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Kurt Biedenkopfs Nachfolger
Die Nennung Heiner Geißlers zum favorisierten Nachfolger Kurt Biedenkopfs als Generalsekretär der CDU hat auf einen Exponenten des neuen Typs des christlichen Sozialrea- lismus aufmerksam gemacht, der auch außerhalb der Grenzen seines Landes Beachtung verdient.
Der gebürtige Schwabe (er kam 1930 in Oberndorf am Neckar zur Welt) und Absolvent der Universitäten Tübingen und München war nach kurzer Tätigkeit als Richter vier Jahre lang Leiter des Ministerbüros des Arbeits- und Sozialministers von Baden-Württemberg. 1965 vom Wahlkreis Reutlingen direkt in den deutschen Bundestag gewählt, seit Mai 1967 Minister für Soziales, Gesundheit und Sport in Rheinland-Pfalz. Vorsitzender des Bundesausschusses für Sozialpolitik der CDU. Seit Mai 1971 Mitglied des Rheinland-Pfälzischen Landtags und bald rechte Hand Helmut Kohls, der ihn - dem Vernehmen nach - auch gerne als Nachfolger in seinem Regierungsamt in Mainz gesehen hätte.
Heiner Geißler ist durch seine richtungsweisende Sozial- und Gesellschaftspolitik weit über die regionalen Grenzen seines Wirkens hinaus bekannt und zählt zu jenen, die maßgeblich die „Neue Soziale Frage” in den Mittelpunkt des Mannheimer Parteitages im Juni 1975 gestellt und zum zentralen Thema der gesellschaftspolitischen Diskussion gemacht haben. Es handelt sich - nach seinen eigenen Worten („Die Neue Soziale Frage”, Herder-Bücherei Nr. 566, 1976) - um den großen Versuch der christlichen Demokraten, die sozialen Probleme der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erkennen und zu beantworten - im Gegensatz zur überkommenen Sozialpolitik, die sich überwiegend noch an der Fragestellung und an den Ideen aus der Zeit der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts orientiert.
Die ökonomisch begründete Unterteilung unserer Gesellschaft in Klassen von Kapital und Arbeit, wie sie uns die Marxisten und Neo-Marxisten anbieten, taugt zur Erklärung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht. Zu den Mächtigen unserer Gesellschaft gehören heute nicht mehr allein die Kapitaleigner. Mächtig sind Kapitaleigner und Arbeitnehmer zusammen. Beide Gruppen sind heute in starken Verbänden organisiert. Es sind die Nichtorganisierten, kinderreiche Familien, alleinstehende Mütter mit Kindern, alte Menschen, die nicht mehr Arbeitsfähigen, Behinderte, zu deren Lasten Vorteile errungen werden können. Zu dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital sind Konflikte zwischen organisierten und nichtorganisierten Interessen, zwischen Minderheiten und Mehrheiten, zwischen Stadt und Land, zwischen den Machtausübenden und Machtunterworfenen innerhalb der organisierten gesellschaftlichen Gruppen getreten.
Die Vertreter der Neuen Sozialen Frage leugnen die Verbindung zwischen der ökonomischen Produktionsweise und den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht, für sie sind die Ursachen der neuen sozialen Probleme aber weniger eine Frage der Produktionsweise als eine Frage nach dem Menschenbild und der daraus abgeleiteten Politik. Ein Blick auf die Lage unterprivilegierter Gruppen in den sozialistischen Ländern zeigt, daß die neuen sozialen Konflikte nicht nur im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der westlichen Länder existieren. Geißler hält es daher für notwendig, die vorherrschende Kapitalismuskritik durch eine systematische Sozialismuskritik zu ergänzen.
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