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„Geh ins Spital — und wir haben Ruhe“

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Immer wenn außerordentliche Umstände — jahreszeitlich bedingte Häufung von Krankheitsfällen normaler oder epidemischer Art — eintreten, gehen Meldungen durch die Zeitungen, welche vom Bettenmangel in den Spitälern zu berichten wissen, von Verunglückten, die ungebührlich lange am Straßenrand lagen und auf Rettung warteten, von Menschen, die krank daheim auf die endliche Einweisung ins Spital von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag harren. Was ist daran wahr, wo kann der Hebel angesetzt werden?

Die Gesamtbettenzahl in Wien lag heuer in der erfahrungsgemäß am stärksten beanspruchten Zeit bei 12.286. Dazu kommen noch jene Betten, die sich in den nicht von der Gemeinde Wien geführten Krankenanstalten befinden. Ihre Zahl beläuft sich auf rund 3500. Auf 95 Einwohner Wiens entfällt somit ein Spitalbett. Verglichen mit anderen Städten wäre die Lage keineswegs besorgniserregend. Stockholm hat auf 1000 Einwohner acht, Bremen zehn Betten.

Naturgemäß liegen in der ungünstigen Jahreszeit die Einweisungszahlen in die Spitäler höher. Durch organisatorische Maßnahmen wird versucht, dem abzuhelfen. Die als Reservespital geführte Medizinische Abteilung Baumgartner Höhe mit 250 bis 300 Betten wurde in Betrieb genommen. Seit einigen Monaten sind etwa 450 Betten zusätzlich verfügbar. Es wäre natürlich einfach, jetzt bereits für den Herbst und Winter vorzusorgen und eine Reserve von rund 3000 Betten zu schaffen. Illusionisten glauben, der Neubau eines großen Spitals könne allen Schwierigkeiten ein Ende bereiten. Bettenreserven in der genannten Höhe — von den Kosten für einen Neubau ganz zu schweigen — verlangen von der Stadt auch entsprechend zahlreiches Pflegepersonal und differenziert ausgebildete Aerzte. Eine solche Reserve kann nur vorübergehend ausgenützt werden, muß aber ständig bereitstehen. Das erfördert beträchtliche Mehrkosten.“ Wie sicS solche erhöhen müßten, kann man aus wenigen* Zahlen ablesen. Für 1958 stehen den Spitälern Einnahmen von 300 Millionen Schilling Ausgaben von 570 Millionen gegenüber. Die ständige Bereitschaft einer zeitweils unausgenützten Reserve dürfte, gering geschätzt, Mehrausgaben von 100 bis 120 Millionen erforderlich machen, ohne daß die Gewähr bestünde, den wirklich Bedürftigen geholfen zu haben.

Hier liegt der Haken. Der Chefarzt der Wiener Rettung hat bei einer Besprechung mit Journalisten klar ausgesprochen, daß bei der Einweisung nicht immer die strengen Maßstäbe angelegt werden, die nötig sind. Es wurde beobachtet, daß an manchen Tagen ein Drittel bis die Hälfte der mit dem Vermerk „Lebensgefahr“ eingelieferten Fälle diese Bezeichnung ' keineswegs verdiente. Solche Fälle, die ohne hinreichende effektive Begründung durch die Bettenzentrale ein SpitalsbeW zugewiesen bekommen, besetzen einem tatsächlich Bedürftigen den Platz. Aber man kam leider auch mitunter darauf, daß Empfänger von Renten am Monatsanfang ihre Rente behoben und darnach ins Spital gingen. Hierzu muß erläutert werden, daß der Sozialversicherungsträger mit der Einweisung eines Rentners (oder Arbeitslosen) die Verpflichtung der Zahlung von Verpflegsgebühren übernimmt, während Rente (oder Unterstützung) weiterlaufen. Da nun die Altersrente bei einer Einweisung in ein Altersheim zur Verpflegs-kostenzahlung teilweise in Anspruch genommen wird, ist die Haltung alter Menschen, die wohl pflegebedürftig, aber nicht spitalaufenthalts-bedürftig sind, subjektiv durchaus zu begreifen. Die Bevölkerung weiß allerdings kaum, daß die Einweisung in ein Altersheim keine definitive Angelegenheit sein muß. Um noch ein Wort zu den Einweisungen unter der Marke „Lebensgefahr“ zu sagen. Es ist leicht, hier den Aerzten einen Vorwurf zu machen. Aber man muß sich anderseits den Wirbel in so mancher Kassen-ordination ansehen, wo es beim besten Willen nicht möglich ist, langwierige Untersuchungen vorzunehmen — von den oft nötigen Spezialgeräten, deren Anschaffung für jeden Arzt eine finanzielle Last bedeutet, ganz abgesehen. Das Gefühl der besonderen Verantwortung in Fällen, wo die Diagnose nicht mit Sicherheit zu erstellen ist, zwingt die Aerzte, auf Spitaleinweisung zu drängen und diese Dringlichkeit mit den bekannt nötigen Mitteln zu unterstreichen.

Das für eine Bettenreserve nötige Personal schließlich kann unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht erbracht werden. Solange die Bezüge der Pflegeschwestern nicht der besonderen Aufgabe, die dieser Beruf nun einmal vor anderen Sparten innerhalb der Sanitätsverwaltung hat, gerecht werden, solange wird der Beruf der Krankenschwester kaum gesucht werden. Und die ärztliche Heranbildung: Da möge man erst ' dazuschauen, die Zahl der Werkstudenten aus der Gruppe der Mediziner zu vermindern, welche gegenwärtig bei 30 Prozent liegt. Es geht eben nicht, auf der einen Seite von Jahr zu Jahr zu streiten: um eine gerechte Bezahlung der Jungärzte, um eine einigermaßen kostendeckende Vergütung der Sätze in den Privat- (und Ordens-) Spitälern, um eine soziale Diensteinteilung bei der Schwesternschaft, um zweckentsprechende Unterbringung des Pflegepersonals, um Versorgung alt gewordener Krankenschwestern — und auf der anderen Seite zu klagen über den Rückgang des entsprechenden Fachpersonals. Die Menschen wandern heute dorthin, wo sie bei möglichst viel Freizeit leicht arbeiten und viel verdienen können.

Bei der Beurteilung der Lage in den Krankenanstalten — die übrigens mit einem dauernden Defizit zu arbeiten haben, das sich in den nächsten Jahren eher noch erhöhen als vermindern wird — ist das Altersproblem überhaupt in Betracht zu ziehen. Es ist unpopulär, klingt unsozial, aber es ist so, und maßgebliche Fachleute können es bezeugen, daß der Familiensinn, der Geist des Zusammenhaltens, Füreinanderstehens und der Opferwille abnimmt. Es gibt Leute, die 4000 bis 6000 S Gehalt haben (oder Einkünfte aus Gewerbe, Industrie, Handel, Verkehr), die aber trotz kleinster Familie (oft nur ein, mitunter kein Kind) nicht gesonnen sind, den alten Vater, die alte Mutter daheim zu pflegen;. Diese“ sonderbare Jgüti““'Gesellschaft' weint“ KrökodjMgherCwenn der Mufter'ewas;“' fehlt, und atmet befreit auf, wenn man sie im Krankenhaus, versteht sich zweiter oder erster Klasse, untergebracht hat. Dann kommt man zur Besuchszeit mit einer Flasche Wein, einer Schachtel Konfekt, mit einem Strauß Blumen, und rauscht im eigenen Wagen ab. Solche Beispiele wirken ansteckend. Wo zwei Teile eines Haushalts verdienen, geben sie Angehörige lieber „außer Haus“. Gar jetzt, wo man sich einen schönen Urlaub gönnt.

Der Gemeinde bleibt nur die Aufgabe, an Altersspitäler zu denken. Die Zahl der alten Menschen hat sich in den letzten 50 Jahren verdoppelt. Ein Spitalsaufenthalt eines 20j ährigen Patienten dauert durchschnittlich 20 Tage je Jahr, der Aufenthalt eines 65 bis 75 Jahre alten Menschen rund 80 Tage. Die Rückwirkung auf die Spitalsbetten ist klar. In Wien besteht gegenwärtig ein Fehlbestand an Altersbetten von 200 bis 400. Ein neues Altersspital — wie man es bereits ankündigte — würde sicherlich eine Entlastung bringen. Aber selbst bei größter Beschleunigung der Arbeiten wird es zwei bis drei Jahre dauern, bis dieses Spital im Rohbau fertig ist. Daher kam der Vorschlag, das Rochusspital nicht nur als Altersheim, sondern als Altersspital zu adaptieren. Die maßgeblichen Steljen prüfen übrigens, inwieweit Lainz noch erweiterungsfähig ist. Das Altersheim dort weist bereits einen Belag von 4150 Betten auf. Einige Pavillons sind modernisiert worden. Räumliche Rationalisierung — wie auch im Altersheim Liesing — kann Entlastung schaffen. Im Altersheim Baumgarten wird man sich endlich darüber klar werden müssen, daß heimfremde Einrichtungen, wie Zentrallager und Polizeikommissariat, zu weichen haben. Das kommt der Neubestellung von mindestens 200 Betten gleich.

Aber man darf die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß dies alles nur Ueber-gangsmaßnahmen sind. Nötig ist — abgesehen von der Errichtung von Altersspitälern — die Erbauung von Altersheimstätten in größtem Ausmaß, und zwar nicht im Asylstil, sondern in der Form von Gartenstädten. Nötig ist die Vorplanung von Wohnblockheilplätzen. Jeder Gemeindebau müßte einen Gesundungstrakt besitzen, wo Heimhilfen hauptberuflich angestellt werden.“ Solange wir im „Zeitalter' des Greises“ leben üncr sich nii'eia'ichgieiUne'mo--, logische Regenerierung anbahnt, werden unsere Städte eben das Spiegelbild dieser Spitalszeit sein, wo einer des anderen humanitärer Krankenwärter zu sein hat, um zu verhindern, daß Verzweifelte und Alleingelassene den Tod suchen.

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