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Digital In Arbeit

Im Strudel des Sozialsystems

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Jeder Mensch hat ein Recht auf eine Grundausstattung an sozialer Geborgenheit. Nur: Die Arbeit wird weniger, und die Kosten für das soziale Netz explodieren.

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Jeder Mensch hat ein Recht auf eine Grundausstattung an sozialer Geborgenheit. Nur: Die Arbeit wird weniger, und die Kosten für das soziale Netz explodieren.

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Die Politik muß heute - und zwar angesichts der großen Wahrscheinhchkeit geringerer Wachstumsraten, quantitativer Wachstumsraten bei steigender Qualität des Lebens — sich von einer übermäßigen Befrachtung mit der Entscheidung von Verteilungskonflikten befreien. Der Staat wird sonst an dieser Last selbst zugrunde gehen.

Eine der entscheidenden ordnungspolitischen Aufgaben ist deshalb die Entstaatlichung von Verteilungskonflikten oder Verteilungsprozessen. Mehr Markt in einem sehr klaren und eindeutigen Sinne. Denn der Staat kann am wenigsten ohne Wachstum auskommen, der Markt kann das am besten.

Wenn ich die Struktur so lasse wie sie ist, dann wird ein immer größerer Widerspruch entstehen, zwischen dem, was der Staat zur Lösung der ihm übertragenen oder von ihm in Anspruch genommenen Probleme braucht und was ihm die Bürger dafür zur Verfügung zu stellen bereit sind.

Für eine gewisse Zeit wird dieser Widerspruch durch Staatsverschuldung überbrückt. Nach einer gewissen Zeit wird sich die Bevölkerung gegen die Staatsverschuldung wehren, weil ihr — der Bevölkerung — die Kausalität oder der Zusammenhang zwischen dem Vorteil der Subvention für den Arbeitnehmer einerseits und dem Nachteil der wachsenden Steuerlast andererseits nicht bewußt ist — jedenfalls nicht so bewußt ist, daß er politisch entsprechend handelt.

Alle Parteien, die Konservativen wie die Sozialisten, sind heute der Meinung, es muß eine Grundausstattung an sozialer Geborgenheit geben, niemand darf ins Leere fallen. Eine moderne Industriegesellschaft ist dazu verpflichtet, die Menschenwürde gebietet es.

Gleichzeitig wachsen die Kosten für das Sozialsystem. Gleichzeitig nimmt aber die Arbeit, die bisher Lastenträger gewesen ist, ab.

Die Folge ist, daß wir heute eine Uberf rachtung der Arbeit mit Sozialabgaben haben, die die Verdrängung der Arbeit durch die Technik beschleunigt. Auf diese Weise wird das Phänomen gewissermaßen spiralartig gesteigert, es geht immer schneller, man kann auch sagen, das Sozialsystem ist in den Strudel gekommen.

Wir können das System deshalb so nicht beibehalten — wir können die Arbeitslosigkeit unter Beibehaltung der Verkuppelung von Arbeitsverhältnis und Sozialverhältnis nicht überwinden.

Wir müssen zwei Ziele auf neue Weise reaksieren: Wir müssen die Mobilität und Flexibilität sichern und sogar steigern, und wir müssen gleichzeitig die soziale Geborgenheit für den einzelnen gewährleisten.

Die soziale Geborgenheit verlangt Kontinuität, Voraussehbar-keit, Stabilität, Dauerhaftigkeit der Bindung. Der Arbeitsmarkt verlangt Mobilität, Flexibilität, Ubergang von Selbst- zu Fremdbeschäftigung und wieder zurück.

Der Arbeitgeber war in den Augen der Gewerkschaft der Garant für soziale Sicherheit, direkt oder indirekt. Der Arbeitgeber der Zukunft kann dieser Garant der sozialen Sicherheit nicht sein, weil er seiner Struktur nach überwiegend kleinere und mittlere Unternehmen darstellt, die für sich genommen gar nicht in der Lage sind, solche Risiken zu übernehmen. Wir brauchen aber eine Vermehrung von Arbeitgebern, wenn wir die Arbeitslosigkeit überwinden wollen.

Die Beibehaltung des gegenwärtigen Rentensystems, zum Beispiel, über die Zeitspanne hinaus, in der der heute 25jährige in Rente geht, wird dazu führen, bei rein formaler Fortführung des gegenwärtigen Systems, daß die dann arbeitende Bevölkerung etwa 40 Prozent ihres Einkommens für die Sicherung der Alterseinkommen zur Verfügung stellen müßte.

Es ist ganz offensichtlich, daß die dann arbeitende Bevölkerung nicht bereit ist, so etwas zu tun und auch nicht bereit ist, die poü-tischen Mehrheiten zur Verfügung zu stellen, die so etwas erzwingen würden.

Ein Generationenkonflikt - auch im Bereich der Politik—wäre programmiert, wenn wir so etwas machen würden, wäre meine Vorhersage, daß sich die 60jährigen und älteren politisch organisieren. Und zwar mit der Drohung, die Partei nicht zu wählen, die nicht bereit ist, die Staatsmacht einzusetzen, um ihre Alterseinkommen zu sichern.

Und für Menschen, die ihre Alterseinkommen bisher gesehen haben, sind andere politische Fragestellungen von sekundärer Bedeutung. Die Sicherung des Alterseinkommen ist dann die primäre politische Motivation.

Heute entscheiden

Wir haben die Pflicht, einen sol-chenGenerationenkonfliktzu verhindern. Wir können diese Pflicht einlösen, wenn wir heute Entscheidungen treffen. Warum heute? Weil die Umstellung des sozialen Systems der Sicherheit im Alter 20 bis 25 Jahre verlangt.

Ich muß nämlich dem heute 25jährigen Auskunft über seine Optionen geben können - in 35 Jahren. Damit er seine eigene Lebensplanung, seine Vermögensbildung, seine Lebensversicherungsverträge und was auch immer, entsprechend einrichtet. Damit er weiß, was kann ich von der Gemeinschaft erwarten, was muß ich selbst leisten.

Alle diese Entwicklungen müssen heute vorausgesehen werden, und das Rentenversicherungssystem muß heute entsprechend neu verordnet werden. Vorschläge dazu liegen bereits auf dem Tisch, die Diskussion dazu ist ungewöhnlich schwierig. Sie ist außerordentlich stark von Sensibilitäten befrachtet, aber sie ist politisch zwingend.

Ich halte sie für die wichtigste institutionelle Veränderung im innenpolitischen Bereich, mit der die Politik konfrontiert ist, in Österreich sowie in Deutschland. Und wenn diese Aufgabe nicht gelöst wird, wird sie sehr schnell in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rücken.

Der Autor ist Vorsitzender des CDU-Landesverbandes Westfalen. Der Beitrag ist ein Auszug eines Referats im Rahmen des ..Forum 90” der ÖVP zum Thema „Gesellschaft der Zukunft - Strukturen des Wandels”.

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