Was heißt hier "neoliberal"

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Neoliberalismus war ursprünglich ein Gegenkonzept zum schrankenlosen Laissez-faire-Liberalismus. In seiner real existierenden Variante ist davon nicht viel zu merken.

Der Wettbewerb in der globalisierten Wirtschaft macht uns alle zu Konkurrenten. Konkurrenz ist das Öl, welches das System schmiert: angefangen vom "besseren" Spielzeug über die Schulnoten bis zum bronzebeschlagenen Eichensarg. Die ganze Konsumwelt baut auf dem Konkurrenzprinzip auf. Auch unser Selbstbewusstsein ist von einem erfolgreichen Konkurrenzkampf abhängig, sozusagen käuflich - und daher auch von Verlust bedroht. Wir sind ganz wesentlich davon bestimmt, unseren Lebensunterhalt zu verdienen, doch den Wenigsten gelingt dies in einer befriedigenden Form. Der gesellschaftliche Status, ja selbst "Glück und Zufriedenheit" wird immer mehr am Einkommen und an der beruflichen Stellung gemessen. Die Erinnerung an die biblische Geschichte vom Goldenen Kalb wird wach.

Das zugrunde liegende Problem ist vielschichtig und hat viele Namen wie "Freie Marktwirtschaft", "New Economy", "(Neo-)Kapitalismus", "Globalisierung", vor allem aber "Neoliberalismus". Der Begriff "neoliberal" ist erstmals 1938 belegt, und seitdem gibt es gemeinsame Aktivitäten der Neoliberalen. "Neoliberalismus" bezeichnet zum einen eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzeption und zum anderen ein System von Personen, die durch den Transfer von Ideen miteinander verbunden sind.

Starker staatlicher Rahmen

Die Neoliberalen bekannten sich ursprünglich zu einer freiheitlichen und sozial bewussten Wettbewerbswirtschaft als Antwort auf die Krise des Laissez-faire-Liberalismus. Sie sollte folgende Grundlagen haben: Stärkung der Macht des Staates zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung der liberalen Wirtschaftsordnung; Aufbau einer internationalen Rechtsordnung für den internationalen Handel; Stärkung intermediärer Strukturen (Familie, Vereine, Gemeinde) auf sozialem und administrativem Gebiet; Stärkung der individuellen Selbstverantwortung und Konzentration des Staates auf die Fürsorge im eigentlichen Sinne; staatliche Rahmenpolitik und marktkonformer Interventionismus; monetäre Stabilität; offene Märkte.

Humanität und Toleranz, Vernunft und Freiheit, Gerechtigkeit und religiöse Ehrfurcht wurden von Robbins und Röpke zum Kanon der europäischen Werte gezählt, dem die Souveränität des Nationalstaates als Quelle von Elend und Armut, von Krieg und Chaos entgegenstehe. Von Mises hingegen sah 1927 den Krieg mit Amerika und der Sowjetunion kommen, wenn in einer europäischen Union Chauvinismus, Streben nach Autarkie, Imperialismus und Militarismus von der nationalen Ebene auf einen größeren Kreis von Staaten übertragen würden.

Man sieht deutlich die Gegensätze, die schon in der ersten Konsolidierungsphase des Neoliberalismus von dessen Proponenten ausgingen.

Standortdebatte

Dazu kommt, dass auch die Erfahrungen des für die freie Marktwirtschaft vorbildgebenden US-amerikanischen Systems seit dem Krieg in die europäischen Entwicklungen einflossen: austauschbare, oberflächliche Beziehungen sind notwendig, wenn die Mobilität der Arbeitskraft Voraussetzung einer funktionierenden Wirtschaft ist; die Wirtschaft braucht ein Kollektiv billiger Basisarbeitskräfte, welche auf Dauer nur dann verfügbar sind, wenn die Fortbildungsmöglichkeiten für dieses Kollektiv stark eingeschränkt sind; eine wirtschaftsfeindliche Einkommensspirale ist nur mit einer angespannten Arbeitsmarktsituation zu verhindern - eine hohe Arbeitslosenrate kommt insgesamt billiger als ein höheres Lohnniveau.

Derzeit ist in der EU die Standortdebatte in vollem Gange: Die Löhne und Abgaben seien zu hoch, man könne damit nicht konkurrenzfähig bleiben, heißt es (während fast alle großen Konzerne gute jährliche Gewinnsteigerungen verzeichnen). Der in der Folge in ganz Europa merkbare Abbau des Sozialstaates ist keine vorübergehende Maßnahme, die auf eine neue Wohlfahrtssteigerung abzielt, sondern eine politische Grundsatzentscheidung. Geld wäre genug da, es ist nur die Frage, welchen Anteil am Bruttosozialprodukt man dafür bereitstellen will.

Die diesbezüglichen Entscheidungen der letzten Zeit in Europa gehen allesamt in Richtung langfristige Umverteilung zugunsten des Kapitals. Zudem ist durch den Zusammenbruch der real-sozialistischen Staaten ein ideologisches Gegenmodell weggefallen, womit sich der Legitimationsdruck auf das westliche Modell verringerte. Die dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen werden daher weniger als zuvor gezügelt: Die Versorgung mit "Gütern" wie Wohnen oder Bildung oder kommunale Dienste wird zunehmend über den Markt geregelt - und damit für immer mehr Menschen unerschwinglich. Es kommt zum Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen, da sie für den Produktions- und Konsumationsprozess nicht benötigt werden. Diese Veränderungen charakterisierte der französische Philosoph Pierre Bourdieu Ende 1996 folgendermaßen: "Wir erleben derzeit eine konservative Revolution, die den wilden, ursprünglichen Kapitalismus in neuem Gewand wiederaufleben lassen will. Das Eigentümliche an dieser Revolution sind die weichen, leisen Pfoten, auf denen sie sich bewegt; sie tut so, als wäre sie unpolitisch."

Belebende Nachfrage

Adam Smith, der Begründer der liberalenTheorie, kam in seinem Grundlagenwerk "Der Wohlstand der Nationen" 1776 zu dem Ergebnis, aufgrund einer "Harmonieautomatik" ordne eine "unsichtbare Hand" alles zum Besten aller, wenn nur jeder sich zu seinem eigenen Vorteil verhalte. Nach John Maynard Keynes' Theorie aus den zwanziger Jahren seien nicht nur die Bedingungen für das Kapital zu verbessern, sondern es müsse auch ein ausreichendes Einkommen der Bevölkerung als Grundlage für eine entsprechende Nachfrage gegeben sein, um so die Wirtschaft in Schwung zu halten.

Letztendlich steht "Neoliberalismus" heutzutage praktisch für Sozialabbau, ökologischen Kahlschlag, alleinige Orientierung an wirtschaftlichen Interessen und Forcierung des Konzentrationsprozesses in Richtung multinationaler Riesen. Darüber können auch halbherzige Initiativen zum Umweltschutz sowie zur Förderung der Kleinlandwirtschaft und des Gewerbes nicht hinwegtäuschen. Neoliberalismus, ein Begriff, dem die Freiheit innewohnt, hat sich ironischerweise zu einem System entwickelt, das zur Ressourcensicherung aktive Kriegstaktiken entwirft, das lieber Soldaten entsendet, als den Ölpreis steigen zu lassen. Bereits Adam Smith erkannte: In alten Zeiten fanden es die Wohlhabenden und die Zivilisierten schwierig, sich gegen die armen und barbarischen Nationen zu verteidigen. In der modernen Zeit finden es die Armen und Barbarischen schwierig, sich gegen die Wohlhabenden und die Zivilisierten zu verteidigen.

Realneoliberalismus

Der Staat ist nach Eucken (1952) der Hüter der Wettbewerbsordnung. Damit wäre er zuständig für die Sicherung der Menschenwürdigkeit und Funktionsfähigkeit der Wirtschaftsordnung. Eucken warnte davor, in jedem einzelnen Bereich optimale Lösungen zu suchen und dabei die Gesamtordnung aus dem Auge zu verlieren, denn die einzelnen Teilordnungen seien interdependent. Folglich müsse es eine "ordnungspolitische Gesamtentscheidung" geben. Die Lösung sozialer Probleme sei demnach vor allem in einer guten Wirtschaftspolitik zu suchen. Die liberale Theorie habe Recht, wenn sie die Freiheitsaspekte der Marktwirtschaft betone, so dass im konkreten ökonomischen Prozess letztlich Freiheit gegen Freiheit stehe, die gegeneinander abgewogen werden müssten.

Obwohl die ursprünglichen neoliberalen Gedanken durchaus humanistische Züge trugen, zeigen die realen Erfahrungen aus Politik und Wirtschaft der jüngeren Vergangenheit deutlich das Gegenteil. Ähnlich wie im untergegangenen Kommunismus klaffen Theorie und Wirklichkeit weit auseinander. Konsequenterweise muss daher in christlich-sozialem Sinne dem real existierenden Neoliberalismus nach Kräften entgegnet werden. Ein geeigneter Slogan dafür wäre: "Die Globalisierung der Wirtschaft bedarf (dringend) der globalen menschenwürdigen Freiheit."

Der Autor ist freiberuflich als Consulter im Bereich Biotechnologie tätig.

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