Werbung
Werbung
Werbung

Ohne in stärkerem Maß als bisher Eigenverantwortung zu fordern, werden im zukünftigen Österreich Egoismus und Inhumanität siegen.

von Wolfgang Mazal

Es steht für mich außer Frage, dass die Systeme der sozialen Sicherheit in Österreich - wie in anderen vergleichbaren Ländern - in den nächsten Jahren von mehreren Seiten unter Druck kommen werden:

Hinlänglich bekannt ist der Finanzierungsdruck: Angesichts einer weltweiten Beweglichkeit für Kapitalien und Unternehmen wird die Frage, welche Finanzquellen in ausreichendem Maß ergiebig sein werden, um die soziale Sicherheit zu finanzieren, immer drängender werden: Abgaben auf Unternehmensgewinne, Kapitalerträge und Sachgüter können Ausweichstrategien provozieren, eine weitere Erhöhung der Abgaben auf Arbeitsleistungen kann Arbeitsplätze gefährden, eine Erhöhung von Verbrauchssteuern hätte sozial weithin negative Effekte und Abgaben auf Grund und Boden beziehungsweise den Erbgang sind nicht gerade populär.

Alle Wünsche sind unerfüllbar

Dies wird vor allem angesichts eines aus mehreren Ursachen steigenden Anforderungsdrucks zu Systemproblemen führen: Zum einen sind wird jeden Tag mit Wünschen zur Verfeinerung des bestehenden Sozialsystems konfrontiert, zum anderen ist evident, dass große neue Anforderungen insbesondere zur Sicherstellung von Pflegedienstleistungen, der Ermöglichung der Integration von Migranten, zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zur Hebung der inneren und äußeren Sicherheit, sowie im Bildungsbereich entstehen. Jeder dieser Wünsche ist für sich legitim, in ihrer Summe sind sie unerfüllbar, zumal wenn gleichzeitig eine Senkung der bereits hohen Abgabenlast gefordert wird.

Beide Tendenzen könnten in ihrem Zusammenspiel dazu führen, dass die Systeme der Sozialen Sicherheit unter einen gewaltigen Legitimationsdruck kommen: Wenn für steigende Anforderungen zu wenig Geld zur Verfügung steht, besteht die Gefahr, dass eine latent heute schon verbreitete Unzufriedenheit mit dem System fundamental aufbricht und dass das System in wesentlichen Teilen in Frage gestellt wird. Dass die Belastung aus den Staatsschulden die politischen Handlungsspielräume einengt, kann diese Situation massiv verschärfen.

Wer soll Lebensrisiken tragen?

Im Ergebnis wird eine neue Prioritätensetzung erforderlich werden: Wir müssen neu definieren, welche Lebensrisiken in welchem Ausmaß (beide Aspekte sind wichtig) vom Einzelnen oder von der Allgemeinheit zu tragen sind. Die dabei auftretenden Verteilungsfragen könnten den sozialen Friede und den gesellschaftlichen Zusammenhalt durchaus gefährden, wenn es nicht gelingt, eine politische Kultur zu entwickeln, in der die Einforderung von Eigenverantwortung differenzierter als mit populistischen Schlagworten - "asozial", "kaputtsparen", "neoliberal" - erörtert wird: Nur wenn es gelingt, Eigenverantwortung als positiven Aspekt der Ausgestaltung des Sozialsystems zu sehen, wird seine Erhaltung in jenen Kernen finanziell möglich sein, in denen Solidarität für die Sicherung einer humanen Gesellschaft notwendig ist. Dazu wird es auch notwendig sein, die derzeit in fehlerhaften Strukturen (etwa im Gesundheitswesen) liegende Mittelverschwendung abzustellen, Effizienzreserven auch gegen den Widerstand mannigfaltiger Interessengruppierungen zugunsten der Bedürftigen zu reduzieren.

Ich bin der Auffassung, dass das Sozialsystem auch in der Zukunft jene Risiken, die den Einzelnen überfordern, der Gemeinschaft überträgt. Dabei nehmen für mich die Behandlungskosten für Krankheiten, die Folgen körperlicher und geistiger Behinderung, sowie die Gewährleistung von Pflege im Alter den zentralen Stellenwert ein. Hier geht es um Lebenssituationen, bei denen die Grenzen zumutbarer Eigenleistung typischerweise rasch überschritten sind und bei fehlender Bedarfsdeckung die Humanität unmittelbar gefährdet ist. Dies wird freilich nur möglich sein, wenn wir auch akzeptieren, dass in stärkerem Maß als bisher Eigenverantwortung einzufordern ist, wo dies dem Einzelnen zugemutet werden kann. Dazu ist es notwendig, dass der Staat den Menschen zeitgerecht die Notwendigkeit von Eigenvorsorge signalisiert, damit sie durch Neuordnung der Prioritäten in ihren privaten Haushaltsbudgets reagieren können.

Die mit alledem zwingend einhergehende Verschiebung von Prioritäten nicht nur in öffentlichen, sondern auch in privaten Haushalten - Risikovorsorge versus Sachgüterkonsum - wird Bürger, Wirtschaft und politisches System vor große Herausforderungen stellen: Wenn es nicht gelingt, in der politischen Kultur Abschied vom Populismus zu nehmen und die Nagelprobe der Solidarität dort zu bestehen, wo sie für die Mehrzahl der Bürger auch Belastungen mit sich bringt, werden unter der Tünche des vorgeblich sozialen Anspruchs, Politik für den "kleinen Mann" zu machen, Egoismus und in letzter Konsequenz Inhumanität obsiegen.

Der Autor ist Professor am Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien.

Die Rückschau sollte zur Wiederbelebung von früher erfolgreichen Orientierungen führen: Solidarität und sozialem Ausgleich.

von Emmerich Tálos

Dass 2005 ein "Ablenkungsjahr" wird, ist ziemlich gewiss. Ob es ein "Gedankenjahr" wird, wird sich zeigen. Die Chancen stehen schlecht, denn für das erste Nachkriegsjahrzehnt war prägend, wovon sich heutige Politik längst verabschiedet hat: gemeinsame Anstrengungen und Initiativen, um eine äußerst schwierige Situation zu bewältigen. Dass der und die Einzelne, der Markt und die Familie überfordert und staatliche Steuerung unumgänglich war, darüber gab es in den Nachkriegsjahrzehnten breiten politischen Konsens.

Auch wenn dieser damalige Grundkonsens, die gemeinsamen Kraftanstrengungen und solidarisches Handeln im Österreich des ersten Nachkriegsjahrzehnts in den nächsten Monaten bejubelt werden, handelt es sich dabei um Orientierungen und Haltungen, die seit einiger Zeit "out" sind. In Österreich wird gegenwärtig wie in vielen anderen Ländern der EU zunehmend mehr auf die "Problemlöser" Markt und Individuum gesetzt. Nicht der soziale Ausgleich und das Suchen nach gemeinsamen Lösungen, sondern der Interessenpartikularismus und der Einsatz parlamentarischer Mehrheiten dominieren das politische Geschäft. Zusammenarbeitsformen wie Sozialpartnerschaft sind in einem solchen Umfeld zu nostalgischen Auslaufmodellen geworden - zwar immer gut für Feiertagsreden, praktisch allerdings ohne merkbare Relevanz.

Keine Fortschreibung der Tradition

Im "Gedankenjahr 2005" steht nicht nur an, die Widersprüchlichkeit des auf Vergangenheit Bezug nehmenden Rückblicks ohne Bezug auf die Gegenwart aufzuhellen. Der Rückblick sollte die ebenso wichtige Frage danach nicht verdrängen, wie es vor allem gesellschaftspolitisch weitergehen soll. Mit jener Ausrichtung, die insbesondere die letzten Jahre prägte? Ist eine Pensionsreform, die von absehbaren Entwicklungen am Erwerbsarbeitsmarkt in Richtung Atypisierung, Heterogenisierung und Ungleichheiten abstrahiert, Begleitmusik einer sich vertiefenden Spaltung unserer Gesellschaft? Würde nicht der Mix von neoliberal und konservativ orientierter Gesellschaftspolitik die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern noch verstärken? Das Leben würde damit nicht nur an den Rändern des Arbeitsmarktes immer weniger sozial erträglich. Eine derartige Zukunft ist möglich, aber nicht unabwendbar.

Eine alternative Ausrichtung von Politik bestünde keineswegs in der bloßen Fortschreibung der Tradition der Nachkriegsjahrzehnte. Wie das Beispiel sozialstaatlicher Sicherung zeigt, hatte diese im 20. Jahrhundert einen Bezugspunkt, der schon heute nicht, geschweige denn zukünftig allein adäquat ist: das so genannte Normalarbeitsverhältnis. Darunter wird ein vollzeitiges, kontinuierliches arbeits- und sozialrechtlich abgesichertes Beschäftigungsverhältnis verstanden. Diese Form der Beschäftigung, die in erster Linie die Erwerbsbiografien von Männern kennzeichnete, bricht auf - ablesbar an der Verbreitung davon abweichender und daher heute als "atypisch" bezeichneter Formen wie Teilzeitarbeit, befristete und geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit, freies Dienstverhältnis und neue Selbständigkeit. Der Trend in diese Richtung ist nicht nur unumkehrbar, sondern wird die Zukunft des Erwerbsarbeitsmarktes und der Beschäftigten noch sehr viel mehr prägen. Diese Entwicklung ist mit Chancen wie mehr Gestaltungsspielraum, aber auch mit Risiken verbunden. Risiken wie zu geringe Einkommen, keine Aufstiegsmöglichkeit, schlechte Qualifizierungschancen und soziale Ausgrenzung werden am Erwerbsarbeitsmarkt erzeugt und sind individuell allein nicht steuerbar.

Individuelle Absicherung schaffen

Der Sozialstaat ist - entgegen neoliberalem Gerede - weder weit gehend überflüssig noch die Ursache heutiger wirtschaftlicher und sozialer Probleme. Allerdings: Der Sozialstaat bedarf eines erweiterten Blickwinkels: Stand im 20. Jahrhundert die Absicherung der vollzeitig Erwerbstätigen im Blick, so sollte diese im 21. Jahrhundert darüber hinaus auf die veränderten Arbeitsmarktbedingungen Bezug nehmen. Konkret heißt das eine substanzielle Erweiterung des Sozialstaates durch die breite Verankerung einer materiellen Grundsicherung. Dies liefe nicht nur auf die Vermeidung von Verarmung und Ausgrenzung hinaus, sondern würde einen Grundanker für eine individuelle Absicherung unter veränderten Arbeitsmarktbedingungen bilden. Das zu erreichen bedürfte allerdings des Wiederbelebens von Orientierungen, die auch im ersten Nachkriegsjahrzehnt prägend waren: Solidarität und sozialer Ausgleich. Dabei könnte die Miteinbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in politische Entscheidungen das traditionelle Akteurespektrum wesentlich bereichern. Auch darüber ließe sich im "Gedankenjahr" nachdenken.

Der Autor ist Professor am Institut für Staatswissenschaft und vergleichende Gesellschaftswissenschaft an der Universität Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung