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Neuorientierung in einer turbulenten Zeit

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Osteuropa ist durch niedrige Arbeitskosten zu einer empfindlichen Konkurrenz geworden. Wie lange das so bleiben wird, hängt davon ab, ob und wann die dortigen Gewerkschaften Lohnforderungen und Sozialleistungen durchsetzen können.

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Osteuropa ist durch niedrige Arbeitskosten zu einer empfindlichen Konkurrenz geworden. Wie lange das so bleiben wird, hängt davon ab, ob und wann die dortigen Gewerkschaften Lohnforderungen und Sozialleistungen durchsetzen können.

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Die Visegradstaaten Osteuropas -Polen, Tschechien, die Slowakei und neuerdings auch Slowenien - sind auf vielen Sektoren eine empfindliche Konkurrenz der österreichischen Wirtschaft geworden. Maßgebend dafür sind unter anderem die extrem niedrigen Arbeitskosten. Ist hier in absehbarer Zeit eine Änderung zu erwarten? Sicherlich hängt dies in hohem Maße von Wirtschaftsleistung und Produktivitätssteigerung ab, doch auch von der Stärke der Gewerkschaften, Lohnforderungen und Sozialleistungen durchzusetzen. Ein Vergleich der Gewerkschaftsstruktur dieser Reformländer macht die Unterschiede deutlich.

Polen: Dort hat die Gewerkschaftsbewegung „Solidarität” des heutigen Staatspräsidenten Lech Walesa fast das ganze Volk im Kampf gegen den Kommunismus und für die Unabhängigkeit von Moskau vereint. Solidarnosc zählte zeitweise bei einer Bevölkerungszahl von knapp 39 Millionen bis zu zehn Millionen Mitglieder. Heute ist Solidarnosc umstritten'. Sie steht nach Meinung von Kritikern für den Großteil der Wähler entweder zu weit links oder zu weit rechts. Tatsache ist, daß sich die Gewerkschaftsbewegung heute stark für Privatisierung, Änderungen des Steuersystems, Sozial- und Gesundheitsreformen, Veränderungen der Landwirtschaftspolitik und

Steigerung der staatlichen Waffenkäufe einsetzt. Ihr derzeitiger Präsident, Marian Krzaklewski, sieht sie nicht nur als Gewerkschaft, sondern als Massenbewegung, die sich in Politik, Sozial- und Gemeinwesen engagieren soll.

Tschechien: Dort stehen die Gewerkschaften einer Regierung gegenüber, deren Ministerpräsident Vaclav Klaus eine Marktwirtschaft ohne Adjektive propagiert und durch eine etwas abgeschwächte Praxis mit einer bisher breiten Zustimmung in der Bevölkerung rechnen kann. Zwar ist derzeit die Bedeutung der Gewerkschaften im Vergleich zu anderen Ländern relativ gering, doch sollte ihre Rolle hinsichtlich der bisherigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Stabilität in diesem Land nicht unterschätzt werden. Seit der Wende 1989 gab es in der Tschechischen Republik bis heute keinen Streik, die Streikandrohungen in jüngster .Vergangenheit (Eisenbahn, Lehrer, Unternehmen VW-Skoda) konnten dank der Dialoge und Kompromisse in der Triparität (Regierung, Gewerkschaft, Arbeitgeber) abgewendet werden. Weiters hat man erst vor kurzem den sozialen Frieden in der Tschechischen Republik zu einem der wichtigsten Ziele erklärt. Es scheint, daß man dem österreichischen Weg der Sozialpartnerschaft folgen will.

Slowakei: Dort haben die Gewerkschaften eine jahrzehntelange Tradition, doch ist ihr Einfluß nach der Wende 1989 geringer geworden. Die „Konföderation der Gewerkschaftsverbände” vereinigt als Dachorganisation derzeit 43 Branchenverbände, die zur Zeit etwa 1,4 Millionen Mitglieder zählen - im Jahre 1990 waren es noch zwei Millionen. Dieser Rückgang ist zweifellos auch auf die aktuellen Umstrukturierungen in zahlreichen Betrieben zurückzuführen. Die Gewerkschaften sind Teil der bestehenden sogenannten Triparität, die gemeinsam mit der Regierung und den Arbeitervertretungen einige Male im Jahr vor allem arbeitsrechtliche und sozialpolitische Fragen behandelt. In den letzten Monaten sind die Gewerkschaften aktiver geworden; sie sind mit der sozialen Entwicklung (insbesondere Budgetkürzungen bei Sozialausgaben) unzufrieden und beklagen, daß sie bei Gesetzesentwürfen übergangen wurden.

Ungarn: Die ökonomisch schwierige Situation und die Notwendigkeit weiterer Sparmaßnahmen nach empfindlichen, von der Regierung Horn beschlossenen Einschränkungen läßt eine härtere Haltung der Gewerkschaften erwarten. Dies war auch auf dem Kongreß des Landesverbandes der ungarischen Gewerkschaften (MS-ZOSZ) zu hören, der eine Million Mitglieder zählt und neben acht kleineren Gewerkschaftsbverbänden fast alle Bereiche der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens erfaßt. Daneben sind das Kooperationsforum der Gewerkschaften, das insbesondere den öffentlichen Dienst abdeckt, der Autonome Gewerkschaftsbund und die Gewerkschaftsliga von größerer Bedeutung. Letztere ist aus einer Initiative intellektueller Kreise entstanden. Die Gewerkschaften kämpfen angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes weniger für eine materielle Verbesserung als gegen die befürchtete Verringerung der Beallöhne von über zehn Prozent im Jahr 1995 und damit gegen die Stabilisierungspläne der Regierung.

Slowenien: Die Gewerkschaftsbewegung ist zersplittert (zirka 30 Organisationen). Die größte unter ihnen ist der Freie Gewerkschaftsbund Sloweniens (ZSSS), der 1990 aus dieser Einheitsgewerkschaft entstand und an die 420.000 Mitglieder hat. Die zweitgrößte Organisation ist die Konföderation der Neuen Gewerkschaften Sloweniens - Unabhängigkeit (KNSSS), in der 14 Gewerkschaften mit 135.000 Mitgliedern vereinigt sind. Der Organisationsgrad ist zwar sehr hoch, nimmt jedoch durch die steigende Bedeutung der kleinen Privatunternehmen ab. Aufgrund des Fehlens einer Einheitsgewerkschaft ist eine Konkurrenzsituation bei der Mitgliederanwerbung gegeben, die mitunter zu einer härteren Haltung gegenüber den Unternehmern führt. Dennoch gelten die Forderungen der Gewerkschaften als mäßig. In gewisser Hinsicht gilt auch hier das österreichische System der Sozialpartnerschaft als Vorbild.

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