Was ein "freier Markt" alles braucht

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Das Suchen nach Antworten auf die Frage, was denn zur globalen Wirtschaftskrise führte, nimmt kein Ende. Für Professor Geiserich E. Tichy ist zu einem großen Teil die Amerika-Hörigkeit europäischer Entscheidungsträger schuld. Diese müsse aufhören, wodurch Europa politisch viel auf sich wird nehmen müssen.

Die Krise ist wegen der Vernetzung der nationalen Wirtschaften derzeit noch nicht übersehbar. Die wahrscheinlichste Voraussage ist, dass die Krise nachhaltig sein wird; negativ wegen des Vertrauensverlustes und die Folgen für die Realwirtschaft, positiv bietet sie die Chance zu der von den Politikern bislang vernachlässigten breiten Aufklärung über die Bedeutung der EU für unser Leben. Nationaler Alleingang? Austritt aus der EU? Trauer um den Schilling? Der Euro ist an allem schuld? Dem Dümmsten dürfte so etwas nicht mehr in den Sinn kommen, ohne allerdings die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der EU, einer Neuordnung der Finanzwirtschaften wie auch der Realwirtschaft zu übersehen.

Es gab nur wenige, die den Blick für das sich durch Jahrzehnte aufbauende Krisenpotenzial hatten, die gutgläubigen und nicht gutgläubigen Mitgestalter dieses Potenzials hingegen sind Legion. Greenspan beteuert vergeblich, er hätte nie gedacht, dass kapitalistisch denkende Egoisten ihre eigene Existenz gefährden könnten. Zigtausende Kreditvermittler - um nur auf dieses Beispiel zu verweisen - mussten schon bei der Kreditvergabe wissen, wieviele Häuselbauer die Kredite nicht würden zurückzahlen können. Ebenso mussten jene Banken das wissen, die diese Kredite in Wertpapieren bündelten und an andere Banken verkauften, die dann ihrerseits diese Wertpapiere durch Hinzufügen eigener (schlechter) Kredite in neue "strukturierte" Wertpapiere transformierten, immer wieder, bis diese, nicht mehr durchschaubar, weltweit in den Depots anderer Banken und diversen Portefeuilles landeten.

Wie konnte der Zusammenbruch der Planwirtschaften die Akteure in den Marktwirtschaften so blenden, dass sie die Schwächen der eigenen überzogen deregulierten Wirtschaft übersahen und nicht ahnten, was skrupellose Akteure unter Berufung auf die Fiktion des "homo oeconomicus" machen können? Wie konnten jene, die mehr wussten als Liberale alten klassischen Stiles, die spezifische Differenz übersehen zwischen einer freien Wirtschaft nach US-amerikanischem Stil (frei nur, wenn für sie nützlich, im Zweifel aber immer protektionistisch) und den sozialen Marktwirtschaften Westeuropas, die von Männern wie Müller-Armack, Erhard, Hallstein unter anderen gestaltet wurden? Waren alle geblendet vom Lockruf ewigen Wachstums und der Gier, persönlich schnell reich zu werden, weil das Übermaß an Deregulierungen die Schleusen dazu öffnete?

Vermeintliche Gegenpole: Markt und Staat

Man diskutiert wieder die vermeintlichen Gegenpole von Markt und Staat, wobei man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten sollte. Die gegebene Situation zeigt andere Merkmale, wie zum Beispiel das Ausufern und die Verselbstständigung von Bereichen der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft, den politischen Druck der USA, der andere Staaten dazu brachte, sich ihrem wirtschaftspolitischen Diktat zu fügen (die Realverfassung der Weltwirtschaft ließ dies zu), das Tempo der Globalisierung, das Übermaß an Deregulierungen (nicht unwesentliche Voraussetzungen zur Finanzierung des US-Konsums), den Zwang, die Unternehmungen der Partnerländer den US-Rating-Agenturen zu unterwerfen (wodurch diese automatisch Zugang zu den Daten der Konkurrenzländer bekamen!), die Unterwerfung unter Bilanzierungsregeln, die die US-Unternehmen selbst nicht befolgten, und anderes mehr. Ein Abbau der Amerika-Hörigkeit wird unerlässlich sein, und dafür wird Europa einiges, vor allem politisch, auf sich nehmen müssen.

Was wir jedenfalls brauchen, sind Entscheidungsträger, die nicht nur in der Ideologie amerikanischer fundamental-kapitalistischer Denkmuster einseitig geschult sind, sondern die jene, für europäische Staaten typischen und sie früher prägenden Kategorien beherrschen, so zum Beispiel in der Wirtschaft nicht nur eine Geldproduktionsmaschine zu sehen, sondern einen Teilinhalt der Gesellschaft, in dessen Zentrum der Mensch steht, für den Geld- und Realwirtschaft nicht Selbstzwecke sind, sondern Mittel zur Wohlstandserhöhung, dass nicht mehr verteilt als produziert werden kann, dass nur das nachhaltig wirtschaftlich optimal ist, was für den Menschen unter den jeweiligen Bedingungen optimal ist. (Die politischen Folgen wirtschaftlicher Niedergänge in der Vergangenheit fehlen in den Lehrplänen für Manager, die sich daher nicht immer dafür verantwortlich fühlen.)

Um das Bewusstsein solcher grundlegender Einsichten wieder zu wecken, wird man viele Hindernisse überwinden müssen, was aber aus einer Krise heraus leistbar ist, damit die Entscheidungsträger nicht nach Überwindung der Krise ins alte Fahrwasser zurückkehren. Wir dürfen weder die Interessen noch die ideologischen Verblendungen übersehen; wenn ein Nobelpreisträger wie Milton Friedman ungestraft öffentlich sagen kann, Unternehmer hätten nur die Aufgabe, Gewinne zu machen, und keine Verpflichtung, auf soziale Belange Rücksicht zu nehmen, zeigt das die Größe der zu überwindenden Kluft. Unternehmungen sind soziale Veranstaltungen, auch wenn sie dem unerbittlichen Zwang der Wirtschaftlichkeit unterworfen sind.

Selbstregulierung ist Scheinargument

Es ist ein Irrtum zu glauben, man könne Real- und Finanzwirtschaft isolieren, verselbständigen, sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Es ist Unsinn zu unterstellen, Spekulationen mit Liquiditätsüberschüssen würden die Realwirtschaft nicht beeinflussen. Die Alarmglocken müssten spätestens dann läuten, wenn die ersten Unternehmer überlegen, ob es sinnvoll ist, in Produktionen zu investieren, oder nicht lukrativer, mit liquiden Mitteln zu spekulieren. Die "selbstregulierenden Marktkräfte" sind ein Scheinargument, Märkte sind nicht von Gott gegeben, sondern von Menschen gut oder schlecht organisiert. Adam Smith spricht zwar von der "unsichtbare Hand", die alles zum Besten wendet, geflissentlich wird aber verschwiegen, dass er von der Moralphilosophie kommend Menschen impliziert, die moralisch handeln, das heißt in Verfolgung ihres "Eigennutzes" sich selbst Grenzen setzen. Smiths Epigonen tradieren - nicht zufällig - ein anderes Bild. Es ist ein Gebot der Stunde, um die Gestalt der (sozialen) Marktwirtschaft zu ringen, die wirtschaftenden Subjekten die erforderliche Handlungsfreiheit bietet, um höchste Produktivität zu gewährleisten, aber auch jene Rahmenbedingungen zur Entfaltung der Leistungsfähigkeit schafft, was nur von höherstufigen Gebilden wie Verbänden, Gemeinden, Ländern und Bund gemeinsam gewährleistet werden kann. Mehr Privat und weniger Staat gilt nur für Zeiten von Überregulierungen. Der Staatsbürger hat in der Regel keine Ahnung davon, welch umfassendes, feinmaschiges Netz unzähliger gesetzlicher Regelungen nötig ist, um einen funktionsfähigen "freien Markt" zu gestalten. Das Schlagwort "Markt oder Staat" kann zu einem gefährlichen Requisit aus einer alten politischen Trickkiste jener werden, die im Trüben fischen. Gebrauch und Missbrauch können eng beieinander liegen.

Die Situation erfordert rasches koordiniertes Eingreifen vieler Staaten und ihrer Entscheidungsträger in allen Bereichen. Auf neue Konzepte der ökonomischen Theorie, der Theorie der Wirtschaftspolitik im Besonderen, kann nicht gewartet werden. Die Hoffnung zur Überwindung der Krise gründet leider vor allem in dem erlittenen Schock, der heilsam auf jene wirken möge, die bislang mit unzulänglichen Vorstellungen Wirtschaftspolitik gemacht haben und sich gegenüber kompetenten Experten als beratungsresistent erwiesen. Weil aber die Adaptierung auf die Probleme von Heute Zeit braucht, muss die Weiterentwicklung wirtschaftspolitischer Instrumentarien sowohl für Wachstums- als auch Schrumpfungsphasen sofort beginnen, um zu vermeiden, dass Umgliederungsprozesse, die immer im Gange sind und in Zukunft noch schneller verlaufen werden, in Krisen umschlagen. Der Ruf, in Forschung und Entwicklung zu investieren, gilt daher nicht nur für die Realwirtschaft, sondern gleichermaßen für die Politik im Allgemeinen wie auch für die Wirtschaftspolitik im Besonderen.

* Der Autor, Jg. 1934, lehrt Politische Ökonomie, Steuerpolitik und Unternehmensbewertung an der WU und der Uni Wien.

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