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Sozialnete neu knüpfen

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Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen hat den Ruf nach Eigenvorsorge lauter werden lassen. Noch ist Zeit zu einer Korrektur bestehender sozialer Einrichtungen.

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Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen hat den Ruf nach Eigenvorsorge lauter werden lassen. Noch ist Zeit zu einer Korrektur bestehender sozialer Einrichtungen.

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Als im Jahre 1977 der damalige Finanzminister die Meinung äußerte, im Hinblick auf die demographische und wirtschaftliche Entwicklung wären eine sinnvolle Korrektur der sozialen Einrichtungen und ein Ausbau der Eigenvorsorge in Österreich dringend notwendig, wirkte dieser öffentliche Zweifel an der Ewigkeit und Unerschütterbarkeit des österreichischen Wohlfahrtsstaates wie ein Paukenschlag. Lediglich einige wenige Insider hatten bis dahin vor einer Uberforderung des Systems der sozialen Sicherheit in unserem Lande gewarnt.

Nach einer mehr als zwei Jahre lang anhaltenden öffentlichen Diskussion ist dieses Thema heute zum Allgemeingut geworden. Der Begriff der „Eigenvorsorge“ dient der Versicherungs- und Kreditwirtschaft als gängiges Schlagwort und wird auch von Bausparkassen, Wohnbauunternehmen und anderen Institutionen verwendet. Der Werbeaufwand in den verschiedenen Medien zeigt dies in einer bis zur Pene-tranz gehenden Deutlichkeit.

Gleichzeitig dient das Argument der Eigenvorsorge sowohl den Gegnern wie auch den Befürwortern der Reprivatisierung als willkommenes Zubrot im Streit darüber, ob es künftig mehr oder weniger Staatseinfluß in Österreich geben sollte.

All dies hat unzweifelhaft zu einer Verstärkung der ideologisch besetzten Positionen beigetragen und dazu geführt, daß die beiden wichtigsten Probleme der sozialen Sicherheit in Österreich, nämlich die Reform der Alterspension und die der Krankenhausfinanzierung, mit Ausnahme einiger kleinerer, in ihren Auswirkungen bloß „kosmetischen“ Korrekturen weiterhin ungelöst bleiben. Den Befürwortern von mehr Eigenvorsorge wird überdies ständig der Vorwurf gemacht, mit ihren Vorschlägen Sozialdemontage zu betreiben.

Dieser Vorwurf, der aus der Sicht der österreichischen Privatversicherung überaus ernst genommen wird, muß jedoch zurückgewiesen werden! Die österreichische Sozialversicherung hat in ihrer 100jährigen Geschichte einen Entwicklungsstand erreicht, der im internationalen Vergleich eine absolute Spitzenposition darstellt.

Aus heutiger Sicht zeigt sich aber, daß in den Jahren der Hochkonjunktur, des Arbeitskräftemangels und einer günstigeren demographischen Bevölkerungsstruktur verschiedene Maßnahmen gesetzt wurden, die im Hinblick auf ihre späteren finanziellen und soziologischen Auswirkungen besser unterblieben wären. Allerdings sollte man es einer Generation von Politikern und Interessenvertretern, die Arbeitslosigkeit, Bürgerkrieg und Völkermord miterlebt hat, nicht allzu hart vorwerfen, daß sie sich der trügerischen Hoffnung hingab, ihren Mitbürgern das soziale Paradies auf Erden bereiten zu können.

Die österreichische Sozialversicherung muß als Grundversor-Sung aller Staatsbürger erhalten bleiben. Dies schließt eine allfällige Diskussion über ihre Substitution bei bestimmten Bevölkerungsgruppen von vornherein aus. Die bestehenden Einrichtungen müssen allerdings der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung so angepaßt werden, daß auch die jetzt in das Berufsleben tretende Generation darauf vertrauen kann, in (sozialer) Sicherheit leben, arbeiten und vor allem eines Tages altern zu können.

Schon heute belasten abeit Sozial- und Steuerquoten unsere Exportwirtschaft und den Fremdenverkehr erheblich, und man braucht nicht viel Phantasie, um zu beurteilen, wie sich die nach der Jahrhundertwende zu erwartende noch schlechtere Relation zwischen berufstätiger und nicht mehr arbeitender Bevölkerung auf unsere internationale Konkurrenzfähigkeit auswirken wird.

Die gleiche Überlegung gilt aber auch für den Staatshaushalt: wenn die öffentliche Hand in den nächsten 40 bis 50 Jahren einen immer größeren Teil ihrer Einnahmen für Gesundheit und Pensionsleistungen ausgeben muß, wird dies für ihre übrigen Aufgaben, wie zum Beispiel für Wohnbau, Energie und Verkehr, empfindliche, ja katastrophale Konsequenzen haben.

Um eine solche Entwicklung zu vermeiden, gilt es, einen Konsens der Vernunft, des wirtschaftlich und sozial Machbaren zu finden. Bis zur Mitte der neunziger Jahre liegt eine relativ stabile demographische Periode vor uns. Dieser Zeitraum ist die letzte Chance, um unser soziales Netz behutsam und möglichst langfristig der veränderten Situation im nächsten Jahrhundert anzupassen. Dazu bedarf es aber nicht nur der sachlichen Einsicht, sondern vor allem des Willens zu einer langfristigen Sozialpolitik und des Mutes zur Wahrheit.

Sobald aber einmal feststeht, daß die Differenz zwischen letztem Aktiveinkommen und künftiger Alterspension höher als erwartet ausfallen wird, ist es in der Regel für wirksame Spar- und Vorsorgemaßnahmen zu spät. Diese Situation trifft keineswegs nur für eine kleine Gruppe von Besserverdienenden zu. Das beweist die Tatsache, daß derzeit das Einkommen von rund 30 Prozent der männlichen Angestellten bereits über der Höchstbemes-sungsgrundlage liegt. Gerade weil die Gruppe der Betroffenen schon heute so groß ist und die im Zuge der als „Korrekturen des Leistungssystems“ schamhaft umschriebenen Pensionskürzungen ständig größer zu werden drohen, ist es derzeit mit dem Mut zur Offenheit eher dürftig bestellt.

Es ist sicherlich falsch, wenn damit argumentiert wird, daß die österreichische Bevölkerung für solche Korrekturmaßnahmen kein Verständnis aufbrächte. Dafür, daß die Österreicher sehr wohl bereit sind, Eigenleistungen für ihre Gesundheit und für ihr Alter zu erbringen, ist die außerordentlich große Verbreitung der privaten Krankenversicherung und das stark wachsende Interesse an privaten Lebensversicherungen ein eklatanter Beweis.

Die gesellschaftspolitische Entwicklung hat in unserem Land während der ietzten Jahrzehnte in vielen Lebensbereichen wie Schule, Betrieb und Kultur eine Änderung der Strukturen, mehr Mitbestimmung und mehr Individualität gebracht. Es besteht kein Grund dafür, diesen Ideen den Einzug in Gesundheitswesen und Alterssicherung zu verwehren.

„Die legitime Aufgabe des Staates ist es, das für eine Gemeinschaft von Menschen Notwendige zu tun, nämlich das, was der einzelne unmöglich selbst oder aber allein nicht so gut bewerkstelligen kann. In all das aber, was das Volk selbst gleich gut für sich zu tun vermag, soll sich der Staat nicht einmischen.“ (Abraham Lincoln)

Dem ist auch aus heutiger Sicht

nichts hinzuzufügen.

Der Autor ist Generaldirektor der Austria-Versicherungs AG.

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