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Selbstverwirklichung in einer freien Gesellschaft

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Zur Zeit wird innerhalb der Handelskammerorganisation ein Grundsatzprogramm beraten, mit dem erstmals in der Zweiten Republik eine langfristige Konzeption für die Gesellschaftspolitik aus der Sicht der gesetzlichen Interessenvertretung der Wirtschaft versucht wird. Gerade in dieser Zweiten Republik sind die großen Wirtschaftsorganisationen neben den politischen Parteien zu wichtigen Trägern des politischen Entscheidungsprozesses geworden. Das politische System unseres Landes wird immer mehr auch durch Elemente der Verbändedemokratie bestimmt. So gesehen kommt einem derartigen Grundsatzkonzept weit über die davon unmittelbar betroffenen Interessenvertretungen Bedeutung zu.

Bedeutsam erscheint am vorliegenden Entwurf dieses Grundsatzkonzeptes der Versuch, ein bestimmtes Menschenbild zugrunde zu legen. Gedanklicher Ausgangspunkt ist „das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung in einer freien Gesellschaft“: Darin wird eine entscheidende Antriebskraft gesehen, die allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommen soll. Es geht um die Schaffung von Anreizen für den persönlichen Einsatz, letztlich darum, „Lernfähigkeit, Information und Initiative jedes einzelnen Mitgliedes der Gesellschaft“ zu gewährleisten. Die Chance zur Mitgestaltung an dieser Gesellschaft setzt den kritischen und engagierten Menschen voraus, der bereit ist, seine Fähigkeiten auf allen Ebenen des politischen und gesellschaftlichen Lebens voll einzusetzen.

Die Bejahung der Wettbewerbswirtschaft und insbesondere der sozialen Marktwirtschaft ist bei diesem gedanklichen Ausgangspunkt eine selbstverständliche Folge. Das Grundsatzprogramm geht aber darüber hinaus: Ungleiche Einkommensund Machtverteilung sollen nicht dazu führen, bestimmten Personen einen Vorsprung in der Ausbildung und im Berufsleben zu sichern; einmal errungene Machtpositionen sollen nicht mißbraucht .werden können. Die große Bedeutung des Privateigentums wird nicht zuletzt in der Chance einer besseren Verantwortungszurechnung auch im Unternehmen gesehen, darüber hinaus in der gesellschaftlichen Funktion der Substanzerhaltung. Hier und an anderen Stellen versucht das Grundsatzkonzept, Fortschritt und Strukturwandel in dynamischer Kontinuität zu verbinden.

In der Beurteilung des politischen Systems und seiner zukünftigen Erfordernisse vejrąt 14?, Qmttdsąt?Brd- gramm starken Realismus. Der gesellschaftspolitische Mitbestimmungsanspruch der Handelskammerorganisation wird durch die These erhärtet, daß die Stabilität des politischen Systems heute in jenen Staaten, die über eine marktwirtschaftliche und demokratische Steuerung des Gesellschaftsprozesses verfügen, entscheidend von den großen Verbänden mitbestimmt wird.

Gerade für Österreich gilt dies zweifellos durch das sozialpartnerschaftliche System. Der Vorteil der freiwilligen Zusammenarbeit der Verbände wird nicht zuletzt in einem gewissen Machtausgleich gesehen. Gerade die Sozialpartnerschaft soll auch die Chance ermöglichen, zum wachsenden staatlichen Zentralismus und zur zunehmenden Unübersichtlichkeit einzelner Verantwortungsbereiche Gegenkräfte zu entwickeln. Insbesondere gegenüber einer einseitigen Machtkonzentration bei der Regierung könne das sozialpartnerschaftliche System machtausgleichend wirken.

So erwachse den großen Interessenvertretungen auch die Aufgabe, Fehlentwicklungen aufzuzeigen, die sich durch Machtkonzentrationen ergeben. Gerade das sozialpartnerschaftliche System soll auch Grundlagen für eine längerfristige Wirtschaftspolitik sicherstellen, ächon heute leisten die Wirtschaftsverbände in vielen Bereichen Beiträge für die staatliche Entscheidungsfindung und dezentralisieren damit den politischen Steuerungsprozeß. In diesem Zusammenhang wird auf die konfliktmindernde Wirkung der Kontakt- und Informationsfunktion zwischen Regierung und Sozialpartnern hingewiesen.

Kritische Beurteiler der österreichischen Sozialpartnerschaft neigen oft dazu, in ihr eine Verstärkung der Tendenz zum staatlichen Zentralismus zu sehen. Demgegenüber betont das Grundsatzkonzept der Handelskammerorganisation, daß das marktwirtschaftliche System mit dem Grundsatz der Dezentralisation von Entscheidungen auch bei starker Verankerung der Sozialpartnerschaft ein Bekenntnis zum Föderalismus erforderlich mache. Es wendet sich gegen eine Verbreiterung der gesamtstaatlichen

Kompetenz gegenüber der der Bundesländer.

Überraschend stark ist die Betonung des Prinzips der Stabilität. Darunter wird weit mehr als die Geldwertstabilität verstanden: Diese scheint als wichtige Voraussetzung für geordnete wirtschaftliche und soziale Verhältnisse. Die Ziele1 der breiten Eigentumsstreuung, der Eigenkapitalstärkung und der Festigung einer mittelständischen Gesellschaftsstruktur sind längerfristig nur bei konsequenter Berücksichtigung eines darüber hinausgehenden gesellschaftspolitischen Stabilitätszieles zu verwirklichen. Zur Erhaltung einer stabilen politischen Ordnung kann auch das sozialpartnerschaftliche System mit der Sicherstellung des sozialen Friedens entscheidend beitragen.

Der Sinn des Grundsatzprogrammes erweist sich darin, nicht zu tagespolitischen Entscheidungen Stellung zu nehmen, immerhin aber längerfristige Zielsetzungen aufzuzeigen, an denen sich letztlich auch die Tagespolitik orientieren kann.

Als Beispiel sei auf die Wechselkurspolitik hingewiesen. Hier wird betont, daß sie nur als Teil einer umfassenden Stabüisierungspolitik verstanden werden kann, d. h., daß sie nicht den Ehrgeiz haben kann, allein die Geldwertstabilität zu gewährleisten. Im Interesse der internationalen Arbeitsteilung soll die Nationalbank einen möglichst liberalen Kurs in der Zahlungsbilanz und Kapitalverkehrspolitik verfolgen und vorübergehend notwendige Restriktionen möglichst rasch wieder abbauen.

Die entscheidende Bedeutung einer ausreichenden Unabhängigkeit der Notenbank wird gerade im Interesse ihres stabilitätspolitischen Auftrages besonders betont. Gerade dieses Beispiel zeigt auch, daß das Grundsatzprogramm der Handelskammerorganisation auch weitgehende Zielsetzungen für andere wirtschaftspolitische Entscheidungsträger aufstellen will.

Manches spricht dafür, daß eine Diskussion über einen derartigen Programmentwurf geeignet ist, einiges zur Bewußtseinsbildung beizutragen. Nicht immer sind es die fertigen Konzepte, denen entscheidende Bedeutung zukommt. Wenn Demokratie Diskussion ist, mag vielleicht das Wichtigste die Auseinandersetzung über jene Grundsatzorientierung sein, die in unserer raschlebigen Zeit Parteien und Verbände oft vermissen lassen.

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