Shareholder Value & shared values

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Wohlstand für möglichst viele, sozialer Ausgleich für die Schwächeren und ein auf Nachhaltigkeit angelegter Umgang mit der Umwelt: Dies waren die Ingredienzien des europäischen Erfolgsmodells, auf die wir nicht vergessen sollten.

Ohne eine Mindestausstattung an gemeinsamen sittlichen Normen kann eine freiheitliche Wirtschaftsordnung nicht arbeiten. Moral, Ethik, Anstand - die Begriffe gehören auf die Agenda." Dieses Zitat stammt keineswegs aus einem Hirtenbrief, sondern vom Chefredakteur des deutschen Manager Magazins, das in einer Titelgeschichte über Wirtschaftsethik den ehemaligen BMW-Chef Joachim Milberg mit der Aussage zitiert hat, Moral sei eine Grundvoraussetzung für unternehmerischen Erfolg.

Tatsächlich wurde der Glaube an das ethische Fundament der entwickelten Wirtschaftssysteme schon lange nicht mehr so erschüttert wie gerade in den letzten Jahren. Wohl nicht zufällig zeitgleich mit dem drastischen Verfall der Börsenkurse seit Frühjahr 2000 wird nun der "Sittenverfall" (so titelte das Manager Magazin) der einstigen Helden des "Shareholder Value" thematisiert. Für Aufregung sorgen nicht nur Berichte über die selbstbedienerische Bemessung von Spitzengehältern für Top-Manager in zahlreichen von der Konjunkturkrise betroffenen Unternehmen. Vor allem der Konkurs des US-Energieriesen Enron, dessen Bilanzen sich als über Jahre hinweg gefälscht herausstellten - noch vor kurzem hätte man dafür den Euphemismus "geschönt" verwendet -, wurde zum Symbol einer Systemkrise des Vertrauenskapitals.

Zahlreiche Anleger, die mit Spekulationen viel Geld verloren haben, entdecken, dass sie nicht nur Pech hatten, sondern bei manchen Emissionen regelrecht hinters Licht geführt wurden. Brisante interne E-Mail-Protokolle mit verächtlichen Aussagen von Wertpapier-Analysten zu riskanten, ja wertlosen Papieren, die sie am selben Tag den Anlegern zum Kauf empfahlen, dienen nun als Gerichtsmaterial in einem Musterprozess gegen Merrill Lynch, eine der größten Investmentbanken der Welt. Wären es nur Einzelfälle, die man nach gerichtlicher Klärung und Verhängung gerechter Strafen ad acta legen könnte, fiele die Beunruhigung nicht so groß aus wie angesichts der Erkenntnis, dass die Erosion des Unrechtsbewusstseins die Grenzen von Gut und Böse in zahlreichen Unternehmen bis zur Unkenntlichkeit verwischt hat.

Das Thema betrifft längst nicht mehr nur die USA sondern auch Europa. Symbolhaft dafür ist der Neue Markt in Frankfurt, jene hoffnungsvolle Technologiebörse, an der zwischen 1998 und 2000 ein regelrechter Emissions-Boom für Goldgräberstimmung sorgte. Zahlreiche unternehmerische Leuchtraketen sind mittlerweile im Feuerwerkshimmel der Millenniums-Hausse verglüht oder so unsanft zu Boden gestürzt, dass sie heute ums Überleben kämpfen müssen.

Beunruhigenderweise ist Europa gerade dabei, auf breitester Front die anglo-amerikanischen Spielregeln der Kapitalmärkte mit ihrer Fixierung auf die simple "Wahrheit" des Börsenkurses unkritisch zu übernehmen. Jahrzehntelang bewährte Bilanzierungsregeln wie die des Handelsgesetzbuches (HGB) werden zugunsten von Regeln wie US-GAAP und IAS zurückgedrängt. Diese mögen weniger gläubigerorientiert sein als das eher konservative HGB, ob sie aber auch wirklich anlegerfreundlicher sind, wie ihre Befürworter argumentieren, ist angesichts massiver, nicht zuletzt durch extensive Bewertungskunst herbeigeführter Anlegerverluste zweifelhaft.

Noch nie wurde soviel über neue Wohlverhaltensregeln in Unternehmen diskutiert wie gerade heute. Unter der Überschrift corporate governance werden feinziselierte Texte ("Codes") erarbeitet, die das Zusammenspiel und die Gewaltenteilung aller für ein Unternehmen Verantwortlichen regeln sollen. Allerdings geschieht auch dies unter unkritischer Übernahme des bis vor kurzem noch als überlegen gehandelten anglo-amerikanischen Gesellschaftsrechtes, so als hätte nicht das bewährte Aktienrecht genügend Substanz, um Wohlverhalten zu garantieren, sofern - ja, sofern eben jenes Mindestverständnis von Anstand bei einem Großteil der Verantwortlichen gelebt wird, den es braucht, damit nicht nur Unternehmen sondern auch Wirtschaftssysteme funktionieren.

Lädiert ist vielfach auch das Vertrauen in den Unternehmen selbst. Wer als Mitarbeiter bei den Top-Managern Verhaltensmuster erlebt, die am medialen Laufsteg der Ich-Aktionäre preiswürdig, im Alltag aber untragbar sind, der tut sich mit der geforderten Loyalität schwer. Wo sich Mitarbeiter als Statisten in prestigebeladenen Schauspielen überschätzter Wirtschaftshelden fühlen, bauen sie schon aus Selbstschutz keine Bindungen zum Unternehmen auf. Und wer an der Länge der pay roll messen zu können glaubt, wieviel ein anderer "wert" ist, darf sich nicht wundern, wenn sein eigenes Selbst-Wertgefühl schwankt wie das zackige Kursbild der Technologiebörsen.

Wertschätzung und Wert-Schöpfung stehen deshalb gerade bei erfolgreichen Unternehmen in engstem Zusammenhang. Auf der Ebene des Wirtschaftssystems gibt es dazu eine exakte Parallele: Auch hier besteht ein untrennbarer Zusammenhang von ideellem Wertesystem und materieller Wertschöpfung. Schon Adam Smith, Aufklärer, Moralphilosoph und Begründer der Marktwirtschaft, hat das Funktionieren der "unsichtbaren Hand", mit der aus millionenfachen eigennützigen Aktivitäten der Marktteilnehmer gesamtwirtschaftlicher Wohlstand entsteht, von der Einhaltung selbstverständlicher moralischer Grundregeln wie etwa der Vertragstreue abhängig gemacht. Eine aktuelle Studie der OECD bestätigt klar, dass die immaterielle Grundlage der erfolgreichsten Volkswirtschaften in eben jenem gesellschaftlichen Vertrauenskapital besteht, das sich aus lange geübten Fairness-Regeln und sozialem Zusammenhalt ergibt.

Die Politik kann entscheidend zur Bildung von Vertrauenskapital beitragen, wenn sie in einer klugen Gewaltenteilung mit der Ökonomie Rahmenbedingungen schafft, unter denen die Marktkräfte freigesetzt und gleichzeitig wichtige gesellschaftliche Ziele erreicht werden können. Dieses Konzept der Sozialen Marktwirtschaft (auch andere Bezeichnungen können eingesetzt werden - entscheidend ist das Prinzip) definiert seit seiner Gründung den eigenständigen Weg zwischen dem gescheiterten Neo-Liberalismus der dreißiger Jahre und dem Versagen der Planwirtschaften. Es wurde als Synthese eines humanistisch geprägten Ordo-Liberalismus mit den Prinzipien christlicher Sozialethik in vielen Varianten zum kontinentaleuropäischen Erfolgsmodell: Wohlstand für möglichst viele, sozialer Ausgleich für die Schwächeren und ein auf Nachhaltigkeit angelegter Umgang mit der Umwelt.

Kann es sein, dass wir die Erfolgsbedingungen dieses sozial-marktwirtschaftlichen Systems vergessen haben, weil sie uns so selbstverständlich sind? Oder waren wir des überbordenden Etatismus so überdrüssig, dass wir bereit waren, lieber die ordnungspolitischen Kernfunktionen der Wirtschaftspolitik aufzugeben als noch mehr "Staat" in Kauf zu nehmen? Jedenfalls war wenig europäischer Widerspruch zu merken, als plötzlich die "Marktwirtschaft ohne Vorzeichen" (Václav Klaus) in Mode kam und der Staat in missverstandener neoliberaler Rhetorik sich mit der Rolle begnügen sollte, den Unternehmen möglichst nicht im Weg herum zu stehen. Diese ordnungspolitische Selbstvergessenheit Europas geht eine Zeit lang gut, irgendwann aber doch an die Substanz, und zwar spätestens dann, wenn wir den gesellschaftlichen Nutzen und - ja - den Sinn eines gut gestalteten Marktwirtschaftssystems nicht mehr erklären können.

Genau diesen Erklärungsbedarf aber müssen wir ernst nehmen, wenn es darum geht, das Marktwirtschaftssystem für die Globalisierung argumentationsfest zu machen. Zweifellos liegt im Aufbau einer richtig gestalteten marktwirtschaftlichen Ordnung für viele heute noch verarmte Länder der Schlüssel zu mehr Wohlstand und zur Entwicklung demokratischer Verhältnisse. Aber statt ihnen globale Marktfreiheit als Instant-Lösung für alle Probleme anzudienen, bedarf es auch hier eines fundierteren ordnungspolitischen Ansatzes, der die Marktwirtschaft "Jenseits von Angebot und Nachfrage" (Wilhelm Röpke) richtig positioniert.

Vor drei Jahrzehnten gab der Club of Rome mit seiner Studie über "Die Grenzen des Wachstums" den Anstoß für einen ökologischen Reformschub des Marktsystems. Vor allem die europäischen Länder spannten in den Folgejahren erfolgreich die Dynamik der Märkte vor den ökologischen Karren. Heute müsste der Arbeitsauftrag an den Club of Rome lauten, den Anstoß für einen Reformschub in Richtung einer globalen Ordnungspolitik zu geben. Es gilt, die Voraussetzungen zu erarbeiten, unter denen das Modell einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft zum Schlüssel einer erfolgreichen Globalisierung werden kann. Denn die Grenzen des Wachstums liegen heute nicht mehr so sehr in den materiellen Ressourcen, sondern vielmehr in den Grenzen des Vertrauens in ein allzu einseitig auf Kapitalinteressen fixiertes Bild der Marktwirtschaft.

Auch auf globaler Ebene geht es letztlich um Rahmenbedingungen, unter denen der Markt in Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit wirkt. Die Instrumente dazu heißen faire Wettbewerbspolitik, vergleichbare Besteuerung unternehmerischer Wertschöpfung und Kapitaltransfers, aber auch Einigung auf Durchsetzbarkeit sozialer wie ökologischer Mindeststandards. Diese Themen gehören auf die Tagesordnung der Weltorganisationen, ohne dass die jeweils nächsten Chaos-Tage abgewartet werden. Und sie müssen gerade von den Europäern engagierter vorangetragen werden, als das bisher der Fall war.

Die Ungleichgewichte zwischen den etablierten Marktwirtschaften und den im Übergang zum Marktsystem befindlichen Staaten und ihren Menschen müssen mit klaren ordnungspolitischen Konzepten einem Ausgleich näher gebracht werden. Mit der humanitär-strategischen Erfolgslogik des seinerzeitigen Marshall-Planes könnten im Verein mit engagierten Programmen der internationalen Organisationen den ärmsten Ländern Perspektiven gegeben und damit Vertrauenskapital geschaffen werden.

Es ist für den nachhaltigen Erfolg marktwirtschaftlicher Systeme entscheidend, dass sie neben der materiellen Wertschöpfung auch immaterielle Werte schöpfen, dass sie "Sinn machen" und deshalb als gesamtgesellschaftlich wertvoll angesehen werden. Fehlt dieses Element, geht der gesellschaftliche Zusammenhalt - das, was Ralf Dahrendorf "Ligaturen" genannt hat - verloren.

Thomas Middelhoff, Vorstandsvorsitzender des Bertelsmann-Konzerns, hat für die Sphäre des Unternehmens festgestellt, was auch für die Gesamtwirtschaft gilt: "Wenn Sie nur den Shareholder Value verfolgen, dann kreieren sie ein inhaltsleeres, zielloses, wertloses Unternehmen. Der Wert eines Unternehmens bemisst sich danach, ob es wirklich shared values gibt."

Der Autor ist Generaldirektor der Investkredit Bank AG.

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