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Anmerkungen zur Bevolkerungspolitik

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Stand die Bevölkerungspolitik noch tot dem zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt der Diskussion, so wurde es mit dem Fortschreiten des Krieges um diese Disziplin immer stiller. Amtliche Ziffern unter Einschloß der Frontverluste konnten nicht vorgelegt werden, weil das vorhandene Zahlenmaterial, so weit es überhaupt für eine Veröffentlichung geeignet war, schwer mit der Wirklichkeit in Ubereinstimmung zu bringen war (Vermißte, Verschleppte, Bombenopfer).

In Ermanglung brauchbarer Unterlagen ist es auch heute noch nicht möglich, die Bevölkerungsentwicklung und ihre Beein-flußung durch den Krieg und die Nachkriegszeit grundsätzlich zu kennzeichnen. Trotzdem ist es aber ein Gebot der Stunde, schon jetzt aus den dürftigen, bereits da und dort auffindbaren Zahlen eine allgemeinste Entwicklung abzulesen versuchen, um die gegebene Situation zu erkennen. Wenn auch Ziffern der Vergangenheit herangezogen werden, so deshalb, weil eine seit Jahrzehnten sichtbare Grundtendenz im Volkswachstum durch die Kriegsfolgen nicht aufgehoben, sondern eher beschleunigt worden ist und daher noch als vollgültig angesprochen werden kann. Vier Tatsachen sind es, die im Rahmen einer bevölkerungspolitischen Aussprache einer Beachtung wert zu sein scheinen: Der Geburtenabfall selbst, che Veralterung, die Entmännlichung und die kontinentale Wanderung.

Der Geburtenabfall ist in seiner allgemeinen Bewegungsrichtung auf dem Kontinent bereits etwa seit 1900 bis 1910 sichtbar und äußerte sich anfänglich in einer Abnahme der kinderreichen Familien und anschließend in einer absoluten Verringerung der Geburtenziffern und einer Verringerung der Zuwachsraten, des Ergebnisses einer Gegenüberstellung von Geburtenzahl und Sterbeziffer, bis zur völligen Aufhebung derselben und ihrem Übergang in ein Gebu rtendef izit.

Zur Kennzeichnung der geistigen Ursachen des Geburtenrückganges kann festgestellt werden, daß dieser inisbesondere in einer Lockerung der Familiengesinnung seine Ursache hat, weiter im Fehlen eines ursprünglichen, geradezu naiven und unbewußten Glaubens an das Leben schlechtweg. Die Eltern „berechnen“, inwieweit die Zahl ihrer Kinder geeignet ist, ihren eigenen Lebensstandard zu beeinflußen und etwa ein gesell-schaftliches Absinken herbeizuführen.

Die Eingliederung der Frau in den außerhäuslichen Arbeitsprozeß hat die Entwicklung beschleunigt. Von 46.000 befragten verheirateten deutschen Textilarbeiterinnen hatten 57.4 Prozent kein Kind, vom Rest besaßen 21.8 Prozent ein Kind und nur 1.3 Prozent fünf und mehr Kinder.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse tragen erheblich mit dazu bei, die Scheu vor dem Kind noch zu vergrößern. Nun ist es aber nicht so, daß etwa mit dem Anstieg des Einkommens die Geburtenfreudigkeit auch einen Anstieg erfährt. Im Gegenteil. Je wohlhabender die Menschen sind, desto stärker äußert sich die Neigung, jede Einengung ihrer Bequemlichkeit in der Richtung des geringsten Widerstandes zu verhindern. Das Kind ist nun eine Begrenzung der Bequemlichkeit. Bei den bessergestellten Bevölkerungskreisen wird „der Wille zum Auto stärker als der Wille zum Kind“.

Die beachtlichen Fortschritte der Sozialhygiene konnten den durch den Geburtenrückgang verursachten inneren Abfall bis zur Erreichung eines vorläufig und wohl auf lange Sicht geltenden „Optimismus“ an Lebenswahrscheinlichkeit überdecken, so daß erst einige Jahre vor dem zweiten Weltkrieg in europäischen Gebieten ein absoluter Bevölkerungsrückgang festgestellt werden konnte (Frankreich, Österreich, Estland und Insel Man).

In diesem Krieg war gerade in kriegführenden Ländern zeitweilig ein beachtlicher Geburtenanstieg zu beobachten. Diese Tatsache könnte der Anlaß zu falschen Vermutungen sein. Aber ebenso wie das Anwachsen der Eheschließungen im Krieg, war auch der Anstieg der Kriegsgeburten nur eine vorübergehende Erscheinung, hervorgerufen durch finanzielle ind sonstige wirtschaftliche Vorteile.

Die durch den Krieg und die Nachkriegszeit geschaffenen außerordentlichen Verhältnisse beschleunigen offensichtlich den Prozeß der Entvölkerung des Kontinents.

Der Ausfall von Millionen von Männern, zeigt sich bereits jetzt in einem auch gegenüber der Vorkriegszeit außerordentlichen Rückgang der Geburten. Wenn man annimmt, daß Österreich 300.000 Gefallene aufzuweisen hat, muß mit einem unmittelbar mit dem Krieg zusammenhängenden Geburtenausfall in mindestens der gleichen Höhe gerechnet werden. Man kann den Kriegsausfall unseres Vaterlandes daher, gering gerechnet, mit 10 Prozent seiner Vorkriegsbevölkerung einschätzen. Die Entwicklung wird noch durch Schwangerschaftsunterbrechungen, die aus den verschiedensten Gründen erfolgen, durch den Zerfall tausender Ehen, die Wohnungsnot und den schwächer werdenden Willen zum Kind verschärft, so daß wir, auf lange Sicht, geradezu mit einer Entvölkerung Österreichs rechnen müssen, um so mehr als unser Vaterland ohnedies mit einem Geburtendefizit in diesen Krieg gegangen ist. Wies doch Wien schon 1934 einen Abgang von 11.700 Menschen auf, bei einem gesamtösterreichischen Überschuß von 5500. Im Jahre 1937 dagegen war bereits ein gesamtösterreichischer Abgang zu verzeichnen. Es mag zur Illustration dienen, daß beispielsweise die Nobelpfarre St. Peter in Wien vor dem Krieg in einem Jahre einmal keine einzige Geburt verzeichnen konnte, daß im Wiener Hochhaus, das eine große Zahl von Wohnparteien beherbergt, von seiner Erbauung bis 1936 kein einziges Kind geboren wurde.

Bei einer Betrachtung der Geburtenziffern der ersten Republik ist darauf Bedacht zu nehmen, daß etwa 28 Prozent der Österreicher in jener Zeit in Wien lebten. Die menschenabsaugende Wirkung der Großstadt war daher in Österreich eine ganz besonders starke.

Nach einer in jüngster Zeit vorgenommenen Schätzung gibt auch die Bevölkerungsentwicklung in England zu Bedenken Anlaß. Wenn die jetzt feststellbare Tendenz der Bevölkerungsentwicklung keine Änderung erfährt, wird das Inselreich im Jahre 1951 sein Volksmaximum erreicht haben und würde von da ab von 41 Millionen (1946) auf 10.5 Millionen im Jahre 2016 absinken.

In Frankreich überwogen bereits im Jahre 1934 die Todesfälle die Geburten. Der Anstieg des Bevölkerungsdefizits fand 1940 ein Ende. Von den unmittelbaren Kriegsverlusten abgesehen, ist von da weg ein leichter Anstieg zu verzeichnen, der aber nicht so stark ist, um das Defizit zu beseitigen. In Erkenntnis der Tatsache, daß bevölkerungspolitische Maßnahmen, wenn sie ein positives Ergebnis zeitigen, erst in etwa zwanzig Jahren auf dem Arbeitsmarkt zur Auswirkung kommen, denkt man in Frankreich an eine großzügige Förderung der Einwanderung von Arbeitswilligen.

Bei einer Gesamtbetrachtung der Entwicklung der Erdbevölkerung ergibt sich, daß der europäische Kontinent nicht nur politisch, sondern auch in seinem Anteil an der Gesamtbevölkerung erheblich absinkt. Waren 1910 noch 20 Prozent der Erdbewohner Europäer, so sind es jetzt nur mehr 18 Prozent (Rußland ausgenommen).Innerhalb des Kontinents ist die Entwicklung keine einheitliche. Deutlich zeigt sich ein Gefälle von Ost nach West. Unter Absehen von den Kriegsfolgen, die allerorten noch nicht ziffernmäßig festgehalten werden konnten, werden die Völker der Sowjetunion im Jahre 1970 um 25 Millionen mehr Menschen zählen als Mittel-West und Nordeuropa zusammen, vorausgesetzt, daß die geistige Verstädterung nicht auf den in seiner Grundhaltung noch immer bäuerlichen Menschten des Ostens übergreift.

Die Veralterung ist eine Folge der Uberdeckung des Bevölkerungsabfalles durch die Erhöhung der Lebenswahrscheinlichkeit. An Stelle der statistischen Hilfsfigur der Bevölkerungspyramide (breite Grundfläche von der Jugend gebildet, gleichmäßige Verengung bei den aufsteigenden Jahrgängen) ist jetzt die Urne getreten, bei der eine schmale, durch die Jungen dargestellte Basis von einer unnatürlichen Ausweitung älterer und alter Jahrgänge überhöht wird.

Die Kriegsverluste an arbeitsfähigen Männern haben die schon seit dem ersten Weltkrieg sichtbare Veralterung weiter verschärft. Eine immer kleiner werdende Schichte muß die Last der Güterhervorbringung tragen. Zur Kennzeichnung seien Ziffern aus den Beratungen über den Haushaltsplan Österreichs für 1946 herangezogen. Im Bundesvoranschlag beträgt der Pensionsaufwand 67 Prozent des Aufwandes für die Aktiven. (1933 waren es 66 Prozent unter Einschluß der damals sehr starken Gruppe von Pensionisten aus dem gesamten seinerzeitigen großösterreichischen Verwaltungsraum). Den 214.000 aktiven Staatsangestellten stehen 1 9 3.000 P e n s i o n s p a r t e i e n gegenüber, von denen 132.000 über 60 Jahre alt sind. Besonders im argen liegen die Verhältnisse bei den Bundesbahnen. Dort kommen auf 44.000 Aktive 76.000 Pensionisten. Überstiegen noch 1933 die Aktiven die Pensionisten um 15 Prozent, so lautet die analoge Ziffer für 1946 nur mehr 11 Prozent.

Eine Berechnung für England weist auf, daß bei einem Fortschreiten der Veralterung im Jahre 2016 53 Prozent der Engländer mehr als 60 Jahre alt sein werden, 3 Prozent jünger als 15 Jahre und nur 44 Prozent im Alter von 16 bis 59 Jahre. Diese 44 Prozent müssen also zur gegebenen Zeit die Güter für 56 Prozent hervorbringen.

Die Entmännlichung ist in ihrem Umfang nur mit der nach dem Dreißigjährigen Krieg vergleichbar. Meist waren es im Erfassungsbereich der deutschen Wehrmacht die Geburtsjahrgänge 1908 bis 1925, die an die Front mußten und dort den verhältnismäßig stärksten Blutzoll zu bringen hatten. Die Folge: In W i e n war zum Beispiel um die Jahreswende bei der Gruppe der 20- bis 30jährigen vier Frauen nur ein Mann gegenübergestanden. Wie weit die in die Heimat zurückkehrenden Kriegsgefangenen dieses Mißverhältnis zu korrigieren in der Lage sein werden, entzieht sidi noch einer Beurteilung. Jedenfalls ist der bleibende Ausfall an Männern ein derartiger, daß ein Teil der Frauen, welche sich derzeit im sogenannten „heiratsfähigen“ Alter befinden, kaum mit einer Verehelichung wird rechnen können.

Diese Gewißheit in Verbindung mit außerordentlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen hat Zustände geschaffen, die bedenklich, aber sicherlich nur vorübergehender Natur sind.

Der Entmännlichung folgt eine Verringerung der Zahl der Eheschließungen und damit der Geburten. Die heiratswilligen Frauen sind gezwungen, weiterhin im Elternhaus oder bei den Geschwistern zu bleiben. Durch dieses Verbleiben der Frauen in der Familie, entstehen so im bäuerlichen Bereich da und dort „Großfamilien“. In der Stadt wenden die Frauen sich dagegen in einem erheblidien Ausmaße den sogenannten „Lebensberufen“ zu, die ihnen jetzt wegen des Fehlens der Männer mehr wie früher offen stehen. Für manche Altersgruppen verliert die Frauenarbeit den ihr bisher anhaftenden vorübergehenden Charakter.

In Österreich scheint der Männerausfall verhältnismäßig stärker als in Deutschland zu sein. Vor allem deswegen, weil unsere Jungmänner mehr als die Deutschlands zur Infanterie gemustert wurden, wo diese wie auch im ersten Weltkrieg die relativ stärksten Verluste aufzuweisen hatte. Nach Berichten von Pfarrämtern vom Lande, die schon während des Krieges bekannt wurden, sind an manchen Orten die Ausfälle zwei- bis dreimal stärker als im ersten We 11 k r i e g.

Aber auch in Deutschland sind die Verluste erhebliche. Einige Einzelbeispiele in Ermanglung zusammenhängender Unterlagen mögen dies erweisen: In Süd-Baden kommen derzeit auf 100 Frauen 72 Männer; bei den 19 bis 50jährigen ist das Verhältnis 100 : 51. In der Gemeinde Sinsheim (Baden-Baden) sind bei den 20 bis 40jährigen vier Frauen und ein Mann vorhanden (noch schlechter ist also das Verhältnis bei den 20 bis 30jährigen). In Reutlingen ergab sich, freilich unmittelbar nach dem deutschen Zusammenbruch, ein Verhältnis bei den 19 bis 25jährigen von 7 : 1.

Daß das Mißverhältnis zwischen Frauen und Männern aber nicht auf die kriegführenden Länder beschränkt ist, zeigt das Beispiel Schweden. Dort stehen derzeit 100 Männer 123 Frauen gegenüber.

Nach offiziellen, aber nicht abschließenden Feststellungen hat dieser Weltkrieg unmittel* bar 34 Millionen Menschen das Leben gekostet. Aus dieser Ziffer, auch wenn sie noch Korrekturen unterzogen werden sollte, kann man ablesen, wie ungeheuer die Ausmaße des Bevölkerungsabfalles sind, der sich ergibt, wenn man zu den Verlusten im Krieg jene direkten und indirekten Kriegsverluste hinzurechnet, die durch vorzeitigen Tod und inbesondere durch verhinderte Geburten hervorgerufen wurden.

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