Die Wahrheit ist zumutbar

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Zum Dossier. Die gesellschaftliche Altersvorsorge auf eine neue, tragfähige Basis zu stellen, ist eine der großen Herausforderungen, vor die sich die Politik in Österreich und in der Europäischen Union gestellt sieht. Der Aufbau einer eigenen Vorsorge ist dabei unumgänglich.

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Zum Dossier. Die gesellschaftliche Altersvorsorge auf eine neue, tragfähige Basis zu stellen, ist eine der großen Herausforderungen, vor die sich die Politik in Österreich und in der Europäischen Union gestellt sieht. Der Aufbau einer eigenen Vorsorge ist dabei unumgänglich.

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Sind Renten und Pensionen nicht nur heute, sondern auch künftig gesichert? Kann der nach einem langen Berufsleben erreichte persönliche Lebensstandard auch im Alter aufrecht erhalten werden? Und reichen dazu die bestehenden öffentlichen Sozialsysteme, oder brauchen wir neue Formen der Vorsorge? Solche und ähnliche Fragen sind nicht länger nur Gegenstand privater Gespräche und wissenschaftlicher Debatten, sondern auch der politischen Diskussion. In Deutschland wird vor und nach dem letzten Regierungswechsel um eine Reform des Rentensystems gerungen. Italien und andere Länder haben solche Reformen bereits beschlossen. Österreich hat bisher nur kleinere Korrekturen am bestehenden System vorgenommen, plant nun zusätzliche Maßnahmen, und man ahnt, daß noch weitere werden folgen müssen.

Zwar schafft die Diskussion um die Rente Unsicherheit, dennoch ist sie ein Fortschritt. Immerhin wird das Problem nun von der Politik als solches erkannt, nachdem diese es viele Jahre verdrängt, ja geleugnet hatte. Dieses Verdrängen, die Scheu vor grundlegenden Reformen haben eine handfeste Ursache: die soziale Altersvorsorge stellt, im finanziellen Aufwand sowie im öffentlichen Bewußtsein, die tragende Säule im Gebäude des europäischen Wohlfahrtsstaates dar, wie er sich seit dem Ende des zweiten Weltkriegs entwickelt hat. Erweist sie sich als gebrechlich oder gar einsturzgefährdet, so gerät damit die ganze Konstruktion ins Wanken. Dieser Gefahr kann nur begegnet werden, wenn die Überlastung des Systems abgebaut, Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat zurückgeschraubt werden. Eine Reform mit diesem Ziel, selbst wenn sie auf Dauer die einzig zielführende ist, kann jedoch kaum mit spontanem öffentlichen Beifall rechnen.

In allen westlichen Industriestaaten sehen sich die öffentlichen Pensionssysteme vor gravierende Probleme der langfristigen Finanzierbarkeit gestellt. Höhere Lebenserwartung, früherer Eintritt in den Ruhestand und ein steigendes Pensionsniveau lassen die Ausgaben rascher wachsen als die gesamtwirtschaftliche Leistung. Mit dieser Dynamik halten die Einnahmen nicht Schritt; vielmehr dämpfen Geburtenrückgang, längere Studienzeiten, Arbeitslosigkeit und früheres Ausscheiden aus dem Berufsleben das Aufkommen an Versicherungsbeiträgen.

Während die demographische Belastung aufgrund der steigenden Lebenserwartung bislang durch den Geburtenboom nach dem zweiten Weltkrieg und die dadurch steigende Erwerbsbevölkerung weitgehend neutralisiert wurde, verschärften vor allem das seit Mitte der siebziger Jahre verlangsamte Wirtschaftswachstum und die steigende Arbeitslosigkeit die Finanzierungsprobleme. Nicht nur waren die Arbeitsmärkte für neu Eintretende wenig aufnahmefähig; gleichzeitig wurden Frühpensionen als arbeitsmarktpolitisches Instrument eingesetzt und das gesetzliche Rentenalter mehr und mehr ausgehöhlt. Hinzu kamen höhere Ausgaben als Folgewirkung von Leistungsverbesserungen, die in der "goldenen" Ära des Wirtschaftsbooms der sechziger und frühen siebziger Jahre beschlossen worden waren.

Die zusätzlichen Ausgabenlasten aufgrund der Wachstumsschwäche erforderten höhere Finanzierungsbeiträge, sei es aus den öffentlichen Haushalten, sei es aus höheren Versicherungsbeiträgen. Sie verschärften damit einerseits die Budgetprobleme, andererseits belasteten sie in Form höherer Lohnnebenkosten Wettbewerbsfähigkeit und Ertragskraft der Produktion, und damit die privaten Investitionen und das Wirtschaftswachstum. Indem die Wirtschaftsschwäche zu steigenden Soziallasten führte, diese wiederum das Wachstum dämpften und neuerlich höhere Sozialausgaben erforderten, wurde ein "Teufelskreis" in Gang gesetzt, der nur durch eine koordinierte Strategie wirtschafts- und strukturpolitischer Reformen durchbrochen werden kann.

Zu den bisher ungelösten Finanzierungsproblemen tritt in den nächsten Jahrzehnten ein massiver Alterungsschub der Bevölkerung. Er ist dadurch bedingt, daß bei weiterer Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter abnimmt, als Folge des seit den späten sechziger Jahren fallenden Trends der Geburtenzahl. Die demographische Alterslastquote, i. e. die Altenbevölkerung (Personen über 60) im Verhältnis zur Bevölkerung im Erwerbsalter (15 bis 59 Jahre) steigt dadurch in Europa von derzeit etwa einem Drittel bis 2030 auf mehr als die Hälfte. Entsprechend, so zeigen Modellprojektionen, müßten die Pensionsbeitragssätze der aktiven Beschäftigten innerhalb einer Generation bis auf das Doppelte des heutigen Niveaus steigen.

Eine solche Beitragslast, wie sie die demographische Entwicklung langfristig erfordert, im herkömmlichen Weg bei unveränderten Leistungsansprüchen zu finanzieren, erscheint unmöglich. Weder kann der Staatshaushalt damit belastet werden, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten; noch können die Versicherungsbeiträge entsprechend erhöht werden, ohne daß aus den hohen Lohnnebenkosten negative Folgen für Wachstum und Beschäftigung entstünden und das System von den Aktiven zunehmend abgelehnt würde. Der "Generationenvertrag", auf dem die sozialen Versorgungssysteme beruhen, hält einer gravierenden zusätzlichen Belastung nicht stand.

Die Lösung des Problems muß daher in einer Beschränkung des Ausgabenwachstums gesucht werden, i. e. in geringeren Leistungen für künftige Rentenjahrgänge. Die am nächsten liegende und zielführendste Möglichkeit hiezu bietet eine Anhebung des effektiven Renteneintrittsalters, das in Europa vielfach deutlich unter dem 60. Lebensjahr liegt. Diese Lösung verspricht nicht nur die größte finanzielle Entlastung. Sie erscheint auch aus ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen Gründen sinnvoll, wenn langfristig die Erwerbsbevölkerung schrumpft. Und sie ist auch im Hinblick auf die steigende Lebenserwartung und den sich verbessernden Gesundheitszustand der älteren Menschen sozial vertretbar.

Solche Maßnahmen, die zur Sicherung des finanziellen Gleichgewichtes die Leistungen einschränken, berücksichtigen jedoch nicht den Wunsch der Bevölkerung nach Einkommenssicherheit und wachsendem Wohlstand auch im Alter. Dieser Wunsch wird stärker, wenn die Menschen einen längeren Teil ihres Lebens im Ruhestand verbringen, und bei besserer Gesundheit auch ihre Konsumwünsche steigen. Hiefür werden sie auch durchaus bereit sein, mehr Mittel als heute aufzuwenden, sofern sie ihre Ansprüche aus eigener Beitragsleistung gegen demographische und politische Risiken gesichert wissen, und sofern ihnen größerer individueller Gestaltungsspielraum hinsichtlich ihrer Altersvorsorge eingeräumt wird. Hierin liegen die Schwächen der kollektiven staatlichen Versorgung, und, um diese auszugleichen, finden private Formen der Vorsorge steigende Akzeptanz. Der Aufbau einer "zweiten Säule" der Altersvorsorge, beruhend auf kapitalgedeckten Versicherungsansprüchen und individueller Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit erscheint daher auf mittlere Sicht unumgänglich.

Die soziale Alterssicherung fällt in die Kompetenz der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, sie ist nicht Teil der Politik der Gemeinschaft. Dennoch hat die EU ein Interesse an einem System der sozialen Sicherheit, das im Binnenmarkt die möglichst ungehinderte Mobilität der Arbeitskräfte gewährleistet. Auch in dieser Hinsicht scheint ein Vorsorgesystem, das Flexibilität, Wahlfreiheit, und Übertragbarkeit der Ansprüche gewährleistet, zukunftsweisender zu sein als die herkömmlichen kollektiven Systeme der Pflichtversicherung.

Der Autor ist stellvertretender Abteilungsleiter in der Europäischen Kommission in Brüssel. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder.

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