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Ein Sparefroh ist noch lange kein guter Sozialpolitiker

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Gegenüber der Pionierzeit staatlicher Sozialpolitik hat der Fortschritt der Produktionsverhältnisse den Spielraum für soziale Maßnahmen gewaltig erhöht. Gleichzeitig ist aber auch eine andere Entwicklung eingetreten, die uns nun zu schaffen macht. Die in Bewegung gesetzten Umverteilungsvorgänge haben den Rahmen dessen weit überschritten, was durch die Sozialgesetzgebung - vor allem mittels Beitragszahlungen - für einschlägige Zwecke gewidmet wurde. Es sind strukturelle Defizite der sozialen Einrichtungen entstanden, die durch eine de facto bestehende, sozusagen politische Ausfallshaftung der Republik abzudecken sind.

Auf diese Weise wurden, obwohl das keineswegs ursprüngliche Absicht war, die sozialen Kreisläufe mit dem Staatsbudget verknüpft. Als Folge entfiel die natürliche Kostenbremse, welche durch die Widmung bestimmter Teile des Volkseinkommens für soziale Zwecke an sich gegeben wäre. Am deutlichsten ist dies bei der Pensionsversicherang zu erkennen. In anderen Bereichen ist diese Konfusion von Sozial- mit Staatsaufwendungen weniger sichtbar, aber dennoch vorhanden. So hat sich der Staat ein Viertel der für den gesellschaftlichen Familienlastenausgleich gewidmeten Beträge angeeignet, zur Altersversorgung umgeschichtet und der Bahn durch überhöhte Tarife für Schüler- „Freifahrten" zugeschoben. Wir haben in der Sozialpolitik theoretischklare, auch finanzielle Zuständigkeiten, die aber durch ein permanentes Jonglieren nach der „Loch zu, Loch auf"-Methode hinfällig werden.

Diese Vermengung der sozialen und staatlichen Finanzierungskreisläufe hat verhängnisvolle Auswirkungen. E$ werden nämlich nicht nur die Regulierungskräfte der einzelnen Einrichtungen zurückgedrängt, sondern ep tritt eine ungute Konkurrenz von Zifelen der sozialen Einkommensvermittlung mit denen der „klassischen" Gemeinschaftsaufgaben zutage. Die „klassische" Sozialpolitik ging von der eher simplen Betrachtung aus, daß dort, wo unternehmerisch gehandelt wird, auf jeden Fall genug abfällt, um etwas für die Arbeitnehmer und die sozial Schwachen herauszuholen.

In der Nachkriegszeit des Aufbaues und in der Phase von Hochkonjunktur und Wachstum sah man die Betriebe gern als unsinkbare Schiffe. Eine umfangreiche sogenannte „Gemeinwirtschaft" sollte alles in wohlgeordnete Bahnen lenken. Die Zeit dieser Illusionen ist vorbei. Heute wissen wir es: Wohlstand und Arbeitsplätze können nur dadurch gesichert werden, daß man aktionsfähigen, keine Subventionen verschlingenden, sondern fleißig Steuern abliefernden Betrieben das Uberleben ermöglicht. Deren Manövrierfähigkeit wird aber heute nicht unerheblich durch die Verpflichtung behindert, ihrem Personal beamtenähnlichen Schutz zu geben — mit möglichst schwer auflösbaren Dienstverhältnissen bei gleichzeitigem regelmäßigen Lohnanstieg und vielen Rechten in Problemlagen aller Art, wie Krankheit, Mutterschaft oder Pflege von Angehörigen. So sind wir zu Lohnnebenkosten in Rekordhöhe gelangt und von der Gefahr bedroht, daß wir mit der sozialpolitischen Säge den Wirtschaftsast abschneiden, auf dem wir alle sitzen.

Besonders zu registrieren ist eine sehr starke Änderung dessen, was man als „soziales Bewußtsein" in der Bevölkerung bezeichnen müßte. Ging es in der Frühzeit der Sozialgesetzgebung darum, Ausbeutung zu verhindern und existentielle Sicherheiten herzustellen, trat in der weiteren Folge das Ziel in den Vordergrund, ein möglichst geschlossenes System von Ansprüchen und Rechten herzustellen. Die vorherrschende Betrachtungsweise war dabei - was eindeutig Folge sozialistischer Gesell -Schaftsauffassung ist - die einer kämpferischen Auseinandersetzung zwischen Gegnern.

Die heutige Krise der Sozialpolitik ist eine direkte Folge des Umstandes, daß ihre Amtsträger immer so taten, als könnten sie Wohlstand und Einkommen ohne Gegenrechnung und Kosten verschaffen. Offenbar verstehen die Menschen die wahren Zusammenhänge inzwischen rascher und besser als jene, die an den Schalthebeln der Sozialgebilde sitzen und ihre Existenzberechtigung beweisen müssen. Immer mehr festigt sich das Bewußtsein, daß wir nichts anderes können, als soziale Zuwendungen auf Kosten der Allgemeinheit zu vermitteln. Einen echten Gestaltungsspielraum gibt es nicht nach den Kategorien von Klassen und Ständen, sondern nur in bestimmten Modalitäten der Zuwendung und Kostentragung. Es ist möglich und notwendig, wirtschaftlich Stärkere in einem höheren Maß zu belasten und es ist möglich und notwendig, den Empfängerkreis nach vernünftigen Kriterien der Bedürftigkeit zu begrenzen. Je größer die Dimensionen der Umverteilungsvorgänge sind, um so weniger kann es aber gelingen, irgendjemanden von den Kosten zu verschonen.

Anspruchsdenken, das über lange Zeit geschaffen und gepflegt wurde, findet sein Ende. Eigentlich müßte nun ein großes Selbstbekenntnis derer erfolgen, die aus Leichtfertigkeit, parteipolitischem Prestigedenken, populistischem Wählerfang oder einfach Unverstand geglaubt haben, sie könnten sich über wirtschaftliche und soziale Grundtatsachen hinwegsetzen und dabei auch noch unentdeckt bleiben.

Bedrückend ist, daß es keine Perspektiven für die überfällig gewordenen Beformen gibt. Wohl existieren veränderungswillige Kräfte, aber sie berufen sich fast ausschließlich auf wirtschaftliche Gesichtspunkte. So reduziert sich - was im Umfeld der jüngsten Nationalratswahl deutlich sichtbar wurde - der Veränderungsprozeß auf eine Auseinandersetzung zwischen den politischen Disziplinen „Sozial" und „Wirtschaft". In der SPO krallen sich Kohorten von Funktionären an bisherigen Positionen fest und meinen, daß die Finanzierungsprobleme von der Bevölkerung einfach weggewählt wurden. Andere -wie der neue Finanzminister - suchen nach Wegen pragmatischer Vernunft. Eine sozialpolitische Grundsatzdebatte gibt es nicht, sondern eher nur Jammern über den Verlust von Errungenschaften samt Forderung nach Fortwursteln und Abkassieren der „Reichen".

Bei der ÖVP ist es um kein Jota besser. Diese Partei hätte ein kostbares christlich-soziales Erbe einzubringen, aber sie unterläßt das. Aus welchem Grund wohl? Ein Sparefroh ist noch lange kein Sozialpolitiker. Die Notwendigkeit einer drastischen Kosten-reduktion samt dem Offenkundigwerden der Fehlerhaftigkeiten „roter" Sozialpolitik ergäbe die große Chance, endlich das umzusetzen, was von Generationen christdemokratischer Denker erarbeitet und bisher meist vergeblich gefordert wurde. Die Förderung der Vermögensbildung von Arbeitnehmern etwa oder Schaffung von Formen der betrieblichen Mitbestimmung, die nicht Organisationsmacht, sondern die Rechte der einzelnen stärken. Das gesamte Arbeitsverhältnis ist ja heute neu zu überdenken. Wo bleibt der vielgepriesene „dritte Weg" einer sozialen Marktwirtschaft, die nicht nur Renten auszahlt, sondern konsequent auf ein modernes, menschengerechtes Arbeitsleben hinarbeitet? Auch die bedrückend zunehmende Arbeitslosigkeit böte die Chance, neue Wege zu beschreiten. Sie ist - seien wir ehrlich - eine „relative". Es gibt genug ungetane Arbeit, aber Angebot und Nachfrage kommen nicht zusammen. Arbeitslose sind heute Menschen, die keine Reschäftigung finden, welche ihrer Ausbildung, ihrer Leistungsfähigkeit und ihren Einkommensvorstellungen entspricht. Umgekehrt werden die Retriebe immer wählerischer. Sie suchen junge, exzellent ausgebildete Leute, die mehr leisten und weniger verdienen als Arbeitnehmer reiferen Alters. Sie beschäftigen zunehmend Personen, die aus Regionen niedrigen Lebensstandards kommen oder dort noch leben.

Wir ähneln zunehmend Kolonialherren, die sich „niedrige" Dienste von anderen liefern lassen, die aber nur mehr in der Illusion einer Überlegenheit leben. Das, was wir den anderen (vermeintlich) voraus haben, sind die längst im Begriffe, zu erlernen sowie fleißiger und billiger zu erledigen. Ständig wird überlegt, eine Beschäftigung, die womöglich bald niemand mehr bei uns nachfragen wird, durch Arbeitszeitverkürzung auf mehr Personen aufzuteilen. Damit „verkürzen" wir aber auch die Leistung jener, die viel können oder deren Arbeitskraft wir dringend brauchen.

All das sind Ausflüsse eines Primitivdenkens in der Sozialpolitik, das niemand beim Namen nennt und dessen Infragestellen von stets wehleidigen Linken niedergebuht wird. Mehr Steuern zahlen, weniger arbeiten -das sind die Parolen, mit denen von mancher Seite auf jene gewaltigen Herausforderungen reagiert wird, die wir annehmen müssen, wenn wir nicht im harten internationalen Wettkampf auf die Beschränktheit einer immer mehr entindustrialisierten Gesellschaft zurückfallen wollen.

Es werden viele und ganz neue Wege zu suchen sein, sinnvolle Arbeit zu fördern. Der erste Schritt wird darin bestehen müssen, die Kosten der Sozialpolitik nicht mehr in erster Linie dort zu kassieren, wo Löhne und Gehälter ausbezahlt werden, sondern bei Einkommen, Vermögen, Konsum, Rohstoff- und Energieverbrauch. Neue und flexible Formen der Beschäftigung werden zu fördern und sozial abzusichern sein, wobei wir die heutige starre Trennung zwischen „Selbständigen" und „Unselbständigen" werden aufgeben müssen.

Die Politik unseres Landes ist schwach geworden und verzehrt ihre Kräfte in politischen Grabenkämpfen. Jeder lobt die Dokumente der Kirche zur sozialen Frage, aber sie werden nur als Schmuck oder Alibi wie Ikonen an die Wand gehängt. Wenn die Volkspartei in dieser entscheidenden, weil krisenhaften Phase unserer gesellschaftlichen Entwicklung nicht zu neuen sozialen Ufern aufbricht, macht sie sich schuldig. Sie müßte das einsehen, bevor die Menschen zu ganz anderen politischen Kräften Zuflucht nehmen, welche uns in gefährliche Experimente eines neuen Radikalismus führen könnten.

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