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Mythos oder Realität?

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Ausländische Beobachter der österreichischen wirtschaftlichen und politischen Szenerie registrieren mit Verwunderung, daß in diesem Staat, der, in der Zwischenkriegszeit von inneren Zwistigkeiten zerrissen, schließlich in Bürgerkriegen unterging, soziale Konflikte in einer höchst rationalen Art und Weise gelöst werden. Unvermeidlich glaubt man dann, die Lösung des Rätsels in der Existenz der Sozialpartnerschaft und in ihren Institutionen, der Paritätischen Kommission, der Aussprache der Präsidenten, des Preis- und Lohnunterausschusses und des Wirtschaftsbeirates zu finden.

Natürlich hat nicht die Paritätische Kommission den sozialen Frieden geschaffen, sondern sie selbst ist das Ergebnis einer soziologischen Entwicklung und einer bestimmten Wirtschaftsordnung in unserer nachrevolutionären Gesellschaft. Die eine Seite der Paritätischen Kommission ist die ungewöhnlich starke und zen-tralistische Gewerkschaftsbewegung unseres Landes, die andere die Organisation der Unternehmer, die ebenfalls an Zentralisierung in Europa ihresgleichen sucht. In einem privatkapitalistischen System in dem die Gewerkschaftsbewegung ihre Lohnforderungen nur der Unternehmenseite zu präsentieren und mit ihr durchzufechten hat, in dem starke Unternehmungsleitungen privatkapitalistischer Natur gerne ihre eigenen Wege gehen, wäre sowohl eine so stark zentralisierte Gewerkschaftsbewegung, wie auch eine so stark zentralistisch geführte Unternehmerorganisation schwer denkbar.

Nun ist aber die österreichische Wirtschaftsordnung eine gemischtwirtschaftliche und kann nicht nur von der Tatsache her beurteilt werden, daß etwa 35 Prozent der Arbeitnehmer im nichtprivatkapitalistischen Bereich tätig sind, sondern es muß auch bedacht werden, daß die maßgebenden Betriebe und insbesondere die Großbetriebe verstaatlicht oder eben Besitz von verstaatlichten Banken sind. Das gesamte Bankwesen ist im Grunde genommen gemeinwirtschaftlich organisiert und orientiert. Angesichts der grundlegenden Ideologie der Gewerkschaften insbesondere auf lohnpolitischem Gebiet, ist es nicht gut denkbar, daß die einzelnen Gewerkschaften ihre Lohnpolitik ohne Rücksicht auf Konsumenten, auf andere Gewerkschaften oder auch ohne Rücksicht auf Rentner und Pensionisten betreiben. Die Gewerkschaften sind zwar im Prinzip in ihrer Lohnpolitik autonom, aber durch Beschlüsse und langjährige Praxis zur Koordinierung verpflichtet.

Die Bedeutung der Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft für Export, Preispolitik, Wirtschaftsförderung, Berufsausbildung und zahlreiche andere Belange ist so groß, daß sich auch in ihrem Bereich eine Koordinierung aufdrängt. Es liegt auf der Hand, daß zwei so große und mächtige Organisationen in schwerere, sogar staatsgefährdende Konflikte hineingezogen werden könnten, würden sie nicht laufend versuchen, die anstehenden Konflikte ihrer Unterorganisationen, vor allem auf lohnpolitischem Gebiet, immer wieder zu kalmieren und auszuräumen. Schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit, immer wieder eine Gesprächsbasis zu haben; diese Notwendigkeit gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der Zeit des Wiederaufbaus, in der Zeit des Kampfes gegen die Nachkriegsinflation, in der Zeit des Ringens um steigendes Wirtschaftswachstum und um Eingliederung in den Weltmarkt und schließlich in der Zeit des Kampfes gegen die trabende Inflation, deren Beginn der Zusammenbruch des Weltwährungssystems markiert hatte.

Obwohl also die permanente Gesprächsbasis sozusagen eine politologisch und ökonomisch begründete Selbstverständlichkeit ist, ist die Form dieser Zusammenarbeit, das organisatorische Gerüst, und der Ablauf der Verhandlungen, der dazu führte, das Ergebnis einer personellen Konstellation gewesen. Bemerkenswerterweise hat sich die Konstruktion über sämtliche politischen Veränderungen, wie die Ablösung der großen Koalition durch die Alleinregierung der ÖVP, die Errichtung einer Minderheitsregierung der SPÖ und die Alleinregierung der SPÖ, erhalten und hat auch personelle Veränderungen an der Spitze der Institutionen überdauert und den Satz von Clemenceau bewiesen: C'est le provisoire, qui düre.

Freilich sollte man sich mit der Tatsache nicht zufrieden geben, daß vor allem in den letzten Jahren die

Bedeutung des Wirtschaftsbeirats der Paritätischen Kommission zurückgegangen ist, weil in. der Härte der politischen Auseinandersetzungen wenig Raum für eine Koordination der Auffassungen der Wirtschaftspartner zu sein schien. Die Bundeskammer fühlte sich, wahrscheinlich zu Unrecht, in einer schlechten Verhandlungsposition und glaubte, einem Übergewicht von Arbeiterkammer, Gewerkschaftsbund und Regierung am besten durch — wie es im Fußball Jargon heißt — „Mauern“ entgegenarbeiten zu können. Tatsächlich scheint mir aber, daß sie dadurch eine Fülle von Möglichkeiten, stärker auf den Wirtschaftsablauf einzuwirken, vergeben hat. Sie hat aber dadurch auch die Infrastruktur der Paritätischen Kommission erheblich geschwächt, und das ist insoferne bedauerlich und auch bedenklich, als wir doch damit rechnen müssen, daß die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und der unbedingt erforderliche Kampf gegen die noch immer hohe Inflationsrate eine Fülle von Problemen schafft und eine große Belastung für die Institutionen darstellt. Wir werden aber in den nächsten Jahren nichts so dringend brauchen wie starke Institutionen, angefangen mit der Regierung, über die Bundeskammer, bis zum Gewerkschaftsbund, und dazu gehören auch die Institutionen der freiwilligen Zusammenarbeit der Wirtschaftspartner.

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