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Werden und Wachsen in Westdeutschland

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Frankfurt, Ende November. Es ist nicht ganz leicht, die bayrisch« Staatskanzlei zu finden. In ihrem alten Haus in München ist seit 1945 das erzbischöfliche Ordinariat eingezogen. Der Ministerpräsident Bayerns residiert seither in der ehemaligen preußischen Gesandtschaft. Das unauffällige Gebäude durchfließt die Atmosphäre eines politischen Zentrums.

Seitdem Berlin als Reichshauptsta'dt abdanken mußte, hat München einen Teil der Erbschaft angetreten. Wie der wirtschaftliche Schwerpunkt in Frankfurt, so liegt der politische der Westzone in der bayrischen Hauptstadt. Von hier aus entfalten sich alle jene Kräfte und Strömungen, die meinungsbildend auf das südliche und westliche Deutschland wirken. Innerhalb der Fraktionen der „Christlichsozialen Union“ (CSU) und der „Sozialdemokratischen Partei Bayerns“ des bayrischen Landtages findet man alle jene Schattierungen vertreten, die sich auch in der Christlichdemokratischen Union (CDU) und SDP des größeren Deutschlands wiederfinden. Das Ausland hat von der heutigen Rolle Münchens bereits Kenntnis genommen. Frankreich hat hieher einen Generalkonsul im Range eines Gesandten, der Vatikan einen diplomatischen Vertreter entsandt, zahlreiche ausländische Missionen sind bei der bayrischen Regierung akkreditiert. So war es auch naheliegend, daß die deutschen Ministerpräsidenten des Ostens und Westens ihre erste Tagung in der Stadt an der Isar abhielten; von da aus erfolgte auch in allerletzter Zeit der Versuch, eine ähnliche Zusammenkunft vor der Londoner Konferenz einzuberufen, die in einer Dreipunkteresolution einen Friedens-, vertrag, Aufhebung der wirtschaftlichen Beschränkungen und die Rückkehr der Kriegsgefangenen fordern sollte. Die schon ergriffene Initiative scheiterte an der Einstellung der Landesregierungen des Ostens.

Die treibende Kraft in der bayrischen Mehrheitspartei — der Christlichsozialen Union —, damit auch in der bayrischen Regierung und in den seit kurzem vereinigten amerikanischen und englischen Zonen ist der stellvertretende bayrische Ministerpräsident Dr. Josef Müller. In einer ■ dramatischen Sitzung des Eichstätter Parteitages wurde er als Gegenkandidat des jetzigen bayrischen Ministerpräsidenten Ehardt zum Parteivorsitzenden gewählt und damit scheiterten auch die gegen ihn von verschiedenen Seiten vorgetragenen Angriffe, die ihn als Kollaborateur des Nationalsozialismus, mindestens aber als einen gefährlichen Vertreter der deutschen Abwehr bezeichneten. Das bedeutet aber weiter, daß die Führung der größten Partei Bayerns sich hinter das Programm eines wirtschaftlich geeinigten Westdeutschlands stellt und die Pläne einer Donaukonföderation ablehnt. Vertreter des letzteren Konzepts war vornehmlich die Gruppe um Dr. Hundshammer, der im Augenblick den Posten eines Unterrichtsministers bekleidet. Unter Initiative des nunmehrigen Parteiobmannes entstand eine „Union der Jugend“, die trotz vieler Schwierigkeiten auch in der Sowjetzone Deutschlands — hauptsächlich in Thüringen und Sachsen — Fuß fassen konnte. Diese Union, die die jüngere Generation im Alter von 25 bis 40 Jahre umfassen will, zielt auf politische und grundsätzliche Schulung de« Tarteinachwuchses und dessen Anteilnehmen an praktischer Arbeit im öffentlichen Leben hin. Die Satzungen nehmen für jeden Landkreis Vertreterversammlungen in Aussicht^ die sich mit den Fragen des Parteiprogramms auseinandersetzen, das Recht von Vorschlägen an den Parteiobmann und auch ein Recht der Kritik haben sollen. Eine zweite beachtliche Stütze innerhalb seiner Fraktion hat sich Dr. Müller durch die „Union der Flüchtlinge“ geschaffen. Den Entwurzelten und Vertriebenen steht in Deutschland das Recht politischer Willensbildung zu. Bei den nächsten bayrischen Wahlen werden ihre Stimmen 27 Prozent aller Stimmberechtigten ausmachen. Wenn schon die Aufnahme von zwei Millionen Flüchtlingen zunächst eine schwere Belastung der sozialen Struktur des Landes bedeutete, so läßt sich doch jetzt schon auf weitere Sicht eine erhebliche wirtschaftliche Stärkung durch diese wertvollen Volkskräfte erkennen.

Die schwerste Aufgabe des Parteiobmannes wird es sein, innerhalb seiner eigenen Partei seine „Frankfurter Politik“, die auf den engen Zusammenschluß zwischen den drei Westzonen hinzielt, durchzusetzen. - Ohne die vollkommene Unterstützung dieses im Zusammenwirken vcm Deutschen mit Amerikanern und Engländern ausgearbeiteten Planes durch die unbeschädigt gebliebene bayrische Landwirtschaft und die nur wenig vom Krieg getroffene bayrische Industrie wäre das Gelingen nicht gesidiert. Vom rechten Flügel der Christlichsozialen Union unter der Führung des bayrischen Ministerpräsidenten Dr. Ehardt , wird eine engere Bindung an das restliche West-deutsdiland abgelehnt. Ehardt und seine Freunde sind bereit, an einem deutschen Bundesstaat mitzuwirken unter Voraussetzung einer Sicherung, daß das Bundesstaatsrecht das bayrische Landrecht nicht brechen kann. Die strengsten Vertreter des bayrischen Eigenstaatsgedankens haben sich unter dem Namen „Bayernpartei“ selbständig gruppiert.

In diese über die Grenzen Bayerns hinaus wirkenden Splitterungserscheinungen der Rechten versucht nun Dr, Müllers sozialistischer großer Gegenspieler Dr. ScnunrnacKer mit einem sehr nationalen gesamtstaatlkhen

Programm hineinzustoßen. Hier offenbart sich aber auch schon die seltsame Tragik des deutschen Marxismus. Auf der ganzen Linie dieselbe Erscheinung: Aus dem „Laborismus“ Schuhmachers i ist heute ein nationaler Sozialimus geworden, aus Pieks Kommunismus ein nationaler Bolschewismus. Zuerst war der Nationalismus vielleicht nur ein Mäntelchen, um den Mittelstand zu gewinnen, jetzt ist es mehr. Aber auch Schuhmacher hat innerhalb der SPD hart zu kämpfen. Das Zentrum der gegen ihn gerichteten Opposition liegt in Bayern. Seine sehr weit-reidienden Verstaatlidiungspläne setzte er mit Hilfe der Engländer im wirtschaftlich starken Ruhrgebiet durch. Die unter der 1 Ministerpräsidentschaft des Sozialisten Doktor Högner für Bayern geschaffene Verfassung beschränkt hingegen in ihrem § 160 eine Verstaatlichung auf die Kraftquellen und Bodenschätze. Im rechten genau so wie im linken Lager ringen also Meinungen gegen Meinungen in wichtigen Fragen.

Die Schwierigkeit, alle diese Strömungen “rechtzeitig zu registrieren, wird dadurch erhöht, daß in der amerikanischen Zone das Ausdrucksmittel einer eigenen Parteipresse fehlt. In einer Art Über- oder Lehrdemokratie haben die Amerikaner nur unpolitische Zeitungen gestattet. Den beiden großen, Parteien wurde m der Ausrichtung der Blätter gleiches Recht eingeräumt. Das gilt ebenso für die Führung der „Süddeutschen Zeitung“ Münchens, in der Sozialisten und CDU-Mitglieder gemeinsam arbeiten, als auch für die Provinzpresse geringerer Reichweite.

So groß der Unterschied der grundsätzlichen Auffassungen zwischen Dr. Müller und Dr. Schuhmacher .ist, stimmen sie überein in dem Willen nach einer möglichst baldigen Zusammenlegung der drei Westzonen unter einer einheitlichen Regierung. Schon zeichnet sich das Bild der vermutlichen neuen westdeutschen bundesstaatlichen Hauptstadt ab. Obwohl schwer verstümmelt und dem früheren Besucher kaum erkennbar, beginnt Frankfurt sich auf diese künftige Rolle vorzubereiten. Seltsames Spiel der Geschichte: fast hundert Jahre nach der Frankfurter Nationalversammlung! Der riesige Komplex der IG-Farbenwerke in Höchst ist ausersehen, die Verwaltung aufzunehmen, im Zentrum der Stadt werden Häuser für die Ministerien und Wirtschaftskörperschaften gebaut und die Amerikaner errichten den Main-Rhein-Flughafen knapp zehn Kilometer außerhalb der Stadt, als größte« ziviles Flugfeld Europas.

Der unvoreingenommene Beobachter kann nicht den Eindruck gewinnen, daß das bedeutsame staatliche Werben von den breiten Schichten der Bevölkerung mit starker innerer Anteilnahme begleitet wird. Die Massen stehen dem Geschehen fremd und befangen gegenüber. Die Vorstellungen der Vergangenheit sind noch nicht völlig überwunden. Die große Masse der Unentschlossenen ist noch zu sehr mit dem Kampf ums nackte Dasein beschäftigt. Es ist schwierig, zwischen Trümmern und Chaos, mit hungrigem Magen sich für neue Staatsvorstellungen zu begeistern. Die Politik ist unerfreulich. Aber in der Wirtschaft, in den Werkstätten der geistigen Arbeit rühren sich unverzagte, tüchtige, lebenbringende Kräfte.

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