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Karteien, Maschinen, Menschen

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VOR DEM POSTAMT Wien 82 stehen ältere Frauen und Männer auf dem Gehsteig — und warten. Die Frauen sind in der Ueberzahl. Viele von ihnen haben ihre Einkaufstaschen mit — der Markt ist nur ein paar Minuten entfernt. So stehen die alten Menschen am ersten Tag des Monats, so pendeln sie unruhig vor dem Postamt am zweiten Tag auf und ab. Die Kreise verengen sich mit jedem Tag. Eine alte Frau mit weißer Nyloneinkaufstasche habe ich vor dem Postamt und im Hausflur sechsmal innerhalb zehn Tagen warten sehen. Sie war nicht zudringlich, diese alte Frau, und lauerte nicht etwa wie alle anderen bereits auf dem Hausflur auf die Geldbriefträger, welche die Renten auszuzahlen haben — nur an zwei Tagen, als draußen ein herber Wind fegte, wartete sie an geschützter Stelle.- Ja — es gibt Menschen, die auf ihre Rente warten wie andere auf die Straßenbahn, Menschen, die an dem Tage, da sie vorm Postamt stehen, den beabsichtigten Einkauf nur dann machen können, wenn der Briefträger den Auszahlungsschein besitzt. Man unterschreibt ihn auf der Ledertasche des Beamten oder nimmt die Hauswand als Unterlage, gegenüber ist auch noch eine Holzplanke frei. Ueber dem gebeugten Rücken der Frau mit der Nylontasche hängt ein Plakat, das Urlaubsreisen von den Fjorden bis zu den Pyramiden anpreist. Ein paar Tausender auf oder ab ist der Unterschied. ..Wenn's nur ein Tausender wäre“, sagt die Frau, als ich sie nach der Höhe ihrer Rente frage und aufs Geratewohl rate. „Ein bisserl über fünfhundert. Meine Nachbarin freilich, ich weiß nicht warum, hat fast achthundert. Mein Gott, mit den dreihundert mehr, da wüßt' ich gleich, was ich anfangen soll. Ein Alleinstehender hat schwer zu wirtschaften. Vorigen Monat hab' ich mir ein neues Geld-bÖrserl gekauft, aus dem alten sind mir die Schillinge immer herausgefallen ... Und immer bücken, das fällt einem halt schon schwer.“ *

FÜNFUNDZWANZIG MINUTEN Straßenkartennit .vom Eintritt in den . zwölf Stockwerke honen' “ vöfferrjäu der ' Peh'sfbnsvcrsicherurfgs-anstalt der Arbeiter nächst dem Schottenring und der Augartenbrücke in Wien. In dem großen Komplex, der neben dem Vordertrakt zwei Seitenbauten mit je sechs Stockwerken einschließt, befindet sich auch der Hauptverband der Sozialversicherungsträger. Die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter ist das größte Sozialversicherungsinstitut Oesterreichs. Es betreut an 1,250.000 Versicherte. Jeden Monat werden etwa 450.000 Renten ausgezahlt. Die jährliche Leistungssumme — neben den Renten (Altersrenten, solche bei Invalidität, für Witwen und Waisen) auch Abfertigungen, Ausstattungsbeiträge, Krankenversicherungen für Arbeiter, Gesundheitsfürsorge und so weiter — diese Summe liegt bei rund vier Milliarden Schilling und stellt damit in der Gruppe der öffentlichrechtlichen Körperschaften den drittgrößten Umsatz (1. Bund, 2. Land und Stadt Wien).

EINE GIGANTISCHE ZAHL, die man nur aufs Papier hinschreiben kann, von deren direkter und indirekter Auswirkung (Angehörige, Kaufkraftsteuerung) man sich aber nur ganz beiläufig eine Vorstellung machen kann. Wirklich menschlich nachzufühlen ist soziale Leistung eben nur dort, wo wir anfangs standen, vor dem Postamt 82 bei der alten Frau. Wo aber und Wie werden diese Summen ins Rollen gebracht? Wir werden in einen Raum geführt, wo schon die Tabelliermaschine für den kommenden Monat ratternd die Zahlungsanweisungen schreibt. Das sieht eigentlich sehr einfach aus. Aber hier befinden wir uns nur am Ende eines verwickelten technischen Betriebes. Ehe dieses Endlosband mit dem Namen des Rentners, seiner Anschrift, der Rentennummer, mit der des auszahlenden Postamtes und dem auszuzahlenden Betrag seine Schlangen wirft, hat die Liquidationskarte ihre Pflicht getan. Eine Alphalochmaschine setzt die Merkmale, die zur Kennzeichnung eines Zahlungsfalles nötig sind, in Form von Auslochungen fest. Die Frau da neben uns arbeitet eigentlich wie an einer Schreibmaschine. Alle Buchstaben und Zahlenbegriffe werden in die Stanzeinheit gesetzt, und wenn alle Begriffe abgelocht sind, erfolgt die Stanzung in einem Zug. Die Maschine arbeitet elektrisch. Eine Lochkarte enthält, in eine obere und untere Hälfte geteilt, je. 45 Spalten, so daß innerhalb einer Karte 90 Stellen zur Auslochung verfügbar sind. Für mich wird zur Ansicht in Blitzesschnelle Name, Anschrift und so weiter gelocht — der Pensionsbetrag freilich hat noch Zeit. Wer sich einmal recht verwirren lassen will, der braucht nur über Lochvorlagen, Lochkarte, Liquidationskarte, Buchungskarte, Statistikkarte zu debattieren oder sich zur Prüfmaschine zu bemühen, wo er hört, daß sie 540 Finger (Stifte) hat, mit denen sie die Lochkarten abtastet, und dann über den Unterschied zwischen manuellem Lochen und Lochstreifentechnik, über „Fünfercode“ und „Sechsercode“ zu reden und, wenn der Kopf nun schon summt, beim Beschrifter (Interpreter) vorbeizugehen, wo die Auslobungen zauberhaft, ja gespenstig lesbar in den Klartext übersetzt werden. Bei der Sortiermaschine werden die Karten — Karten, ja, aber vergessen wir bei allem Knattern und Rattern nicht, daß es Menschenschicksale sind, die hier durch die Maschinen laufen —, werden also die Karten nach Auftrag sortiert, zum Beispiel nach dem Postamt, nach der Rentennummer. Die Durchlaufgeschwindigkeit liegt zwischen 20.000 und 22.000 Karten je Stunde. Neue Gesetze, plötzliche Aenderungen, aber auch der Umfang der Rentenfälle haben es übrigens nötig gemacht, einen Elektronensorter einzustellen. Der letzte Schrei! Die elektronische Sortiermaschine fühlt die Lochungen nach photoelektrischem Grundsatz ab und entschlüsselt sie. Die Arbeitsgeschwindigkeit ist dementsprechend atemberaubend: 48.000 Karten bewältigt diese Maschine in einer Stunde. *

ABER NICHT VON DEN MASCHINEN, von den Menschen hängt hier letzthin doch das Geschehen ab. Man kann monatlich 350.000 Zahlungsanweisungen durch die Tabelliermaschine jagen und ein Endlosband von 26 Kilometer Länge (entsprechend fast der Entfernung Wien-Baden) erzeugen. Man kann aus der Enge und Dezentralisierung in einen übersichtlichen, jeden überflüssigen Aufwand vermeidenden Zweckbau, wie den an der Roßauer Lände, übersiedeln; die Frau, der Mann dort in den Warteräumen müssen immer das Bewußtsein haben, keine Nummer zu sein. Es ist nicht leicht, Menschen, die von Schicksalsfällen betroffen wurden, Menschen, die eine Gesetzeslage nicht tatsächlich, sondern gefühlsmäßig erfassen, das Bewußtsein zu geben, daß in jedem Augenblick der Behandlung des Falles nur dieser und sonst gar keiner auf der Welt ist. Das klingt phantastisch, aber irgendwie müssen Sozialfürsorger über die Region des Beamtentums hinauswachsen, müssen Beamte zu Psychologen, Aerzte zu freundschaftlichen Beratern werden. Es gehört, was wenig bekannt ist, zu den Aufgaben der Pensionsversicherungsanstalt für Arbeiter, die Volksgesundheit zu sichern, die Arbeitskraft zu erhalten, Krankheiten, ob außerhalb eines Betriebes erworben oder in diesem selbst, auf die Spur zu kommen, mit Arbeitsinspekto-raten, mit Arbeitsämtern, mit Betriebsärzten Fühlung zu halten, womöglich vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Das Heilverfahren, für das die Anstalt aufkommt, soll entweder eine Invalidität aufheben (und damit dem Versicherten einen weitaus höheren Verdienst sichern, als ihn die sozialste Rente gewähren kann) oder einer Invalidität vorbeugen. Nie werde ich die Freude des im Gastgewerbe tätigen Mannes draußen in Schallerbach vergessen, der mir umständlich und wiederholt zeigte, daß die vom Rheumatismus fast unbeweglich gewesenen Finger — wieder einen Schlüssel im Schloß umdrehen konnten! Eine Tätigkeit, die wir gedankenlos Tag für Tag, Stunde für Stunde vollbringen, eine Selbstverständlichkeit für den Gesunden — ein Wunder für den Genesenden!

•FORMULARE, TABELLEN,- ZIFFERN imd in irgendeinem Winkel der Fachmagie das Unzählbar-Unwägbare. Das Fräulein im weißen Mantel hält ein Blatt Papier in der Linken: „775 Betten zur Bekämpfung der Tuberkulose, dazu 1375 gemietete in Anstalten, die nicht der Versicherung gehören; 6100 tuberkulös Erkrankte in einem Jahr, 825.000 bezahlte Verpflegstage, Kosten 55 Millionen Schilling, dazu 65 Millionen für die Versicherten, die während der Tuberkuloseerkrankung aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen. Daran hängen Schicksale von Familien! Nun „stirbt man heute nicht mehr an Tbc“, erläutert der Chefarzt, „aber man wird alt damit“. Mit anderen Worten: die Sozialbetreuung muß immerfort auf der Wacht sein, immer wieder aufs neue untersuchen, auf Pflegeaufenthalte schicken, sich um die Angehörigen sorgen. Die neue Tbc.-Behandlung hat als Bedingung für erfolgreichen Abschluß einen mindestens einjährigen Aufenthalt in einer Heilstätte. Die Vorsorge macht sich zusehends geltend. 1900 starben noch 31,3 Prozent der Bevölkerung an Tbc, im Jahre 1956 waren es nur noch 2,2 Prozent. *

WAS ERWARTET UNS im Laufe des heurigen Jahres? Erhöhung der Rentenempfänger von 443.000 auf 450.000. Zwei Drittel der Rentner werden Frauen sein. Eine davon wird draußen vorm Postamt 82 weiterhin sehnsüchtig aufs Geld warten. Für Gesundheitsfürsorge müssen wieder 72 Millionen aufgebracht werden. Es wäre sehr zu wünschen, für Vorbeugungszwecke und die von den Arbeitsämtern sehr beachtete Rehabilitation mehr Mittel aufzuwenden, als es geschehen kann. Von den Beiträgen, die insgesamt 2,8 Milliarden Schilling ausmachen, trägt der Bund rund 747 Millionen. Die Sachlage ist so, daß man heuer mit einem Abgang von 116 Millionen rechnen muß. Die Situation der Pensionsversicherungsanstalt mahnt alle Verantwortlichen, endlich das Institut auf eine tragfähige finanzielle Grundlage zu stellen, um so mehr, als der Bundeszuschuß heuer geringer ist als früher und die zunehmende Ueberalte-rung auf der einen und die Einzahlungen auf der anderen Seite keinen Silberstreifen am Horizont zeigen. Hunderttausende warten heute, weitere Hunderttausende sind es in einem Menschenalter — und alle fragen „Was wird sein?“ Die Kinder der Angestellten des Hauses im Kindergarten, die ich zum Schluß lachen und spielen sehe, wissen noch nichts von den Sorgen der Nacht.

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