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Digital In Arbeit

Diese aber stehen draußen vor der Tür

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Seit dem 19. Jahrhundert stand die Sozialpolitik im Banne des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit. Ihre Aufgabe bestand darin, die Lebenslage der Arbeitnehmer zu verbessern. Die Soziale Frage war eine Arbeiterfrage. Die alte soziale Frage ist inzwischen keine unbeantwortete Frage mehr. Wir kennen die Verfahren und Institutionen ihrer Lösung (wie z. B. Tarifautonomie; Mitbestimmung; Betriebsverfassung). Die industriellen Arbeitnehmer sind nicht mehr eine Randgruppe und nicht mehr proletarisiert. Sie müssen nicht länger als außenstehende Mehrheit ihre Interessen gegen eine Minderheit in der Gesellschaft durchsetzen: Unsere Gesellschaft hat sich zu einer Arbeitnehmergesellschaft gewandelt. Die Startchancen der Arbeitnehmer haben sich erheblich verbessert, ihre Einkommen sind für die mittleren Einkommenslagen überhaupt repräsentativ geworden.

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Seit dem 19. Jahrhundert stand die Sozialpolitik im Banne des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit. Ihre Aufgabe bestand darin, die Lebenslage der Arbeitnehmer zu verbessern. Die Soziale Frage war eine Arbeiterfrage. Die alte soziale Frage ist inzwischen keine unbeantwortete Frage mehr. Wir kennen die Verfahren und Institutionen ihrer Lösung (wie z. B. Tarifautonomie; Mitbestimmung; Betriebsverfassung). Die industriellen Arbeitnehmer sind nicht mehr eine Randgruppe und nicht mehr proletarisiert. Sie müssen nicht länger als außenstehende Mehrheit ihre Interessen gegen eine Minderheit in der Gesellschaft durchsetzen: Unsere Gesellschaft hat sich zu einer Arbeitnehmergesellschaft gewandelt. Die Startchancen der Arbeitnehmer haben sich erheblich verbessert, ihre Einkommen sind für die mittleren Einkommenslagen überhaupt repräsentativ geworden.

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Zu dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sind Konflikte zwischen organisierten und nichtorganisierten Interessen, erwerbstätigen und nicht im Berufsleben stehenden Minderheiten und Mehrheiten getreten. Die Nichtorganisierten, alte Menschen, Mütter mit Kindern, nicht mehr Arbeitsfähige, sind den organisierten Verbänden im Verteilungskampf um das Bruttosozialprodukt in der Regel unterlegen. Kapitaleigner und Arbeitnehmer sind heute in mächtigen Verbänden organisiert. Sie treten nicht nur gegeneinander an, sondern behaupten ebenso wirkungsvoll ihre Sonderinteressen gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen.

Der demokratische Staat läuft Gefahr, sich nur nach organisierten Mehrheiten zu richten. Der Staat als Anwalt des Gemeinwohls hat aber die Aufgabe, die Nichtorganisierten und Minderheiten in der Gesellschaft im Wettstreit um die verteilbaren materiellen und immateriellen Güter zu schützen.

Hier stellt sich die Neue Soziale Frage.

Die Gruppen, die in der alten sozialen Frage früher unterlagen, schneiden bei der Neuen Sozialen Frage gut ab. Sie haben hohe Organisationsgrade, hohes politisches Gewicht und vermögen durch gemeinsame Koalition Lasten auf Dritte zu überwälzen. Die alte soziale Frage war durch die Industrialisierung entstanden und auf die Industrialisierung konzentriert. Sie kulminierte am industriellen Arbeitsmarkt. Inzwischen sind hier starke Verbände entstanden. Die Produzenten des industriellen Sektors, nämlich die Arbeitnehmer und Arbeitgeber, können sich Einkommensvorteüe etwa vermittels höherer Inflationsraten zu Lasten der nicht organisierbaren Konsumenten verschaffen. '

Diese aber stehen draußen vor der Tür, wie die Arbeitnehmer im 19. Jahrhundert. Die ökonomisch begründete Unterteilung unserer Gesellschaft in Klassen von Kapital und Arbeit, wie sie uns die Marxisten und Neomarxisten anbieten, taugt zur Erklärung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht. Zu den Mächtigen unserer Gesellschaft gehören heute nicht mehr allein die Kapitaleigner. Mächtig sind Kapitaleigner und Arbeitnehmer zusammen.

Beide Gruppen sind heute in starken Verbänden organisiert. Sie versuchen nicht nur die jeweiligen Sonderinteressen ihrer Mitglieder gegenüber der anderen Seite durchzusetzen. Sie sind ebenso in der Lage, äußerst wirkungsvoll ihre Sonderinteressen gegenüber der übrigen Bevölkerung zu behaupten.

Es sind die Nichtorganisierten, kinderreiche Familien, alleinstehende Mütter mit Kindern, alte Menschen, die nicht mehr Arbeitsfähigen, Behinderte, zu deren Lasten Vorteile errurf gen werden können. Zu dem Konflikt

zwischen Arbeit und Kapital sind Konflikte zwischen organisierten und nichtorganisierten Interessen, zwischen Minderheit und Mehrheiten, zwischen Stadt und Land, zwischen den Machtausübenden und Machtunterworfenen innerhalb der organisierten gesellschaftlichen Gruppen getreten.

Die Neue Soziale Frage erhält aber nicht dadurch allein ihre Bedeutung, daß anstelle der Arbeiter nur einfaeh neue, leicht erkennbare andere Gruppen sozial Benachteüigter getreten s|nd. Die Wirklichkeit ist differenzierter. Bedeutsam ist vielmehr, daß innerhalb dieser Gruppen trotz gleicher Leistung und gleicher Voraussetzung diejenigen unterprivilegiert sind, die ihre Ansprüche nicht unmittelbar aus einem „Produktionsverhältnis“ ableiten oder durch eine Mitgliedschaft in einem starken Verband vertreten lassen können.

Die Unfähigkeit vieler Menschen, sich gegen Benachteiligungen zu wehren, hängt oft damit zusammen, daß sie über kein wirtschaftlich wirksames Leistungsverweigerungs- und damit über kein Droh- oder Störpotential verfügen, mit dessen Hilfe sie die Berücksichtigung ihrer Interessen erzwingen könnten. Es fehlt ihnen an so-

zialer Homogenität und damit die Möglichkeit, sich zu organisieren und Konflikte auszutragen. Die Unterprivüe-gierten sind oft Minderheiten, brauchen es aber nicht zu sein.

Ein beherrschender großer Konflikt der Gegenwart ist jenes Phänomen, das man etwas überspitzt als „Klassenkampf der Generationen“ bezeichnen kann. Er kann gesehen werden:

• im Verhältnis zwischen Kindern und Jugendlichen einerseits und den Erwachsenen anderseits und

• im Verhältnis zwischen erwerbstätiger und nicht mehr erwerbstätiger Generation.

Eine der bedeutenden Ursachen für den Generationskonflikt “ ist die rasche technisch-wissenschaftliche Entwicklung. So hat sich der Altersaufbau der deutschen Bevölkerung - und ähnliches gut auch für andere Industriestaaten - mit dem Fortschritt der Medizin entscheidend verändert. Um das Jahr 1800 war in Deutschland nur jeder dreißigste älter als 65 Jahre. Im Jahre 1974 war schon jeder siebente Einwohner älter als 65 Jahre. „Das Alter ist zum Politikum geworden“ (Beauvoir).

Die Interessen der erwerbstätigen und nicht mehr erwerbstätigen Ar-

beitnehmer stoßen oft härter aufeinander als die Interessen eines pensionierten Selbständigen und eines pensionierten Arbeitnehmers. So haben die alten Menschen bei der Rentenreform 1972 im Unterschied zur Rentenreform 1957 erfahren müssen, daß sie ihren bisherigen Anwalt - die Gewerkschaft - verloren haben.

Diese Konflikte werden sich in Zukunft noch verstärken. Nicht länger kann davon ausgegangen werden, daß die erwerbstätige Generation wie früher selbstverständlich bereit ist, zugunsten der Kinder und der alten Menschen Verzicht zu leisten. Die sinkende Geburtenrate und die wachsende Isolierung sowie materielle Not vieler alter Menschen sind dafür wichtige Indizien. Der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Deutschland ist gegenwärtig so stark, daß diese Generation zwar nicht unerheblich entlastet wird, dadurch aber der künftige Generation fast kaum mehr zu bewältigende Finanzierungslasten für die Altersrenten auferlegt werden.

Diese Entwicklung ist so ausgeprägt, daß man fast den Eindruck gewinnen könnte, als ob von der heutigen Generation deshalb so anklagend auf die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital hingewiesen würde, um so unbe-

helligter die künftigen Generationen ausbeuten zu können.

Das Konzept der Neuen Sozialen Frage enthält einen neuen Ansatz für die Sozialpolitik. Diese neue Sozialpolitik orientiert sich nicht länger an einer fiktiven Durchschnittsgröße. Wer alle gleich behandelt, behandelt jeden ungerecht. Dieser neue Ansatz hat konkrete politische Konsequenzen.

In der Rentenpolitik lehnt es die CDU ab, die Finanzierungsprobleme einseitig auf dem Rücken der Rentner zu lösen. Die Rentner bilden eine sehr unterschiedliche Gruppe. Es gibt nicht den Durchschnittsrentner. Deshalb gut es zu berücksichtigen, daß neben den Mehrfachrentnern, denen es wirtschaftlich gutgeht, über zwei Millionen Rentner, vor allem Witwen, bereits jetzt unter dem Sozialhilfeniveau liegen. Dem trägt ein sozial gerecht gestaffelter Krankenversicherungsbeitrag der Rentner Rechnung.

Im Konzept der CDU zur Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung konkretisiert sich die Idee der Neuen Sozialen Frage in dem Angebot einer befristet vorgezogenen flexiblen Altersgrenze. Dies ist sowohl sozial- als auch wirtschaftspolitisch begründet: Solidarität der Generationen bedeutet nicht nur Beiträge der Jungen für die Alten, sondern in einer bestimmten Zeit kann dies auch heißen, daß die Älteren zugunsten der Jüngeren freiwillig Opfer bringen.

Die Vertreter der Neuen Sozialen Frage leugnen die Verbindungen zwischen der ökonomischen Produktionsweise und den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht, allerdings sind sie nicht auf einem Auge blind. Für sie sind die Ursachen der neuen sozialen Probleme weniger eine Frage der Produktionsweise als eine Frage nach dem Menschenbüd und der daraus abgeleiteten Politik.

Wer den Menschen, wie die Marxisten, als produzierendes Wesen definiert, muß zwangsläufig in seiner Politik für alle, die nicht produzieren, zu untragbaren Ergebnissen kommen.

Wer den Wert eines Menschen jedoch nicht von seiner Leistung im Produktionsprozeß abhängig macht, wird Politik nicht nur als Resultat der gesellschaftlichen Verhältnisse, sön-desn-als. Ergebnis des Bewußtseins und der freien Entscheidung des Menschen auffassen und soziale Gerechtigkeit entsprechend diesem Bewußtsein realisieren.

Zur Lösung der Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist der Sozialismus ohne Perspektive. Er hat in der Vergangenheit zwar auch nie die richtigen Antworten geben können, er hat aber im 19. Jahrhundert die richtigen Fragen gestellt. Auch dazu scheint er nicht mehr fähig zu sein. Ein Neuorientierungsprozeß ist notwendig. Er kann der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands gelingen, wenn sie aus der Erkenntnis der Neuen Sozialen Frage die politischen Konsequenzen zieht.

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