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Der Rinder- und anderer Wahnsinn

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Im Streit um die Berechtigung eines Exportverbots englischen Rindfleischs erscheint die Frage, ob diese Krankheit auf den Menschen übertragbar ist, nachrangig gegenüber den diskutierten gegensätzlichen Standpunkten: Recht des freizügigen Warenverkehrs auf der einen Seite, Vermeidung möglicher Gesundheitsgefährdung auf der anderen Seite.

Das dem gesunden Menschenverstand selbstverständliche Resultat läßt sich schon deshalb nicht demagogisch ausschlachten, weil es sich ja schließlich durchgesetzt hat. Aber die Diskussion hat den Eindruck erweckt, das Freihandelsprinzip werde von englischer Seite mit einer Art Absolut-heitsanspruch oder als dem Gesundheitsschutz zumindest gleichrangig eingefordert.

Im Falle eines derartigen Konfliktes muß sich das weniger selbstverständliche Prinzip schrankenloser Freiheit des Warenverkehrs auf seine Begründung hinterfragen lassen, und zwar über den Anlaßfall Rinderwahnsinn hinaus: verursacht doch uneingeschränkte Freihandelskonkurrenz auch andere, bedeutendere Probleme. Darauf wird noch hinzuweisen sein, zunächst aber zur Begründung des freien Warenverkehrs.

Freier Warenverkehr ist bekanntlich nicht nur in der EU, sondern (im GATT) tendenziell weltweit zum wirtschaftspolitischen Prinzip erhoben, und das nicht ohne plausible Begründung. Im Sinn des marktwirtschaftlichen Konzeptes soll jedes Gut dort erzeugt werden, wo es zu den geringsten Kosten hergestellt und am billigsten auf den Markt gebracht werden kann. In Verbindung mit der Konkurrenz der anbietenden Unternehmungen dient der Freihandel dem Konsumenten durch Befriedigung seiner Bedürfnisse zum möglichst niedrigen Preis.

In diesem Zusammenhang muß man sich in Erinnerung rufen, daß die

Funktionsmechanismen der Marktwirtschaft von Anfang an konsequent am Konsumenteninteresse orientiert waren. Für Adam Smith, den Begründer des marktwirtschaftlichen Systems, ist „Konsum der alleinige Zweck aller Produktion ". Demgemäß sei das Interesse der Produzenten -heute würde man sagen: der Wirtschaft - nur insoweit zu berücksichtigen, wie das Konsumenteninteresse es gestattet. Angesichts der damals herrschenden Existenznot breiter Bevölkerungskreise erschien ihm der absolute Vorrang des Konsums so selbstverständlich, daß er es für „abgeschmackt" hielt, ihn zu begründen.

Die Marktwirtschaft hat ihr Ziel, die Not zu überwinden, längst erreicht

Das ursprüngliche Ziel der Marktwirtschaft, Überwindung der Not und materieller Wohlstand, ist heute in den wirtschaftlich entwickelten Industriegesellschaften erreicht. Aus Mängel ist Überfluß geworden. Wenn der mögliche Wohlstand nicht allen in gleich befriedigendem Ausmaß zugute kommt, dann nicht mehr aufgrund mangelnder Wirtschaftskraft.

Da das marktwirtschaftliche System bei uns sein ursprüngliches Ziel erreicht hat, muß die Frage gestattet sein, ob die wirtschaftspolitischen Prinzipien, die sich bei der Überwindung materieller Not bewährt haben - zu ihnen gehört der Freihandel -auch im Überfluß noch uneingeschränkt gültig sind. Konkret stellt sich diese Frage angesichts hochaktueller Probleme, die durch den Freihandel verursacht sind oder doch verschärft werden. Auch im Bewußtsein, Gemeinplätze zu referieren, müssen hier einige davon erwähnt sein.

Eines dieser Probleme ist das Umweltproblem. Die Reparatur ökologischer Versäumnisse der Vergangenheit verursacht Kosten, und ökologisches Wirtschaften in Gegenwart und Zukunft verursacht ebenfalls Kosten. Soweit in anderen Ländern ökologische Erfordernisse unberücksichtigt bleiben, läßt sich billiger produzieren. Die bei schrankenloser Freihandelskonkurrenz zwangsläufige Folge ist eine Art Umweltdumping. Ein Land, das bereit ist, die Umwelt und damit die Lebensgrundlage künftiger Generationen zu schädigen, hat die besseren Exportchancen.

Das Umweltthema steht auf dem Programm der EU-Regierungskonferenz in Turin. Vermutlich wird es aber im Schatten des als politisch vordringlich geltenden Problems der Massenarbeitslosigkeit stehen. Ein besonders konfliktträchtiges Problem auch deshalb, weil alle Regierungen ein Standardrezept für seine Lösung in verstärkten Exportanstrengungen sehen. Um im internationalen Preiswettbewerb erfolgreich zu sein, müssen die Kosten in den Betrieben gesenkt werden, und im Zuge forcierter Rationalisierung ist Personalfreisetzung unvermeidbar: Um die Arbeitslosenrate zu verringern, wird neue Arbeitslosigkeit geschaffen - eine fragwürdige Strategie.

Darüber hinaus müssen die Lohn-kosten gesenkt werden. Im Visier sind die Lohnnebenkosten, weil eine Senkung der Reallöhne zumindest derzeit politisch nicht durchsetzbar ist. Da die Lohnnebenkosten hauptsächlich Sozialkosten sind, resultiert aus schrankenloser Freihandelskonkurrenz eine Tendenz zum Sozialdumping. Die Folgen für die staatlichen Systeme der sozialen Sicherung sind auf die Dauer katastrophal, weil infolge Personalreduktion bei abnehmender Beitragsleistung eine zunehmende Zahl von Versorgungsbedürftigen zu erhalten ist.

Umwelt- und Sozialdumping als Formen unlauteren Wettbewerbs

Sozialdumping ist übrigens - im Hinblick auf unterlassenen Gesundheitsschutz der Bevölkerung - auch ein Aspekt auf den Anlaßfall Rinderwahnsinn. Dieser Fall bietet ein nahezu groteskes Beispiel insofern, als die Exportchancen für englisches Rindfleisch auch durch Fütterungsmethoden realisiert wurden, die in anderen, konkurrierenden Ländern trotz der damit verbundenen Kostennachteile verboten sind. Nun aber sollen die Kosten der Sanierung durch Massenvernichtung verseuchter englischer Rinder auch von den anderen, wirtschaftlich benachteiligt gewesenen EU-Ländern solidarisch mitgetragen werden.

Werden Umwelt- und Sozialdumping Gründe genug für die Konferenz in Turin sein, die schrankenlose Freiheit des Warenverkehrs als EU-Prinzip in Frage zu stellen?

Als Argument gegen die skizzierten Nachteile schrankenlosen Freihandels bleibt einzig und allein das anscheinend als Axiom außer Streit stehende Konsumenteninteresse an der Verbilligung der Konsumgüter zwecks weiterer Steigerung von Konsum und Zufriedenheit der Menschen.

Allerdings: Wagt man das Sakrileg, die Gültigkeit dieses Axioms in Frage zu stellen, so ergibt die empirische Überprüfung ein überraschendes Resultat. Nachgewiesenermaßen bleibt nämlich die Zufriedenheit der Menschen seit langem trotz beträchtlicher Einkommens- und Konsumsteigerung im wesentlichen gleich. Das ist durch das „Euro-Barometer", veröffentlicht von der Europäischen Kommission aufgrund jährlicher repräsentativer Umfragen in den Mitgliedsländern, belegt. Das Ergebnis ist im tieferstehenden Kasten für die zwei Jahrzehnte von 1973 bis 1992 in mehrjährigen Abständen dargestellt.

Gleiches ist in den USA für das Vierteljahrhundert von 1946 bis 1970 nachgewiesen. Der bekannte amerikanische Nationalökonom Tibor Sci-tovsky (Psychologie des Wohlstands, Frankfurt am Main 1976, S. 117 f.) berichtet aufgrund einer Zeitreihe repräsentativer Meinungsumerhebun-gen mit gleicher Fragestellung, daß sich die selbstgeschätzte Zufriedenheit der Amerikaner trotz einer Steigerung des Realeinkommens um 62 Prozent fast überhaupt nicht verändert hat. „Demnach stehen wir uns wirtschaftlich zwar immer besser,

aber wir sind deswegen offenbar nicht glücklicher."

Wie wichtig kann dann eine ständige Verbilligung der Konsumgüter mittels Freihandels für den Verbraucher wirklich sein? Obwohl dem Axiom schrankenloser Freihandelskonkurrenz damit sein einziges Argument -der Nutzen des Konsumenten - abhanden gekommen ist, beharrt ein realitätsblinder marktwirtschaftli -eher Fundamentalismus darauf. (In der Sozialwissenschaft steht längst außer Streit, daß die Zufriedenheit der Menschen nicht vom absoluten Einkommens- beziehungsweise Konsumstandard abhängt, sondern von der relativen Position in der eigenen Nation.)

Schrankenloser Freihandel läßt sich demnach nicht mehr als Prinzip legitimieren. Diesem Prinzip folgend würden wir das Nutzlose realisieren und das im eigentlichen Wortsinn Notwendige, wie die Sanierung von Umwelt und Arbeitslosigkeit, unterlassen.

Dürfen wir erwarten, daß die Turiner Reformdiskussion sich - jenseits obsoleter Axiome und Festschreibungen im EU-Recht - auch durch die berichteten Fakten bestimmen lassen wird? Anders gefragt: Wird die Europäische Union die Eierschalen ihrer ökonomischen Genesis abzustreifen vermögen, um der politischen Vernunft durch Relativierung des Freihandelsprinzips den Weg zu bahnen?

Der Autor ist

Motivforscher, Organisationsberater und Autor von Fachbüchern

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