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Digital In Arbeit

Arbeit und Freizeit

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Schon heute besteht auf dem Gebiet von Arbeit und Freizeit ein Verhältnis von 1:2. Das heißt: an 236 Tagen im Jahr wird gearbeitet; 129 Tage sind frei, eine Zahl, die sich aus verlängertem Wochenende, gesetzlichen Feiertagen und dem Mindesturlaub ergibt. Mit einer Jahresleistung von 2115 Stunden ist übrigens der österreichische Arbeiter nach dem bundesdeutschen Kumpel am kürzesten in der „Fron“. Die Schweden arbeiten 2150, die Belgier 2200, die Franzosen 2205, die Engländer 2230, die Schweizer 2250 und die Holländer gar 2260.

Zur Zeit gibt es in Österreich rund 2,1 Millionen Arbeiter und Angestellte. Nun wollen wir annehmen, daß in einem Jahr relativer Vollbeschäftigung jede Person 2115 Stunden arbeitet. Multipliziert man diese Summe mit der Anzahl Arbeiter, so ergibt das eine totale Arbeitsstundenleistung von 4,44 Milliarden Stunden. Rechnet man nun, daß früher der Arbeiter 60 Stunden und mehr pro Woche arbeiten mußte, so macht der Unterschied an eingesparter Arbeitszeit pro Jahr 2,22 Milliarden Stunden aus. Zählt man noch die Zeit hinzu, die unter den Verhältnissen des vorigen Jahrhunderts von Schulkindern gearbeitet werden mußte, und diejenige, die von den pensionierten Beschäftigten und den im Haushalt arbeitenden Frauen erspart wird, dann kommt man leicht auf eine totale Zeitersparnis von rund drei Milliarden Stunden pro Jahr. Drei Milliarden Stunden, das sind rund 342.000 Jahre. o*rc. XM'3 9< . <_nm rtw -ytqv~r> - :•&#9632; Das Bessere vorgezogen

Die Arbeiterschaft hat sich diese Freizeit dadurch errungen, daß sie heute in einer Stunde mehr produziert als vorher. Wäre sie bei der alten Methode geblieben, so würde sie alljährlich um die Hälfte mehr produzieren als jetzt und sich auch in bezuig auf leibliche Genüsse um diese Hälfte besser stehen.

Die Arbeitnehmer haben es jedoch vorgezogen, sich einen großen Teil der steigenden Produktivität in Form von kürzerer Arbeitszeit bezahlen zu lassen, die sie dem rein materiellen Wohlstand durch Mehrbezüge vorzogen.

Nach Schätzungen des Institutes für Wirtschaftsforschung wird das österreichische Sozialprodukt künftig jährlich um vier Prozent wachsen. 1978 wird es schon doppelt so hoch sein wie 1960 und mehr als viermal so hoch wie vor dem Kriege. Da das Verhältnis zwischen privatem Konsum und Investition gleichbleiben dürfte, der öffentliche Konsum jedoch etwas zunehmen wird, ist für die nächsten 15 Jahre mit einer jährlichen Zunahme des gesamten privaten Konsums um 3,8 Prozent und des Kopfverbrauches von 3,4 Prozent zu rechnen. Auch die immer anwachsende Freizeit hat starke Auswirkungen auf den Konsum: eine 36stündige Wochenarbeitszeit ist in absehbarer Zeit möglich.

Wenn die Arbeitnehmervertretungen den Erfolg im Kampf um die Arbeitszeitverkürzung auf ihr Banner heften, so trifft das ganz gewiß zu; vor allem für die Jahre vor 1914.

Solange die Unternehmer über eine ausreichende Zahl von Beschäftigten verfügten, haben sie sich fast stets bereit erklärt, ihre kostspieligen Kapitalanlagen für drei statt zwei und manchmal sogar vier statt drei Arbeitsschichten zur Verfügung zu stellen. In dieser schon immer elastischen Grundeinstellung des Unternehmers wird sich bald ein grundsätzlicher Wandel vollziehen. Die kämpferisch eingestellten Arbeitnehmervertreter werden sich wundern, auf welch geringen Widerstand sie in Zukunft mit ihren Forderungen stoßen werden. Die Industrie hat in der Frage der Freizeit auf weiche Welle geschaltet. Warum?

Freizeit ist Konsumzeit! Darin liegt das ganze Geheimnis. Der an die Maschine gefesselte Mensch hat keine Verbrauchsneigung. Außer einem Fruchtsaft in der Pause und einer Zigarette zwischendurch konsumiert er nichts. Und das ist schlecht für den Absatzmarkt. Die Anbieter gehen immer mehr davon aus: Produktion ist zweitrangig, Verkauf ist das Wichtigste. „Der Kapitalismus ist tot — es lebe der Konsumismus!“ heißt es in den USA bereits.

In seltener Harmonie finden sich gerade in dieser Frage „Hüben und Drüben“. Das ist einleuchtend und zwingend. Der moderne Unternehmer wünscht sich heute einen durchaus anspruchsvollen, evolutionierten Arbeitertyp, einen Menschen, der an das Leben Ansprüche stellt, der Neigungen, Ambitionen hat, kurz einen Typ, der an den Früchten des Lebens teilhaben will. Das birgt gewiß auch das Risiko nach erhöhten Lohnforderungen in sich. Aber was ist die zugestandene Lohnerhöhung denn schon anderes als eine Konsumchance? Mit dem Lohn sparen heißt mit dem Dünger geizen!

Amerikanische Fachleute sagen: „Die größte Gefahr ist der zufriedene Mensch!“ Dr. Dichter, ein gebürtiger, nach den USA ausgewanderter Wiener, hat sich als Autorität auf dem Gebiet der Konsumanregung einen Namen gemacht. Seinen Gedankengängen nach sei der zufriedene Mensch wie eine grasende Kuh. Wichtig sei die produktive Unzufriedenheit, die den Menschen dazu bringt, weiter, vorwärts und aufwärts zu streben, und die die Volkswirtschaft dazu zwingt, zu wachsen und sich zu verbessern. Das menschliche Begehren sei die Kraft, die alles vorwärts bringt. Wichtig sei nur, daß der Mensch auch geistig und seelisch mitwachse. In diesem Sinne sei der Mensch nach Dichter nicht aus einem Paradies vertrieben worden, sondern im Gegenteil „in ein Paradies“...

Was sich, wissenschaftlich ausgedrückt, in den kommenden Jahren ereignen wird, könnte man so umreißen: Die technologische Beschäf-tigungslosigkeit wird in technologische Freizeit umgewandelt. Hier haben wir die letzte Ursache dafür, daß Massenarbeitslosigkeit auch als Folge der Automatisierung nicht zu befürchten ist.

Das Problem lautet nur noch: Den Menschen beides zu geben: Einkommen und viel Freizeit. Die Lösung werden sicher die Maschine bringen, der unternehmerische Mut und der Einfallsreichtum jener wenigen, die immer und überall den Karren ziehen.

Diese Denkkette hat aber einen Schönheitsfehler. In der gemeinsamen Erklärung der Vertragspartner des Rahmenkollektivvertrages über die Einführung der 45-Stunden-Woche heißt es unter anderem:... „Es ist daher notwendig, den Arbeitszeitausfall durch eine Steigerung der Produktivität wettzumachen ... Die Arbeitsverkürzung würde auch durch eine Verwendung der gewonnenen Freizeit für Pfuscharbeit entwertet. Die Dienstnehmer sind deshalb über die Gefahren der Pfuscharbeit und deren Unzulässigkeit entsprechend aufzuklären.“ So lautet wie gesagt der Vertragstext.

Und die Wirklichkeit?

„60 Stunden wöchentliche Arbeitszeit garantiert!“ Diese Aufschrift an Baustellen dient nicht etwa der Abschreckung, sondern der Anwerbung von Arbeitern. Die Uberstunden sind zu einer Gefahr geworden, dies gestehen selbst die Gewerkschaftsfunktionäre zu.

Mit der Einführung der 45-Stun-den-Woche hat sich die Lage besonders in der gewerblichen Pfuscharbeit rapid verschlechtert. Bei der Wiener Handelskammer wurden 671 Anzeigen erstattet. Besonders kraß ist die Lage auf dem Bausektor. Dr. Alfred Klose hat in „Berichte und Informationen“ eine interessante Untersuchung angestellt. Er schreibt: Wenn man annimmt, daß von den 300.000 Arbeitern in der Bauwirtschaft nur die Hälfte am Samstag und allenfalls am Sonntag insgesamt zehn Stunden arbeitet, sind das 1,5 Millionen Arbeitsstunden jede Woche, was bei einem Durchschnittsverdienst von 8.50 Schilling nicht weniger als 12,75 Millionen Schilling ausmacht. Wenn an 40 Wochenenden gepfuscht wird, ergibt dies im Jahr eine Lohnsumme von 510 Millionen Schilling. Diese halbe Milliarde wird weder versteuert, noch werden die entsprechenden Sozialabgaben abgeführt. Die Sozialabgaben machen insgesamt zirka 24 Prozent aus, also etwa 122 Millionen Schilling. Umsatzsteuer, Wohnbauförderungsbei-trag, Kinderbeihilfenfonds, Schlecht-wetterregelunigsfond ergeben 13 Prozent, rechnet man dazu noch einen Lohnsteuerausfall von durchschnittlich 10 Prozent, so kommt man fast auf die gleiche Siumme an verlorenen Abgaben.

Man wird das Gefühl nicht los: Hier sind die Pferde durchgebrannt. Vor allem den Gewerkschaften, die so gerne das Scbutzschild vor dem „ausgebeuteten“ Arbeiter aufpflanzen. Wir erleben eine Entwicklung, die mit einer 70- bis 80-Stunden-Woche sehr rasch die Substanz des Arbeiters abbaut, die seinen nervlichen Kräftehaushalt weit überfordert. Das können aber der Unternehmer und die Volkswirtschaft auf die Dauer nicht dulden. Ist es nicht schon ungehörig genug, daß Gesellen das Wochenende über pfuschen, damit dem Meister und sich selbst reguläre Aufträge entziehen und am Montag womöglich noch blaumachen? Dazu kommt, daß die Pfuscher sehr oft als Frühinvalide der ganzen Volkswirtschaft in der Tasche liegen: Nur 47 von 100 Pensionsanwärtern erleben heute überhaupt die Altersgrenze!

Im Jahre 1953 wies die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter 38.934 männliche Alterspensionisten gegen 24.354 Invaliditätspensionisten aus. Schon neun Jahre später (1962) standen 37.920 Alterspensionisten 43.368 Invaliditätspensionisten gegenüber. Damit hat die Zahl der männlichen Frühinvaliden in diesem Zeitraum um 78 Prozent zu-, die der Alterspensionisten aber um drei Prozent abgenommen.

Im vergangenen Jahr sind an die 151.000 Arbeiterinnen und Arbeiter vor Erreichung der Altersgrenze „in die Rente gegangen“.

Die Münze hat also zwei Seiten; oder mit anderen Worten: Auch unser steigender „Freizeitwohlstand“ erfordert hohe soziale Wachsamkeit.

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