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Aus der Sackgasse heraus?

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Nach jahrzehntelangen Fehlleitungen ist nach Stalins Tod im Jahre 1953 in allen Ostblockstaaten feine Revision der Wirtschaftspolitik zugunstenderLandwirt s c h a f t, zum Teil auch der Konsumgüterindustrie eingeleitet worden.

Allgemein ist man bestrebt, das zentralisti-che, bürokratische und schablonenhafte Be-wirtschaftssystem aufzulockern. Dies vor allem im Hinblick auf eine Anpassung agrotechni-scher Maßnahmen an die besonderen lokalen' Boden- und Geländeverhältnisse sowie Produktionsbedingungen der einzelnen Gegenden mit“ dem Ziel einer Ausdehnung arbeitsintensiver* Kulturen und der Veredlungswirtschaft. j

Die Zwangskollektivierung ist durch die Möglichkeit, bestehende Kollektivwirtschaften auf' lösen zu können, grundsätzlich aufgegeben wor-denj die praktische Handhabung dieses neuen Prinzips ist in einzelnen Ländern allerdings noch sehr verschieden. Allgemein ist aber das Bestreben, die Kollektivwirtschaften und die Staatsgüter nach dem Grundsatz der Rentabilität zu reorganisieren und zu rationalisieren und ihnen die notwendige Hilfe an Produktionsmitteln und Fachkräften zuteil werden zu lassen. Di früher sehr zentralistisch und bürokratisch verwalteten-Traktorenstationen wurden in ihrer Arbeitsweise mehr und mehr verselbständigt und sind nur noch an generelle Voranschläge gebunden. Den Großbauern wird der Zutritt zu den Kollektivwirtschaften nunmehr gestattet. Grundsätzlich werden auch die privaten Bauern einschließlich der mittleren und großbäuerlichen' Betriebe in die staatlichen Förderungsmaßnahmen für die Hebung der landwirtschaftlichen Produktion einbezogen. Allgemein herrscht das Bestreben, den direkten Zwang durch Anreiz abzulösen, Initiative, Produktionswillen und Verantwortung der Kollektiv-und Eigeninteressen anzuregen.

Dia Bedeutung dieser neuen Phase der Agrarpolitik ist noch nicht abzuschätzen. Jedenfalls liegt sie weniger in unmittelbaren Auswirkungen auf die Produktion als darin, daß von den maßgebenden Regierungs- und Parteistellen die ökonomischen Voraussetzungen, für die Entwicklung der.' Landwirtschaft und deren Bedeutung für die Gestaltung ihrer“ Volkswirtschaft zugegeben werden — auch wenn sie gegen die von ihnen jahrelang als allein richtig vertretenen Thesen verstoßen. Es sind also realpolitische und ökonomische Gründe, die für die neuen Tendenzen in der Agrarpolitik maßgebend sind, wobei aber durchaus nicht gesagt ist, daß sie sich bei dem herrschenden Wirtschaftssystem auch durchsetzen lassen, auch wenn versucht wird, sie mit den marxistischleninistischen Grundsätzen in Einklang'zu bringen. Das Grundziel, die Sozialisierung der Landwirtschaft, ist das gleiche geblieben, nur die Wege haben sich geändert.

Das Streben nach einer stärkeren Berücksichtigung der Landwirtschaft und der für sie wichtigen Industrie zeigt sich in der verbesserten Stellung, die beiden Wirtschaftsbereichen im Rahmen der ursprünglichen Fassung der zweiten Fünfjahrespläne zugedacht war. Trotz insgesamt weiter steigenden Investitionen für die Entwicklung der Industrie, ist deren Anteil an den Gesamtinvestitionen zugunsten der Landwirtschaft und des Wohnungsbaues herabgesetzt worden.

Die letzten Jahre haben gezeigt, daß zwar durch ungeheure Anstrengungen in der Mobilisierung der vorhandenen Arbeitskräfte unter gleichzeitiger Beschneidung der Zunahme der Kaufkraft sich ungewöhnlich hohe Wachstumsraten der Produktion erreichen lassen. Gleichzeitig hat sich aber auch herausgestellt, daß diese hohen Wachstumsraten auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden können, wenn man die Reserven an Arbeitskräften und an Produktionskapazitäten einmal aufgebraucht sind.

Dazu stellten sich Diskrepanzen zwischen der Entwicklung der einzelnen Wirtschaftssektoren heraus, die zu empfindlichen Produktionsstörungen geführt hatten. Der Mangel an Kraftstoffen und Energie hat in allen Ländern — außer Bulgarien — zu einer Verlangsamung der industriellen Wachstumsrate geführt, und die Knappheit an industriellen und landwirtschaftlichen Rohstoffen hat zeitweilig die volle Ausnutzung der Kapazitäten dur Industrie verhindert.

Schließlich glaubten alle Länder - nicht zuletzt unter dem Eindruck der Volkserhebungen in Polen und Ungarn -, die Verbraucherwünsche ihrer Bevölkerung stärker berücksichtigen zu sollen und der dringenden Forderung auf höhere Löhne und auf Hebung des Lebensstandards ihrer Bevölkerung nachkommen zu müssen.

Darum müssen alle Fünfjahrespläne überprüft und die InvestitiönsrIanungen verändert werden: Dabei herrscht-die Tendenz vor:

die industrielle Zuwachsrate empfindlich zu ermäßigen, J

die I-nvestitionsräte herabzusetzen (in Bulga-'rieii; Rumänien und Ungarn sogar unter den Durchschnitt von 1956),

Landwirtschaft und Verkehrswesen mit Investitionen zu bevorzugen. *-

Ferner ist man bestrebt, das Verbrauchsniveau 1 aufrechtzuerhalten oder sogar zu erhöhen, alle Kräfte auf die bessere Versorgung mit Kraftstoffen (Kohle, Erdöl,' Strom) und Grundstoffen zu konzentrieren (zum Teil durch höhere Einfuhren, die entsprechende Mehrausfuhren zur Voraussetzung •haben) und “sich im' wesentlichen nur auf die Fertigstellung der begonnenen Projekte zu beschränken.

Inzwischen ist auf der Sitzung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe in Prag im Dezember 1957 beschlossen worden, im .Anschluß an die 1960 auslaufenden Fünfjahrespläne in jedem Ostblockland einen auf 15 Jahre berechneten Wirtschaftsplan als Grundlage für einen gemeinsamen Integrationsplan aller Ostblockstaaten aufzustellen. *

In diesem Zusammenhang ist es sehr interessant, einmal kurz den Schwierigkeiten nachzugehen, vor die sich die Wirtschaftspolitik der osteuropäischen Staaten auch hierbei gestellt sehen wird. Aenderungen in Richtung und Umfang des Produktionsvolumens dürften bei noch weitergehender Integration der Wirtschaftspläne der einzelnen Länder als bisher nicht zu umgehen sein. Diese lassen sich aber nur sehr schwer in die Praxis umsetzen, denn wie schon das Jahr 1957 zeigte, konnten die beabsichtigten Aenderungen des Produktionsvolumens in den verschiedenen Industriezweigen noch nicht erreicht werden. Es erhebt sich deshalb die Frage, ob unter dem gegenwärtigen System der wirtschaftlichen Leitung der einzelnen Unternehmungen plötzlich Veränderungen in der Struktur und Verteilung der volkswirtschaftlichen Ressourcen als wünschenswert angesihcn werden können.

Dieses Problem ist eng mit zwei Fragen verbunden: Erstens, wie lassen sich richtige Kriterien zur Beurteilung des Erfolges der einzelnen Unternehmungen finden, und zweitens, mit welchen Anreizen oder Kontrollen läßt sich das ökonomische Verhalten der einzelnen Unternehmungsleiter am zweckmäßigsten beeinflussen, wenn irgendwelche Aenderungen im Umfang und in der Richtung des Produktionsvolumens gesamtwirtschaftlich geplant werden. Solche Aenderungen sind äußerst schwierig durchzuführen. Soll zum Beispiel eine Verkleinerung in der Zahl der Arbeitskräfte in einigen Industriezweigen erreicht werden und werden auf der anderen Seite als Anreiz für Arbeiter und Lln-ternehmungsleiter bei steigender Produktion automatisch höhere Löhne gezahlt, so ist der Interessenkonflikt zwischen gesamtwirtschaftlicher Planung und einzelwirtschaftlichen Wünschen offensichtlich.

Tatsächlich scheint es beim gegenwärtigen Wirtschaftssystem so zu sein, daß der von den einzelnen Betrieben als erstrebenswert geltende höchste Ertrag nicht identisch zu sein braucht mit der vom Standpunkt der ganzen Volkswirtschaft wünschenswerten optimalen Höhe beziehungsweise Richtung der Produktion. Diese Problematik ist lange und ernsthaft in mehreren südosteuropäischen Ländern diskutiert worden. Eine Lösung wurde aber bisher noch nicht gefunden, und es scheint so, als ob die beschriebenen einzel- und gesamtwirtschaftlichen Interessenkonflikte weiterhin ein Hindernis für alle Versuche sind, umfassende Aenderungen in der Verteilungsstruktur der volkwirtschaftlichen Ressourcen ohne Verschwendung von Sachgütern oder inflatorische Tendenzen vorzunehmen.

Die Ereignisse in Polen und Ungarn waren zugleich ein beredtes Zeichen dafür, daß die Kosten für die verfehlte Agrarpolitik und die forcierte Industrialisierung in Südosteuropa nicht, wie in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg ausschließlich zu Lasten der landwirtschaftlichen Bevölkerung gehen können. Viel-' mehr haben in den Volksdemokratien alle Bevölkerungsschichten, Bauern, Arbeiter, Angestellte und Beamte, durch größte materielle Entbehrungen und einen sehr niedrigen Lebensstandard den Preis für die bisherige wirklich keitsfremde unökonomische Wirtschaftspolitik getragen. In ganz Südosteuropa bahnt sich, wenn auch langsam, eine gewisse Nivellierung der Einkommen der- landwirtschaftlichen und nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung, jedoch mitunter auch nach unten, das heißt auf Kosten der letzteren, an. Eine Gesundung der südosteuropäischen Volkswirtschaft und damit eine Hebung des Lebensstandards ihrer Bevölkerung ist, wie die Erfahrung zeigt, ohne einen organischeren Einbau der industriellen Produktion — insbesondere der Leicht- und Konsumgüterindustrie — in den agrarischen Sektor und ohne eine rationelle Entwicklung ihrer Landwirtschaft mit steigenden Produktions- und Ausfuhrüberschüssen nicht zu erwarten.

Voraussetzung hierfür wäre allerdings eine Flurbereinigung und eine Zusammenlegung beziehungsweise straffe genossenschaftliche Zusammenfassung der Zwerg- und Kleinbauernbetriebe zur Ermöglichung einer rationellen Bewirtschaftung. Außerdem müßten die in den letzten' Jahren erst begonnenen Maßnahmen zur Förderung von Initiative, Produktionswillen, Verantwortung 'und materieller Fundierung in den Kollektivbetrieben wie in rechtlich zu sichernden und gleichberechtigten Privatbauern-betrieben weitergeführt werden, wenn sie auf die Dauer Erfolg haben sollen.

Beim gegenwärtigen Stand der südosteuropäischen Landwirtschaft wird es einer langen Ent* wicklungszeit bedürfen, bis diese Voraussetzung verwirklicht und die Erträge nennenswert gesteigert, werden können. Nachdem die Landwirtschaft durch den Versuch einer blinden Nachahmung des sowjetischen Agrar- und Wirt-, Schaftssystems materiell.und ideell aufs schwer-, st igaachädigt.jtorckn ist... wird es..nicht leicht seifig daK'V&trauehVi der? sich gegenäbemdeiw'r volksdemokratischen Regime und jeder echten Sozialisierung ablehnend verhaltenden konservativen Bauernbevölkerung zu gewinnen.' *

Abgesehen von den großen psychologischen und organisatorischen Schwierigkeiten, die eine organische Wirtschaftspolitik auf dem agrarischen und industriellen Sektor in diesen sozialisierten Entwicklungsländern zu überwinden hat, fehlen noch vielfach die materiellen Voraussetzungen, von denen eine Erhöhung der Agrarproduktion abhängt. So mangelt es an ausreichenden und preiswerten Produktionsmitteln und täglichen Bedarfsartikeln, um deren Erwerb es sich, für die Landbevölkerung auch lohnt, durch mehr und sinnvollere Anstrengung und Arbeit größere Mengen und bessere Qualitäten, als für die Selbstversorgung nötig sind, zu produzieren. Aehnlich fehlen auch bisher, abgesehen von wenigen Ansätzen, die Voraussetzungen für eine Aenderung der industriellen Produktionsstruktur als Ergänzung zur Landwirtschaft, die auch fast immer noch, das Antlitz des Südostens prägt.

Diese Voraussetzungen können nur durch eine rationelle Nutzbarmachung der in den ost-und südosteuropäischen Staaten noch vorhandenen Produktionsreserven im Wege einer ökonomischen und nicht nur ideologischen Wirtschaftspolitik und in enger Zusammenarbeit mit dem Ausland geschaffen werden. Denn jede rationell, das heißt unter Berücksichtigung der natürlichen,.' sozialkulturellen und ökonomischen Gegebenheiten und finanziellen Möglichkeiten erfolgende Umstellung und Entwicklung dieser Volkswirtschaften muß notwendigerweise auch zu einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Verflechtung mit der übrigen Welt führen. Weil die Sowjetunion die entsprechende kapitalmäßige und fachliche Unterstützung als ..technical assistance“ im weitesten Sinn des Wortes den ost- und südeuropäischen Ländern in dem erforderlichen Ausmaß, wie die Erfahrung (der letzten zehn Jahre) lehrt, nicht zur Verfügung stellen kann, sind diese Volkswirtschaften, je mehr sie eine ökonomische Wirtschaftspolitik treiben, .um so stärker auf eine Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen.

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