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Unser Volkseinkommen

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Die Sozialreform ist ein Prozeß. Kein Umbruch. Keine ruckartige Wandlung etwa der Einkünfte oder der gesellschaftlichen Wandlungen. Das, was man etwas oberflächlich die „Befreiung der Arbeiterschaft“ nennt, ist seit einem Jahrhundert im Gang. Ein säkularer Prozeß, kaum unterbrochen durch revolutionäre Akte.

Die Zahlen beweisen es. Ganz besonders die Einkommensziffern und die Ergebnisse der Haushaltstatistiken. Vor uns liegt eine vom Bundesamt für Statistik herausgebrachte Schrift*, die sich zwar mit dem „Volkseinkommen“ als einem bilanztechnisch abgewogenen Ganzen beschäftigt und lediglich den Zeitraum eines Jahres umfaßt, aber trotzdem geeignet ist, bemerkenswerte Aufschlüsse über die sozialökonomischen Verschiebungen zu geben und anzuzeigen, welchen Fortschritt das Bemühen um Steigerung der durchschnittlichen Wohlfahrt von einem Jahr auf das andere gemacht hat.

Im Berichtsjahr (1953) ist das Einkommen der Unselbständigen nominell gegenüber dem Vorjahr um 2,7 Prozent und, bei Beachtung der Preisreduktionen, um 4 Prozent gestiegen. Insgesamt betrug das Einkommen der Dienstnehmer 38 Milliarden Schilling. Bezogen auf das gesamte Volkseinkommen hat sich das Dienst-nehmereinkommen in Oesterreich von 58 Prozent auf 60 Prozent erhöht. In einem geradezu gegenläufigen Prozeß ist das Unternehmereinkommen von 36 Prozent auf 35 Prozent gesunken. Man ist versucht, im relativen Anstieg des arbeitnehmerischen Einkommens ausschließlich den Nachweis eines Fortschreitens der Sozialreform zu sehen. Das ist nun nicht so. Neben dem Ergebnis sozialreformatorischen Bemühens spiegelt sich in der Tatsache, daß die Arbeitnehmer jetzt eine größere Quote des Volkseinkommens erhalten als ein Jahr vorher, auch die wachsende Verstaatlichung der Wirtschaft und der Preisabbau, der zur Kürzung der Unternehmereinkünfte geführt hat.

Das durchschnittliche Einkommen je Arbeitnehmer betrug 1953 1404 S im Monat. Die Arbeiter erhielten 1275 S und die Angestellten 1686 S. Der Unterschied beträgt etwa 32 Prozent. Nun muß aber beachtet werden, daß im Durchschnittseinkommen der Angestellten auch die Spitzengehälter mitverrechnet sind. Bei den Arbeitern gibt es dagegen keine Spitzenlöhne in jenen Extremformen wie bei den Angestellten. Aus diesem Grund muß das Durchschnittseinkommen der Masse der Angestellten etwas tiefer als mit 1686 S angenommen werden, wie man ja überhaupt feststellen kann, daß sich das Durchschnittseinkommen eines Angestellten von jenem eines Hilfsarbeiters nicht besonders unterscheidet. Im Berichtsjahr sind zwar bereits die Folgen der Entnivellicrung bemerkbar — die Arbeitereinkommen stiegen gegenüber 1952 um 3 Prozent, die Einkommen der Angestellten

* Oesterreichs Volkseinkommen im Jahre 1953, Wien 1955. 88 Seiten. Brosch. 2! S. Auslieferung: Verlag der Ueberreuterschen Buchdruckerei.dagegen um 5 Prozent —, trotzdem ist es so, daß die Ergebnisse der Sozialreform hinsichtlich der Einkommenssteigerung mehrheitlich den Arbeitern zugute gekommen sind. Das soll nun keineswegs zu der Annahme verleiten, daß die Arbeiterlöhne bereits einen Hochstand erreicht haben, der einigermaßen den Ergebnissen des Produktivitätsanstieges entspricht und ein Leben in Wohlfahrt möglich macht.

Die Gesamtzahl der Beschäftigten betrug 1953 1,969.000; davon waren 621.000 Angestellte. Es wäre nun interessant, festzustellen, wie sich das Einkommen der Arbeitnehmer zu jenem der Unternehmer je Person verhält. Die vorliegende Statistik gibt hierüber keine Aufschlüsse. Man könnte zwar wie folgt argumentieren: Arbeitnehmer etwa 2 Millionen, Unternehmer 350.000 (Zahl der Wahlberechtigten für die Handelskammerwahlen). Erhalten die Arbeitgeber 35 Teile des Volkseinkommens, die Arbeitnehmer 60 Teile, so kann, nach dieser sehr oberflächlichen Rechnung, auf einen Arbeitgeber ungefähr dreimal soviel an Einkommen entfallen wie auf einen Arbeitnehmer, ein Verhältnis, das in keiner Weise zutreffen kann, so daß die Forderung berechtigt ist, in einer nächstjährigen Aufstellung ein einigermaßen der Wirklichkeit entsprechendes Ziffernmaterial zu liefern, das vielleicht zu gewissen Des-illusionierungen beitragen könnte. Dabei wäre zu beachten, daß auch die mitarbeitenden Ehegattinnen zu berücksichtigen wären und nur Nettoeinkünfte gegenübergestellt werden dürften.

Neben ihrem Stammeinkommen erhalten die Dienstnehmer 1,186.000 Kinderbeihilfen in der Höhe von zirka 1,5 Milliarden Schilling. Diese eineinhalb Milliarden sind ein deutliches Zeichen für die neue Art, in der nunmehr Sozialreform gemacht wird. Nicht mehr mechanische Entproletarisierung ausschließlich der ledigen Lohnempfänger, sondern Lösung der sozialen Frage in ihrer ganzen Breite, unter Einschluß auch der Nichtverdienenden, also der Familie.

Das Ansteigen des sogenannten „Masseneinkommens“ ist in den Konsumziffern ausgewiesen. Nach dem zweiten Weltkrieg blockierten die Ausgaben für die Ernährung den größten Teil des Haushalteinkommens. Jetzt betragen sie nur noch 39 Prozent (gerechnet vom Gesamtaufwand der Bevölkerung) und sind gegen das Vorjahr um 1,3 Prozent und relativ sogar um 3 Prozent abgesunken. Die relative Verringerung der Aufwendungen für die Deckung der Kosten des Nahrungsmittelkonsums ist nach dem „Engeischen Gesetz“ ein Beweis dafür, daß sich ein Volk (ein Haushält) auf dem Weg zum Wohlstand befindet, zumindest aber der „Bedrängniszone“ entronnen ist.

Dagegen sind die Aufwendungen für den Erwerb von Genußmittel erheblich angestiegen. Vor allem gilt das hinsichtlich der konsumierten Alkoholmengen. Im Berichtsjahr haben die Oesterreicher nach amtlichen Ermittlungen (die ja erheblich unter den tatsächlichen Ziffern liegen) nicht weniger als 98 Millionen Liter Wein und 12 Millionen Liter Spirituosen vertrunken. Diese Ziffern sind ein Beweis für die „Liquidität“, in der sich manche Schichten der Bevölkerung befinden. Dabei handelt es sich bei den um die Steigerung des Alkoholkonsums „Bemühten“ vor allem um Gruppen von Einkommensbeziehern, die sich noch in der Bedrängniszone befinden und nach Abzug der Ausgaben für Alkoholika sicher kaum das Existenzminimum an Einkommen besitzen. Dazu kommen auch jene „Intellektuellen“, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hinweisen, wie wenig Mittel (..Kulturgroschen“) ihnen zur Verfügung stehen, um ihren „furchtbar“ großen Bedarf an kulturellen Gütern decken zu können, wobei sie sich über dieses sie gewiß sehr bedrückende Problem nach dem dritten, mittels des „Genußschillings“ bezahlten Viertel mit einer dem jeweiligen Milieu angepaßten Melancholie unterhalten.

In der Tatsache, daß jeder Oesterreicher (einschließlich der Säuglinge u. ä. notorischer Nichttrinker) jährlich 14 Liter Wein (nach der „amtsbekannten“ Ziffer) und eineinhalb Liter Spirituosen (das sind etwa fünf laufende Liter) vertrinkt, zeigt sich auch in unserem Land das Ausmaß der Alkoholisierung der westlichen Welt, die da glaubt, eine politische Depression und ein Mehr an Einkommen in dionysischer Lust „überwinden“ zu können. Wenn man also davon absieht, daß in einer gewissen Hinsicht die Resultate der Sozialreform sich auch in einem gestiegenen Quantum von genossenem Alkohol widerspiegeln, müssen wir beachtliche Wandlungen in der Konsumentenstruktur feststellen. Die Oesterreicher sparen, sie haben ein beachtliches Interesse an Eigenheimen und an anderen Dauergütern. Freilich ist man nicht immer geneigt, das hierzulande zur Kenntnis zu nehmen, schon deswegen nicht, weil wir die Kenntnis über unser Land von Filmen und qualitativ gleich hochstehenden Illustrierten beziehen und annehmen, daß die österreichische Eigenart nur in Grinzing zur reinen Darstellung kommen kann.

Bedenklich ist dagegen, daß die Resultate der Sozialreform in einem steigenden Umfang in Gütern eines Nachholluxus angelegt werden. Das zeigt sich im Ausmaß der Motorisierung, die zum Volkseinkommen und vor allem zum Einkommen der Autobesitzer nicht durchweg in einem angemessenen Verhältnis steht. Vor einiger Zeit sagte mir ein Autobesitzer, er müsse sich manchmal fragen, ob er seinen Kindern die Haare schneiden lassen oder mit dem Auto eine Partie machen solle. Bei manchen Autobesitzern verlaufen übrigens Benzin- und Kulturkonsum in einem umgekehrten Verhältnis. Mit dem Fortschreiten der Sozialreform muß also eine erhöhte Konsumdisziplin einhergehen, soll nicht das heroische Bemühen christlicher und sozialistischer Sozialreformer zu einem großen Teil umsonst gewesen sein und ein Mehr an Einkommen nicht, wie man annehmen möchte, zu einem Mehr an Zufriedenheit führen, sondern neues Begehren und wachsende Unzufriedenheit hervorrufen. Die Sozialreform ist nicht allein eine Frage der Vergrößerung der Produktivität, einer besseren Verteilung des Sozialproduktes oder einer Ver-persönlichung des Betriebsprozesses, sondern in einem weiten Umfang auch eine Sache der Nutznießer der Sozialreform, die durch eine rechte Konsumgesinnung ihr Einkommen bestens zu verwenden haben.

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