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Wien bietet Arbeitsplatze und bekommt Einwohner

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Die Großstädte ziehen nach wie vor viele Menschen an. Hier locken bessere Verdienstmöglichkeiten, ein höherer Lebensstandard. Aber natürlich ist es für den Ortsfremden anfangs nicht immer leicht, in der Großstadt Fuß zu fassen. Wo findet er einen Arbeitsplatz, wo eine Wohnung? Wohin kann er sich mit relativ guten Erfolgsaussichten um Rat und Hilfe wenden? Nur in Wien gibt es vorläufig eine Stelle, die sich dieser Menschen besonders annimmt. Nur in Wien gibt es einen eigenen „Zuwandererfonds“, genauer gesagt einen „Fonds zur Beratung und Betreuung von Zuwanderern nach Wien“.

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Die Großstädte ziehen nach wie vor viele Menschen an. Hier locken bessere Verdienstmöglichkeiten, ein höherer Lebensstandard. Aber natürlich ist es für den Ortsfremden anfangs nicht immer leicht, in der Großstadt Fuß zu fassen. Wo findet er einen Arbeitsplatz, wo eine Wohnung? Wohin kann er sich mit relativ guten Erfolgsaussichten um Rat und Hilfe wenden? Nur in Wien gibt es vorläufig eine Stelle, die sich dieser Menschen besonders annimmt. Nur in Wien gibt es einen eigenen „Zuwandererfonds“, genauer gesagt einen „Fonds zur Beratung und Betreuung von Zuwanderern nach Wien“.

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Der im Jänner 1972 ins Leben gerufene Fonds wird von der Stadt Wien und den Sozialpartnern (Kammer der gewerblichen Wirtschaft für Wien, Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, österreichischer Gewerkschaftsbund, Landesgruppe Wien der Vereinigung österreichischer Industrieller) getragen. Sein Zweck ist - laut Statut -, die „Zu-wanderer aus dem In- und Ausland nach Wien zu fördern“, das Hauptziel die geeignete Unterbringung sowie berufliche und gesellschaftliche Ein-güederung der Zuwanderer.

Fonds-Pressereferent Klaus Henning - er zeichnet für den eigenen Pressedienst „Migra“ und den viermal jährlich kostenlos (über Arbeitsämter, Arbeiterkammern und Gewerkschaftsbund) abgegebenen „Arbeits-Courier“ verantwortüch - charakterisiert die bisherige Entwicklung so: „Man wollte bei der Gründung des Fonds, knapp vor dem Höhepunkt der Gastarbeiterwelle, deren Betreuung nicht länger nur den Organisationen privater Wohlfahrt überlassen. Deswegen wurde ein öffentüch-rechtlicher Fonds geschaffen, dessen Präsident der jeweilige Finanzstadtrat der Stadt Wien ist. Tatsächlich kümmerte sich der Fonds in den ersten drei Jahren fast ausschließlich um ausländische Zuwanderer, erst um die Jahreswende auf 1976 wurde eine eigene Abteilung für inländische Zuwanderung ins Leben gerufen.“

Jugoslawische und türkische Arbeitnehmer können sich in der Zentrale des Wiener Zuwandererfonds (1010 Wien, Schottenring 25) laufend beraten lassen, zu bestimmten Zeiten sind auch eine Staatsbürgerschaftsberatung und eine Kreditberatung möglich. Darüber hinaus gibt es eigene, nach dem üblichen Dienstschluß offen haltende Abendberatungsstellen sowie Adressen für Schwangeren- und Mutterberatung. Das Hörfunkprogramm Österreich Regional sendet täglich eine kurze Gastarbeitersendung. Zur Unterbringung von Gastarbeitern stehen in erster Linie vom Fonds angekaufte Althäuser zur Verfügung, seit dem Inkrafttreten des Ausländerbeschäftigungs-Gesetzes (1. Jänner 1976) muß die Firma eines ausländischen Arbeitnehmers für diesen eine ortsübliche Unterkunft nachweisen.

Zunehmend an Bedeutung gewinnt, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer sich verschlechternden Arbeitsmarktsituation in etlichen ländlichen Regionen, die „Aktion Binnen-Aus-gleich“, also die Zuwanderung inländischer Arbeitskräfte nach Wien. Diese kommen nicht nur aus den traditionellen Zuwanderungsgebieten Niederösterreich und Burgenland, sondern immer mehr auch aus Oberösterreich, der Steiermark und Kärnten. Durch ständigen Kontakt mit den Organen der Arbeitsmarktverwaltung und Beobachtung etwaiger Betriebsschließungen ist der Wiener Zuwandererfonds immer auf dem laufenden und bietet, wenn die Möglichkeit dazu besteht, Arbeitsuchenden Hilfe und Vermittlung zum Wiener Arbeitsamt an. Nach wie vor sind ja in Wien jeweils an die zehntausend Arbeitsplätze zu haben, etwa eben so viele, wie es hier Arbeitsplätze gibt, nämlich rund ein Prozent der Zahl der insgesamt 810.000 in Wien Beschäftigten. Henning betont, daß vor allem das Angebot an offenen Lehrstellen in Wien nie unter 1000 gesunken sei, zeitweise aber sogar über 3000 betragen habe. Zweifellos vor allem für junge Menschen ein Anreiz, nach Wien zu übersiedeln. Während nun für die Ausländer die Sprache das größte Problem darstellt, ist es für die Inländer die Wohnung.

Neben diversen Jugend- und Lehrlingsheimen, darunter zwei neue des Kuratoriums Wiener Jugendheime, neun der österreichischen Jungarbeiterbewegung und elf (mit 1029 Heimplätzen) des österreichischen Kol-pingwerkes, kümmert sich der Fonds selbst in steigendem Maße um die Unterbringung der meist noch recht jungen Zuwanderer aus den Bundesländern. Momentan gibt es drei verschiedene Wohnmodelle, die vom Fonds angeboten werden: den Wohnplatz, die Startwohnung und die geförderte Genossenschafts- oder Eigentumswohnung, t

Während letztere nur für Leute mit größeren eigenen Ersparnissen in Frage kommt, entscheiden sich die Neuankömmlinge in Wien in der Regel für eine der beiden anderen Wohnformen. Wohnplatz bedeutet Unterbringung in einer von 60 Eigentumswohnungen im 20. Bezirk, wo jeweils fünf Leute zusammenwohnen (insgesamt also 300 im gesamten, dem Fonds gehörigen Wohnblock) und pro Bett 1300 Schilling (im Zweibettzimmer) beziehungsweise 1400 Schilling (im Einbettzimmer) bezahlen, wobei Küche, Badbenützung, Heizung und Stromverbrauch inbegriffen sind. Die Verweildauer in diesen Wohnungen beträgt im Durchschnitt drei bis sechs Monate, in der Regel ist der Wohnplatz nur eine kurzfristige Ubergangslösung für alleinstehende Zuwanderer.

Eine Ubergangslösung, wenn auch eine etwas längerfristige, ist auch die Startwohnung, von der besonders junge Paare (eventuell bereits mit Kind) Gebrauch machen. Henning weiß aber, daß die Quartiebeschaffung nur für die Zeit des Einwurzelungs-prozesses wichtig ist: „Wenn es gelingt, wenigstens für ein Jahr die Quartierversorgung zu lösen, ist ein zielführender Integrationsprozeß eingeleitet!“ Bei den Startwohnungen (in der Regel Zimmer-Küche- oder Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnungen) handelt es sich um leerstehende alte Substandardwohnungen, die vom Hauseigentümer nach einer Abschlagszahlung von 250 bis 500 Schilling pro Quadratmeter auf zehn Jahre in Hauptmiete an den Fonds abgetreten werden. Dieser vergibt die Wohnungen (1977: 122, 1978: voraussichtlich 250) auf drei Jahre in Untermiete weiter, nachdem sie adaptiert und neu möbliert wurden, und verlangt dafür zwischen 1100 und 1300 Schilling. Die Betriebskosten hat der Untermieter extra zu tragen. Nach Aussage Hennings macht der Fonds dabei - wie vorgeschrieben - keinen Gewinn, die Monatsmiete ist lediglich die Rückzahlung eines auf zehn Jahre laufenden Kredites, mit dem die Anfangskosten bezahlt wurden. Die Startwohnungen sind über ganz Wien verteilt, bei ihrer Vergabe kann daher Rücksicht auf den Arbeitsort des Bewerbers genommen werden.

War der Ausgangspunkt des Zuwandererfonds auch die Arbeitsmarktpolitik, so sind längst bevölkerungspolitische Aspekte hinzugekommen. Wien ist bekanntlich eine sterbende Stadt, und die rege Zuwanderung kann zwar das Geburtendefizit nicht ausgleichen, den Bevölkerungsrückgang aber zumindest mildern. Im Jahr 1976 sank der Bevölkerungsstand der Bundeshauptstadt unter 1,6 Millionen (1910 gab es noch über zwei Millionen Wiener), in diesem Jahr standen 26.771 Sterbefällen nur 13.404 Lebendgeborene, davon 2399 Ausländer, gegenüber, wobei die Zahl der Abtreibungen (allein in den Krankenanstalten der Stadt Wien 5597) jener der Geburten kaum nachstehen dürfte.

Immerhin, fast jedes fünfte Wiener Baby ist heute bereits Ausländer, der Rückgang der Inländergeburten in den letzten Jahren augenfällig (1972 noch 14.319,1974 nur mehr 13.118,1976 gar nur 11.005). Ist aber tatsächlich, wie Klaus Henning annimmt, jedes 25. Wiener Kind das Kind von Analphabeten oder zumindest eines analphabetischen Elternteiles? Sicher, wenn man jedes fünfte Wiener Kind jugoslawischen oder türkischen Eltern zurechnet und weiß, daß rund ein Fünftel der Bevölkerung dieser beiden Länder Analphabeten sind, kann man zu diesem Ergebnis kommen. Voraussetzung ist, daß Hennings Behauptung stimmt, die in Österreich tätigen Jugoslawen und Türken (und deren Angehörige) stellten einen durchaus repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung dieser Länder dar. In diesem Punkt sollte man vielleicht etwas weniger pessimistisch sein als Henning.

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