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Wohlstandsbazillus im Reich der Mitte

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China hat endgültig den Kapitalismus entdeckt. Das Riesenreich will so reich werden wie wir. Aber wollen die Chinesen damit auch unseren westlichen Lebensstil einkaufen?

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China hat endgültig den Kapitalismus entdeckt. Das Riesenreich will so reich werden wie wir. Aber wollen die Chinesen damit auch unseren westlichen Lebensstil einkaufen?

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Der ökonomische Aufschwung der Volkswirtschaften im Fernen Osten verdient zweifellos Bewunderung: Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen Chinas ist in den letzten 15 Jahren um durchschnittlich 6,3 Prozent, die privaten Spareinlagen sind von 16 Milliarden Dollar in den letzten zehn Jahren auf 210 Milliarden Dollar gestiegen. Dementsprechend hoch ist die Investitionsquote. Die Devisenreserven Chinas betrugen Ende Juni 1994 32 Milliarden Dollar, der Fremdenverkehr wächst durchschnittlich um zwölf bis 15 Pro zent pro Jahr.

Dies ist das Ergebnis eines radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsels, der unter dem seltsamen Begriff „Sozialistische Marktwirtschaft” zu einer Mobilisierung des chinesischen Geschäftsgeistes geführt hat. Das Kapital, die Technologie, das unternehmerische Können, die Marketingfähigkeiten der Nachbarn, vor allem Hongkongs, Taiwans und Japans, werden genützt. China ist mehr und mehr zu einem festen Bestandteil des florierenden pazifisch-asiatischen Wirtschaftsraumes geworden. Dabei konnte China dank seiner Mentalität, Agrarstruktur und arbeitsintensiven Industrie die hohen Anpassungskosten der europäischen Reformländer im allgemeinen vermeiden. Das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land, zwischen den Industriezonen um Hongkong mit frühkapitalistischer Ausrichtung und den entfernteren, zurückgebliebenen Provinzen wird toleriert, das Postulat der Nivel-Jierung ist dem Chinesen fremd. Er akzeptiert, daß ein Teil der Bevölkerung reich wird, ein anderer arm bleibt.

Die wirtschaftliche Liberalisierung und der Ausbau der internationalen Wirtschaftsbeziehungen erfolgte ohne politische Lockerung des autoritären Begimes. Jeder Widerstand gegen die kommunistischen Machthaber, jeder Versuch einer Demokratisierung des politischen Systems wurde und wird brutal unterdrückt.

Die Menschenrechtsdiskussion macht zwei Richtungen deutlich. Die eine prangert Mißstände ohne Rücksicht auf bestehende Reziehungen an und befürwortet in ihrer radikalen Variante sogar den Abbruch der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte. Sie hält Demonstrationen für wirksamer, als langwierige Gespräche mit zweifelhaftem Ausgang.

Was hilft Chinas Demokraten?

Die andere glaubt, daß die starren politischen Strukturen mit dem wirtschaftlichen Fortschritt aufbrechen, eine Entwicklung, die zu einer Demokratie nach asiatischer Wesensart führen könnte; sie bleibt deshalb dialogbereit, ohne Menschenrechtsverletzungen zu übersehen. So stellt der

China- und Tibetexperte Eduard Mayer in einem eindrucksvollen Bericht von seiner letzten Beise in den Fernen Osten fest, daß Verhandlungen und Zusammenarbeit mit Peking keineswegs das Ziel haben, ein „Unterdrückungssystem” zu stabilisieren, sondern auf Veränderungen setzen, die am Ende mehr Freiheiten, mehr Menschenrechte und - in Tibet -auch mehr Religiosität möglich machen. Die Welt - so Mayer - sei auf Chinas Kooperationswillen bei Überlebensfragen der Menschheit wie Bevölkerungswachstum, Familienplanung, Umweltschutz, Atomwaffen-kontrolle, Ernährungssicherung und ähnliches angewiesen.

Die ökologische Frage dagegen bleibt selbst im Ansatz unbeantwortet. Wie ernst und aus heutiger Sicht so gut wie unlösbar das Umweltproblem ist, zeigen zwei Überlegungen, die die sensiblen Bereiche Ernährung und Energieverbrauch betreffen:

Es ist zu erwarten, daß ein höherer Lebensstandard in China zu einem steigenden Konsum an tierischen Produkten führt, was die Nahrungskette in diesem bevölkerungsreichsten Land der Erde nachhaltig verändern müßte. Dadurch würde die Nachfrage an Getreide erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg (die Jahre 1972/74 ausgenommen) größer sein als das Angebot, und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die Weltproduktion in bezug auf verfügbare Ackerflächen und Fischereiressourcen an natürliche Wachstumsgrenzen stößt.

Die ökologische Katastrophe kündigt sich noch stärker auf dem Energiesektor an. Hier wird deutlich, daß sich der westliche Lebensstil nicht

weltweit exportieren läßt. Wenn in China der Zweitwagen auftaucht, ist die Biosphäre kaputt. Würde ein Chinese nur halb so viel Energie verbrauchen wie beispielsweise ein Schweizer, müßten 3.500 Atommeiler aus dem Boden gestampft werden.

Gerhart Bruckmann, Mitglied des „Club of Bome”, hat deshalb einen „Marshallplan” des Westens vorgeschlagen, der einen Teil der hohen Kosten für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur übernimmt. Die Bereitschaft dazu ist jedoch gering. Auch müßten die hochindustrialisierten Länder, allen voran die USA, wohl selbst mit gutem Beispiel vorangehen.

„Marshallplan” für China

Nach Meinung maßgebender asiatischer Politiker muß der „westliche Wohlstandsbazillus” durch eigenständige Werte bekämpft werden. Es gibt in einigen Ländern Ostasiens das Bestreben, den konfuzianischen Sittenkodex gegen den philosophischen Eurozentrismus (den „negativen Westwind”) zu stellen. Die fünf Tugenden „Anstand, Höflichkeit, Hygiene, Disziplin und hohe Moral” und die vier Anständigkeiten „Geistige Haltung, Sprache, Benehmen und Umgang” sind neuerdings auch Forderung der Kommunistischen Partei Chinas.

Verlangt werden Pflicht, Gehorsam, Fleiß, Harmonie, Ausgleich, Sparsamkeit und Entbehrung. Der Konfuzia-nismus lehrt Einordnungsbereitschaft, ist von Hierarchiedenken sowie Ordnungssinn geprägt und räumt der Erziehung und dem Lernen einen hohen Stellenwert ein. Ob sich diese Werte gegen die täglichen Einwirkungen der Zivilisations- und Konsumgesellschaft durchsetzen werden, ist ungewiß. Die Massenmedien postulieren auch in Asien Wünsche und Bedürfnisse, die Gebote und Jenseitserwartungen zunehmend verdrängen.

Größtes Experimentierfeld

Im „größten Experimentierfeld der Welt” müsse - so Eduard Mayer - die Frage gestellt werden: „Können 1,3 Milliarden Menschen in einer demo-kratisch-pluralistischen Gesellschaftsordnung westlicher Prägung zusammengehalten und wirtschaftlich befriedigt werden?” Welche Modifikationen wären erforderlich? Alle historischen Erfahrungen würden zeigen, daß das Biesenreich China stets mit zentraler autoritärer Macht (wenn auch mit wechselndem Erfolg) regiert und zusammengehalten wurde. Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, dem man sicherlich keine antidemokratische Haltung unterstellen kann, plädiert in diesem Zusammenhang für die Aufgabe der Eu-ropazentrik. Man solle von anderen Kulturen lernen: „Ich gestehe, daß nichts zu den Hoffnungen berechtigt, die sich die Aufklärer vom Gang der Geschichte gemacht haben. Für mich ist auch der letzte heilsgeschichtliche Best aus der Säkularisierung der ehemals christlichen Erwartungen hin-geschmolzen.”

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