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Gibt es noch Arme?

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I.

Der Abschluß der ersten Etappe der Sozialreform drückt sich in den wirtschaftlich entwickelten Ländern im weitgehenden Fehlen der Armut als Massenerscheinung aus. Es gibt nicht mehr die gesellschaftliche Grußgruppe der Armen, sondern nur noch einzelne Arme. Früher waren die Armen identisch mit der „Masse“, mit dem „gemeinen“ Volk und in arbeitende Arme (im vorigen Jahrhundert: „Arbeiter“) sowie nicht arbeitende Arme gegliedert. Die Armut war vor allem im sozialen Status des Dienstnehmers und sonst im Fehlen des Eigentums an den Produktionsmitteln oder in der unzureichenden Größe desselben begründet.

Heute ist Armut in drei Schichten dargestellt: erstens als „Elend“. In der Elendszone, unter den Bedingungen der klassischen Armut, leben, frieren und hungern jene Menschen, die zur untersten Gruppe der Armen zu rechnen sind. Die zweite Gruppe lebt im Notstand, sie ist unzureichend mit Existenzgütern versorgt. Dann gibt es noch die Gruppe jener, die zwar gerade noch mit den Existenzgütern versorgt sind, aber auf Grund ihres Einkommens so gut wie keine Chance haben, jemals an den Komfortgütern der Zeit Anteil zu erhalten.

Eine zweite Einteilung der Armen ist die in unfreiwillige und in freiwillige. So wie es eine freiwillige Arbeitslosigkeit gibt, besteht auch eine freiwillige Armut. Es gibt Menschen, die auf Grund ihrer Veranlagung die Armut widerstandslos akzeptieren und sich spontan mit einem Minimum an Versorgungschancen begnügen, weil ein Zustand, der etwa mit einem Nichtarbeitenmüssen verbunden ist, ihrer Natur angemessen erscheint. Daß es neben der objektiven Armut — die sich oft als solche nicht deklariert (verschämte Arme) — noch eine subjektive gibt, vist allen Institutionen der Wohlfahrtspflege, insbesondere der freien, bekannt.

In der Wohlfahrtsgesellschaft, mit ihrer perfekten administrativen Betreuung von Notstandsfällen, mit ihrer Versorgung der Angehörigen aller sozialen Großgruppen, sollte e? nun eigentlich kaum so etwas wie Armut geben.

Daß es trotzdem und in einem erstaunlichen Umfang Armut gibt, wenn auch nicht in gleicher Weise Elend, beweisen die Ermittlungen der SOS-Gemeinschaft, deren Kartei nunmehr vom Internationalen Katholischen Institut für kirchliche Sozialforschung ausgewertet wurde. Die Resultate der Ermittlungen der genannten Institution liegen in einer umfangreichen Broschüre vor*.

„Elend in Wien.“ Bericht Nr. 49 des Internationalen Katholischen Institutes für kirchliche Sozialforschung (Icares), Wien. Hergestellt im Auftrag der SOS-Gemeinschaft, Februar 1960.

II.

Die „Akkumulation von Elend“, wie sie in der Kartei von SOS ausgewiesen ist, umfaßt auf 26.296 Haushaltkarten nicht weniger als 68.000 Personen, fast durchweg Wiener. Das sind etwa 4,2 Prozent der Wiener Bevölkerung. Mechanisch gerechnet ist daher jeder 25. Wiener irgendwann einmal in Betreuung bei SOS gewesen. Diese Zahl vermag freilich das „Elend“ in Wien nicht eindeutig zu fixieren, da bei SOS, dem Wesen der Einrichtung entsprechend, meist Katastrophenfälle und nicht Dauerarmut registriert sind.

Im Rahmen der Untersuchung wurden aus den Unterlagen 525 Haushalte mit 1194 Personen herausgezogen und — als repräsentativ für alle Betreuten und für die „Armen Wiens“ — statistisch aufgegliedert.

Um zu ermessen, welchen Umfang die Maßnahmen von SOS angenommen haben, sei nebenher darauf hingewiesen, daß von der Gemeinschaft in den letzten zehn Jahren nicht weniger als 51 Millionen, davon 22 Millionen bar, an die Hilfesuchenden verteilt wurden. Dem Wesen der Einrichtung entsprechend wurden 75 Prozent als Soforthilfe gegeben.

Die Armenhaushalte sind nach den Ermittlungen vornehmlich die Einpersonenhaushalte. Sie umfassen 47 Prozent der registrierten Haushalte. Die zweite, Haushaltgruppe sind die Großfamilien mit fünf und mehr Personen. Im Vergleich zur entsprechenden Gliederung der Gesamtbevölkerung zeigt sich, daß der Anteil der beiden Gruppen an der Armut in Wien relativ groß ist: Einpersonenhaushalte gibt es in Wien nach der Volkszählung 1951 (die dem Bericht zu Vergleichszwecken zugrunde gelegt wurde) 24 Prozent (SOS: 47 Prozent). Die Großhaushalte haben einen Anteil von 5,6 Prozent; bei SOS sind es 12,2 Prozent.

Nach Altersgruppen ist es so, daß die Kinder und Jugendlichen, die in Wien eine Quote von 18,8 Prozent umfassen, bei SOS mit 36,3 Prozent an der Spitze stehen. Alte Menschen sind bei SOS weniger erfaßt, da es sich bei ihnen, wenn sie arm sind, um Dauernotstand handelt, der eben nicht Gegenstand der Tätigkeit von SOS ist.

Nach dem Familienstand sind 51,6 Prozent der Betreuten ledig, eine Folge des Vorherrschens der Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Verwitwet sind 8,8 und geschieden 8,5 Prozent (in Wien insgesamt nur 4 Prozent).

Die soziale, mehr noch die berufliche Herkunft der SOS-Armen zeigt, daß es heute keine vorweg für die Armut gleichsam geschaffene Schicht gibt. Dieser Zustand hängt vor allem damit zusammen, daß heute die Dauerarbeitslosigkeit nur noch als Ausnahmeerscheinung besteht und die Löhne im Durchschnitt so hoch sind, daß zumindest der Lohnbezieher sich selbst erhalten kann. Unter den erfaßten Armen gibt es 7 Prozent Selbständige einschließlich der Familienangehörigen (Wien: 15 Prozent), Angestellte und Beamte mit 10,5 Prozent (34 Prozent) und Arbeiter sowie Lehrlinge mit 82.5 Prozent (51 Prozent).

Wien hat heute keine typischen Armenvierteln. Wenn Armut noch irgendwie regional agglomeriert ist, dann in jenen durch Bombenangriffe weitgehend zerstörten Gegenden, die bisher nur unzureichend baulich wiederhergestellt wurden. Die Wohnhäuser der Armen sind die Althäuser mit niedrigen Mietzinsen. Der Bericht weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß in den Gemeindebauten im Durchschnitt keine Armen wohnen. Das stimmt sicher. Freilich kann man auch nicht annehmen, daß etwa in Bauten, die nach dem Gesetz über das Wohnungseigentum errichtet wurden, Elend konzentriert ist.

Die Form der Armut, besser ihre typischen Ursachen, sind in erster Linie unzureichendes Einkommen, vorübergehender Notstand, Wohnungsnot und Kinder„reichtum“. In der Reihenfolge sind an Armengruppen bei SOS erfaßt: Kinderreiche (32 Prozent), Alleinstehende (20 Prozent), Opfer von Katastrophenfällen (20 Prozent) und alte Menschen (13 Prozent). Was die Gruppe der Alten betrifft, ist — wie bereits erwähnt — ihre Zahl so außerordentlich gering, weil es sich um Dauerfälle handelt, die von der Caritas unmittelbar erfaßt werden.

III.

Die Armut ist also heute in Wien eine individuelle und läßt sich nicht in Kategorien fassen. Daher ist sie auch in einem großen Umfang für die Apparatur und die Verwaltungspraxis der amtlichen Wohlfahrtseinrichtungen unzugänglich geworden. Dazu kommt, daß die Zahl der parasitären Armen, der Nichtstuer, der Armutheuchler, mit Rücksicht auf die absolut kleine Zahl der Armen relativ groß geworden ist. Es gibt Hunderte, die von Betreuungseinrichtung zu Betreuungseinrichtung pendeln, einmal fromm „Grüß Gott“ sagen, dann „Freundschaft“ und sich anderswo mit „Wehmut“ der Soldatenzeit erinnern und für ihre schauspielerische Tätigkeit honoriert werden. Auf diese Weise verdienen sich viele, die als „Arme“ geführt werden, ihr „Brot“, eher aber die Mittel zum Erwerb jener flüssigen Nahrung, deren Genuß ihrem Leben „letzten Sinn“ gibt. Ähnliches gibt es auch, wenn freilich in geringerem Ausmaß, bei den Einrichtungen der Sozialpolitik, die auch mit den Sozialparasiten ihre liebe Not haben.

Weil sich nun die Not als eine höchst individuelle Erscheinung zeigt, haben . SOS und Caritas heute eine spezifische, zeitkonforme Aufgabe: bei jenen Fällen von Not zu intervenieren, bei denen das positive Recht kaum zur Hilfeleistung ausreicht — ohne Bürokratie, ohne Verlangen nach Vorlage einer großen Zahl von Beweisen der Not und von Anspruchsrechten. Es gibt auch im Bereich des Elends in der Stadt Wien so etwas wie tote Winkel, in die hinein vor allem die freie Wohlfahrtspflege vorstoßen muß.

Im Rahmen der Perfektion unseres Wirtschaftens wächst unser Sozialprodukt. Viele Länder sind geradezu auf Suche nach Armen. Nicht selten wird Hilfe einem unterentwickelten Land geradezu aufgedrängt. Auch unsei Land ist nun in das Stadium der sozialen Expansion getreten. Trotzdem dürfen wir nicht davon ausgehen, daß die Armut in Österreich eine nur noch geschichtliche Angelegenheit sei. Das anzusehen ist Vermessenheit, gerade angesichts dessen, was die Männer und Frauen von SOS an Erfahrungen gesammelt haben. Es soll aber nicht bestritten werden, daß die Armut auch bei uns andere Formen angenommen hat. Es gilt nicht mehr, Menschen vor dem Verhungern zu retten, wohl aber ist es uns aufgegeben, jenen zu helfen, die völlig und auf Dauer von der Teilnahme an den Komfortchancen unserer Zeit ausgeschlossen sind,

Das bedeutet, daß die Caritas der Armut gleichsam nach oben folgen muß.

Die Verfasser der vorliegenden Untersuchung fordern abschließend nicht nur eine Humanisierung der Armenpflege, sondern auch ihre Dezentralisierung. Die Pfarren sollen wieder in einem breiteren Umfang die karitative Betreuung ubernehmen. Auf diese Weise können manche Hilfsmaßnahmen jene Intimität gewinnen, die durch Veramtung der Betreuung heute kaum mehr feststellbat ist.

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