Ausgeschlossen, arm und chancenlos ...
Armut hat viele Gesichter. Die Caritas macht die Erfahrung, daß die verschiedenen Formen und der Mangel an tragfähigem Sinn im Leben eng miteinander verwoben sind.
Armut hat viele Gesichter. Die Caritas macht die Erfahrung, daß die verschiedenen Formen und der Mangel an tragfähigem Sinn im Leben eng miteinander verwoben sind.
Die Globalisierung der Wirtschaft scheint Hand in Hand mit neuen Formen des sozialen Ausschlusses zu gehen. (...) Durch Armut und Arbeitslosigkeit werden Bürgergesellschaften in ihrer Substanz bedroht.” (...) Es müssen die „Nachschubwege zur Unterklasse von morgen abgeschnitten werden”. 0
Diese Zitate stammen - wie vielleicht nicht vermutet werden kann -von einem führenden liberalen Denker. Ralf Dahrendorf hat sie 1996 niedergeschrieben.
Wir leben in einem reichen Land. Gott sei Dank. Dennoch haben wir es mit einer groben Sehschwäche zu tun, wenn es um Armut geht.
Wie wird man aber arm? Woran kann man es erkennen? Wer ist davon betroffen?
Die EU-Kommission spricht, wenn es um Armut in Europa geht, von „social exclusion” - sozialer Ausgrenzung. Es scheint mir insgesamt genau zu treffen, worum es geht. Menschen werden vofn Mitleben und Mittun in unserer Gesellschaft ausgeschlossen, weil sie es sich nicht mehr leisten können, dabei zu sein, oder, weil sie durch Arbeitslosigkeit daran gehindert werden.
Identität durch Arbeit
Solange aber Erwerbsarbeit das zentrale identitätsstiftende Element in modernen Gesellschaften ist, ist der Kampf um menschliche Anerkennung ein Kampf um einen Arbeitsplatz. Für immer mehr Menschen bedeutet ein dauerhafter Verlust von Arbeit auch den Verlust der gesellschaftlichen Anerkennung und damit auch in vielen Fällen des Selbstwertes. Sie verlieren schnell den Anschluß in einer Gesellschaft, in der das Lebenstempo hoch und die Veränderungen - gerade auch im beruflichen Tätigkeitsbereich -* an.der Tagesordnung sind.
Die Erfahrungen der Caritas setzen sehr oft an dieser Lebenseinschnittstelle an: Es sind sehr unterschiedliche Menschen, die ins gesellschaftliche Out geraten, die das Tempo unserer modernen Welt nicht mehr mithalten können:
Es sind alleinerziehende Mütter, die von ihren Männern im Stich gelassen wurden. Es sind alleinstehende Männer, die nach ihrer Familie auch den Halt und oft auch den Arbeitsplatz verloren haben und nun am Rand der Obdachlosigkeit stehen. Es sind junge Familien mit” kleinen Kindern, die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft eine Wohnung eingerichtet, ein Haus gebaut haben, und jetzt, nachdem der Mann arbeitslos geworden ist, Kredite nicht mehr bezahlen können. Es sind Jugendliche, die nach der Pflichtschule keine Arbeit finden. Es sind Menschen, die aufgrund psychischer oder sozialer Probleme nicht mehr voll erwerbsfähig sind und zunehmend den Anschluß in unserer Erwerbsgesellschaft verlieren. Es sind Ausländerfamilien, die mit einem Fuß stets in der Schubhaft stehen, sollten sie ihren Job verlieren. Es sind Pensionisten, die mit ihrer Mindestpension die Wohnung gerade noch halten können, aber wenn einmal eine Reparatur ansteht, kann es bereits zu eng werden.
Dabei macht die Caritas auch die Erfahrung, daß materielle und immaterielle Armut, kulturelle und soziale Armut, wie auch Mangel an tragfähigem Sinn im Leben ganz eng miteinander verwoben sind.
Armut in Zahlen
Es ist einfacher, die vielen einzelnen Fälle zu erzählen, als Armut als gesellschaftliches Problem insgesamt zu beschreiben oder gar zu quantifizieren. Dennoch glaube ich, daß es notwendig ist, Armut auch gesellschaftlich zu benennen, um daraus politische Schlüsse ziehen zu können. Es sind nämlich nicht nur einige wenige Einzel-- fälle oder „tragische Schicksale”. Es sind viele Menschen, die versteckt vor und von der Gesellschaft langsam ins Out driften.
Die Zahlen klingen abstrakt und groß, und sie entsprechen nicht dem, was wir sonst hören wollen. Der Wohlstand ist in den letzten 50 Jahren unablässig gewachsen. Dennoch - es gibt immer mehr Menschen, die an den Rand gedrängt werden.
Wir können sie nicht sehen, weil arm zu sein immer nocb als Schande empfunden wird. Es gibt aber auch im Gegensatz zu anderen EU-Ländern keine entsprechende Armuts-berichterstjjttung.
Ferdinand Lacina hat einmal gemeint, daß wir mit Akribie Apfelbäume zählen, wieviele Arme es gibt, wüßten wir nicht. Das wirtschaftliche Wachstum wird mit großem Aufwand in unzähligen verschiedenen Zahlen festgehalten. Die sozialen Kosten dieses Wachstums werden ausgeblendet. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Immerhin: Aus Untersuchungen des Statistischen Zentralamtes und des Sozialministeriums, die bei der ÖKSA-Tagung 1996 vorgelegt wurden, geht hervor, daß rund 700.000 bis 800.000 Menschen in Österreich an der Armutsgrenze leben.2'
Eine Zeitlang gelingt es, über Konsumverzicht existentielle Probleme zu verhindern. Passiert es dann -wie oben beschrieben - daß Arbeitsplatz oder Wohnung verloren gehen, Todesfall oder schwere Krankheit eine Familie heimsuchen, eine Scheidung passiert, oder auch nur eine größere Reparatur ins Haus steht, dann kann Armut schlagend werden.
Es reicht aber nicht aus, Armutsgefährdung zu beschreiben, es ist auch notwendig und möglich, gesellschaftlich entgegenzusteuern. Was wird also gebraucht?
U Zugang zu Erwerbsarbeit für möglichst viele:
Das Wirtschaftswachstum geht kaum mehr mit einer Zunahme des Angebotes an Arbeitsplätzen einher. Erwerbsarbeit ist immer noch der beste Weg, die Existenzsicherung zu gewährleisten, weil zum einen Arbeit für den Menschen Sinnstiftung und die Möglichkeit zur aktiven
Teilnahme an der Entwicklung der Gesellschaft bedeutet und weil zum anderen dadurch der Sozialstaat von vornherein entlastet wird. Deshalb sollte intensiv über Möglichkeiten, die vorhandene Arbeit besser aufzuteilen, nachgedacht werden. Immerhin kennt die Literatur viele verschiedene Formen einer besseren Aufteilung der Arbeit. Es gibt darüber hinaus sehr viele notwendige Arbeitsbereiche im kulturellen, sozialen und im Umweltbereich, für die bisher keine Finanzierung gefunden wurde.
■ Elemente der Mindestsicherung einführen:
Die Situation am Arbeitsmarkt hat sich verändert. Das sogenannte lebenslange Normalarbeitsverhältnis ist nicht mehr die Regel. Immer weniger Menschen können im System der Sozialversicherung so lange und so hohe Beiträge einzahlen, daß die Leistungsansprüche bei Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit ausreichend sind. Unsichere Arbeitsverhältnisse, Teilzeitarbeit und Arbeitsverhältnisse außerhalb des Arbeitsrechtes, ohne Einbindung in die Sozialversicherung, nehmen deutlich zu. Besonders betroffen davon sind Frauen. Immer mehr Menschen haben deshalb zu geringe oder keine Ansprüche aus der Sozialversicherung.
Es ist daher dringend notwendig, das System der Sozialversicherung durch Elemente der Grundsicherung zu ergänzen. Das heißt, daß ein existenzsichernder Mindestbeitrag bei Leistungen aus der Sozialversicherung und ebenso bei Leistungen in der Sozialhilfe eingeführt werden sollte. Eine Grundsicherung wird auch deshalb immer notwendiger, weil die Formen des Zusammenlebens sich geändert haben. Immer mehr Menschen, vor allem Frauen, sind alleine mit ihren Kindern und haben keine ausreichenden Ansprüche auf Sozialleistungen. Gerade für diese Menschen sind Elemente der Grundsicherung wichtig.
■ Übergänge zwischen Lebenssphären ermöglichen Die Lebensgestaltung der Menschen findet heute nicht mehr so statt wie früher, Phasen des Lernens, Zeiten für die Familie, für politisches oder ehrenamtliches Engagement und Zeiten der Erwerbslosigkeit wechseln einander ab. Für gesellschaftlich Schwächere kann das aber bedeuten, daß sie den Einstieg beziehungsweise Umstieg nicht mehr schaffen.
Immer wichtiger wird es daher, Übergänge zwischen diesen Bereichen flexibler zu gestalten, besonders im Interesse der schwächeren Gruppen am Arbeitsmarkt und im Interesse von Menschen, die Beruf und Familie vereinen möchten. Vorstellbar wären zum Beispiel eine Kombination von einem Teilarbeitslosengeld mit einem Teilerwerbseinkommen, die familienfreundlichere Gestaltung von Arbeitszeiten und Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen oder auch ein Urlaubsansparmodell für besonders intensive Zeiten der Kinderbetreuung.
■ Den Sozialstaat transparent und bürgernah gestalten Die Zugangsbedingungen zu verschiedenen Sozialleistungen sind zum Teil sehr unterschiedlich gestaltet. Das führt dazu, daß hilfsbedürftige Menschen viele bürokratische Hürden überwinden müssen, um Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Außerdem wird im Zuge von Budgeteinsparungen die Leistungsvergabe immer restriktiver gehandhabt, was sozial Schwächere in besonderer Weise trifft. Es ist deshalb notwendig, verschiedene Systeme von Sozialleistungen aufeinander abzustimmen und einheitliche Zugangsbedingungen zu schaffen.
Ganzheitliche Sicht
Wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß in den verantwortlichen Stellen eine ganzheitliche Sicht der Notlage und des betroffenen Menschen gefördert wird. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, daß das Einfrieren der Höhe von Arbeitslosenbezügen, Karenz- und Pflegegeld, von Familienbeihilfen und ähnlichen Sozialleistungen eine große Belastung für jene Menschen darstellt, die in der früher beschriebenen Ar-mutsgefährdungszone leben. Auch, wenn es viele nicht wahrnehmen wollen: Ein paar hundert Schilling mehr oder weniger im Monat zur Verfügung zu haben, kann entscheidend sein. Bei allem Verständnis für das Hervorkehren staatlicher Sparsamkeit und das Predigen öffentlicher Armut: Auf dem Bücken der Schwächsten und Kleinsten zu sparen, halte ich nicht für sozial.
Bei all dem wissen wir, daß man Armut in ihrer umfassenden Dimension nicht zur Gänze abschaffen kann. Es wird immer so etwas wie unabwendbares leid im Leben von Menschen geben. Sinndimension, die hinter diesem Leid steht, kann auch die Wohlfahrtsgesellschaft nicht stiften. Sie kann wohl Räume für Sinnfindung schaffen.
Die materielle Dimension der Armut ist jedoch nicht unabwendbar und schicksalhaft. Unser Ziel als Caritas sollte daher gemeinsam mit öffentlichen Institutionen und anderen privaten Trägern sein, daran mitzuwirken, daß die materielle Dimension der Armut und ihre Folgen zu einem vorübergehenden Phänomen werden.