen, denn aus den Angeln fallen wird es nicht.“ Gerade darauf aber, daß es kraftlos aus den Angeln fällt, so meint er, spekuliere die KPI. Weshalb die Sache mit der Einheitsgewerkschaft noch überlegt werden müsse. Sie sei zwar ein schönes Ziel — „aber zur Zeit ist es nicht die Zeit dafür...“

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