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Wie vollbeschäftigt ist Österreich?

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Nachdem im Vorjahr das enorme und für viele überraschende Leistungsbilanzdefizit zeigte, wie folgenschwer sich eine auf ständige Ausgabensteigerung abgestellte Finanzpolitik auf die außenwirtschaftlichen Verhältnisse Österreichs auswirken kann, gerät nun ein anderer Teil der „Insel der Seligen” ins Wanken. Jedenfalls ist die versteckte und weggewischte Arbeitslosigkeit nicht mehr tabu. Schließlich heißt das Aufzeigen versteckter Arbeitskraftreserven und unterbeschäftigter Ressourcen ja auch nicht, daß Arbeitslosigkeit gewünscht wird, sondern vielmehr, daß Klarheit über die tatsächlichen Arbeitsmarktverhältnisse hergestellt werden soll.

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Nachdem im Vorjahr das enorme und für viele überraschende Leistungsbilanzdefizit zeigte, wie folgenschwer sich eine auf ständige Ausgabensteigerung abgestellte Finanzpolitik auf die außenwirtschaftlichen Verhältnisse Österreichs auswirken kann, gerät nun ein anderer Teil der „Insel der Seligen” ins Wanken. Jedenfalls ist die versteckte und weggewischte Arbeitslosigkeit nicht mehr tabu. Schließlich heißt das Aufzeigen versteckter Arbeitskraftreserven und unterbeschäftigter Ressourcen ja auch nicht, daß Arbeitslosigkeit gewünscht wird, sondern vielmehr, daß Klarheit über die tatsächlichen Arbeitsmarktverhältnisse hergestellt werden soll.

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Wer sich für die Entwicklung einer leistungsfähigen Volkswirtschaft in unserem Lande mitverantwortlich weiß, muß auch auf die Schwachstellen hinweisen, die teils eine neben dem Konjunkturverlauf einhergehende zufällige Entwicklung und teils eine geschickte Regie zunächst nicht so leicht erkennbar machen.

Für eine realistische Beurteilung der Frage: „Wie vollbeschäftigt ist Österreich?” und wie sich die Chancen für eine nachhaltige Ausschöpfung der Ressourcen entwickeln, sind mehrere Fragen aufschlußreich:

• Wie aussagekräftig sind die offiziellen Arbeitslosenraten?

• Was ist mitjenen Arbeitskräften geschehen, die infolge der Rezession freigestellt wurden?

• Wie entwickelt sich das laufende Angebot an Arbeitskräften?

Nach dem enttäuschenden Ausbleiben einer raschen Erhölung sind nun alle diese Fragen Gegenstand zunehmender Beachtung. Im Parlament hat kürzlich der Obmann der großen Oppositionspartei auf einige Veränderungen in der österreichischen Arbeitslosenstatistik hingewiesen:

• Aus der Arbeitslosenstatistik wurdet in den letzten Jahren jene Pensionswerber eliminiert, die vor der Pension noch Arbeitslosengeld beziehen.

• Dasselbe gilt für Mütter, die nach Ablauf ihres Karenzurlaubes noch ihr Arbeitslosengeld konsumieren.

• Auch sind jene Arbeitnehmer nicht in der Statistik ausgewiesen, die zwar eine Arbeit suchen, aber keine Hoffnung haben, vom Arbeitsamt vermittelt zu werden.

• Die meisten Berufsanfanger mit höherer Bildung wenden sich nicht an das Arbeitsamt.

• Ebenso haben Frauen, die Teilzeitbeschäftigung suchen, wenig Chancen, vom Arbeitsamt vermittelt zu werden.

• Letztlich gibt es eine Reihe von „entmutigten” Arbeitskräften (meist Zweitverdiener), die in schlechten Zeiten die Hoffnung, eine Arbeit zu finden, aufgegeben haben.

Die Berücksichtigung aller dieser

Faktoren würde die Arbeitslosenquote in Österreich nach Meinung von Dr. Taus um gut ein Prozent, heben. Bei den „Beschäftigten” werden seit 1970 zunehmend mithelfende Ehefrauen mitgezählt, die früher bei gleicher Tätigkeit nicht angemeldet waren.

Man kann sicherlich nicht alle, aus der Statistik Ausgeschiedenen schlechtweg als „Arbeitslose” bezeichnen, die Vergleichbarkeit der Zahlen durch die Jahre hindurch aber setzt unverändert definierte Personenkreise voraus.

Josef Taus bekam von einer ganz unerwarteten Seite Sukkurs: In einer kürzlich veröffentlichten Studie des österreichischen Instituts für Arbeitsmarktpolitik an der Universität Linz über die „Arbeitslosigkeit in Österreich 1955 - 1975” stellte Univ.- Prof. Dr. Kurt W. Rothschild fest, daß das Arbeitskräftepotential bei schwächerer Nachfrage am Arbeitsmarkt nicht voll erfaßt wird, und zwar vor allem deshalb, weil die offiziellen Arbeitslosenzahlen nur die vorgemerkten’ Arbeitslosen, nicht aber alle Arbeitswilligen enthalten. Die vorgemerkten Arbeitslosen sind vorwiegend Leistungsempfänger, also entlassene Arbeitskräfte, die vorher in Arbeit standen. Bei den nicht erfaßten „versteckten” Arbeitswilligen, die in der Hochkonjunktur plötzlich zum Vorschein kommen, handelt es sich hingegen um eine buntgemischte Menge: Zum Teil sind es Jugendliche, die keinen Eintritt ins Berufsleben finden (und sich vielleicht nur deshalb noch einer gewissen Schulung unterziehen), dann Frauen, die (wieder) Arbeit aufnehmen wollen oder Selbständige in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel, die zur Lohnarbeit hinüberwechseln wollen oder müssen, die aber keinen Arbeitsplatz finden.

Da es in Österreich wie in den meisten europäischen Staaten keine ständigen Erhebungen zur Erfassung dieser Art von „Arbeitslosigkeit” gibt, kann ihr Umfang nicht einmal annähernd verläßlich festgestellt werden. Um auch nur größenordnungsmäßige Vorstellungen zu ermöglichen, wird der Begriff dieser Art „versteckter” Arbeitslosigkeit sehr weit verstanden;

er umfaßt alle genannten, im Prinzip arbeitswilligen Personen, auch wenn sie durch ihre Wünsche bezüglich Berufsart und Berufsort nur beschränkt vermittlungsfähig sind, in der Hochkonjunktur aber dann normalerweise vermittelt werden können. In Ermangelung geeigneter Erhebungsdaten schätzt Rothschild die „versteckte” Arbeitslosigkeit (besser: latente Arbeitsmarktreserve) für den Zeitraum 1966 -1974 unter der Annahme, daß in den Konjunkturhöhepunkten, in de-

nen auch das erfaßte Arbeitskräftepotential Höchstwerte erreicht, die ausgewiesene Arbeitslosigkeit ungefähr der „echten” Arbeitslosigkeit entspricht. Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber der Aussagekraft oder gar der Genauigkeit dör vorgelegten Schätzungen nimmt der Autor an, daß eine korrigierte Arbeitslosenrate nach der Beschäftigungslage in der Hoch konjunktur 1973 und 1974 um 0,5 und 0,7 Prozent höher gelegen wäre als die offiziellen Arbeitslosenraten von 1,5 und 2 Prozent. Richtig und bemerkenswert ist sicherlich, daß sich das Arbeitskräfteangebot während des Konjunkturverlaufes ständig geändert und daher die Zählung der Stellensuchenden als Prozentsatz „des” Arbeitskräfteangebotes nicht ohne Problematik ist, vor allem, was die Vergleichbarkeit mit Daten anderer Perioden und anderer Länder betrifft.

Eine weitere Frage ist, wohin diejenigen Arbeitskräfte hingekommen sind, die vom rückläufigen Produktionsapparat wegen des Produktionsrückganges freigestellt wurden. In Österreich ist der Arbeitsmarkt von solchen Arbeitssuchenden in einer Art freigehalten oder freigefegt worden, die nicht unbedenklich ist und deren „dickes Ende” noch zu bewältigen sein wird. Zunächst wurden seit dem Jahresende 1973 bis Jahresmitte 1977, trotz des schon sehr ungünstigen Verhältnisses zwischen öffentlichem Dienst und Gesamtbeschäftigung zusätzlich 42.261Arbeitssuchende in den Bundes- und Landesdienst aufgenommen, das sind rund 1,6 Prozent des Arbeitskräfteangebotes. Der Zugang an Frühpensionisten hat 1974 bis 1976 48.271 betragen, oder 1,7 Prozent des Arbeitskräfteangebotes. Sicherlich sind darunter auch nicht mehr Arbeitsfähige und nicht mehr Arbeitswillige, es ist aber zur Genüge bekannt, welche Rolle die Aktionen „Frühpension” bei den Bemühungen spielen, das Problem der strukturellen oder konjunkturellen Arbeitslosigkeit zu lösen. Schließlich ist es kein Geheimnis, daß über die Unternehmungen der verstaatlichten Industrie eine Art temporäres Kündigungsverbot verhängt wurde, welches unter Berücksichtigung von Schätzungen der Wirtschaftsforschung von 1975 heute (sehr vage!) wohl auf derzeit 1,5 bis 2 Prozent des gesamten Arbeitskräfteangebotes geschätzt werden kann. Noch liegen hier keine Daten vor und die Wirtschaftsforscher bemühen sich redlich, vom Sozialministerium brauchbare Angaben über das tatsächliche Arbeitsvolumen zu erhalten, das von der Kurzarbeit erfaßt wird und aus Arbeitsmarktförderungsmitteln ■finanziert wird.

Nun wäre es sicherlich nicht richtig, alle diese Prozentsätze ganz einfach der offiziellen Arbeitslosenrate von 2 Prozent für 1976 oder für das erste Halbjahr 1977 hinzuzurechnen oder gar ein solches Ergebnis mit den offiziellen Arbeitslosenraten anderer Länder zu vergleichen. Aus allem kann jedoch der Schluß gezogen werden, daß die Arbeitslosenstatistik über die wahre Lage auf dem österreichischen Arbeitsmarkt nur sehr unzureichend Aufschluß gibt und für internationale Vergleiche völlig unbrauchbar ist.

Der derzeitige „österreichische Weg” der „statistischen Vollbeschäftigung” hat für die öffentliche Hand den Nachteil, daß er Dauerkosten (Frühpension, öffentlicher Dienst) Verursacht, für den vom Kündigungsverbot betroffenen Betrieb eine Schmälerung der Konkurrenzfähigkeit bedeutet, also eine Bedrohung der Existenz jener Arbeitskräfte, die in einem voll konkurrenzfähigen Betrieb weiterbeschäftigt werden könnten, und für die Allgemeinheit den Nachteil der Erschwerung, wenn nicht Behinderung des Anpassungsprozesses, der allein eine Überwindung der strukturellen und konjunkturellen Schwierigkeiten bewirken kann. Die in allen Fällen (auch im Falle offen ausgewiesener Arbeitslosigkeit) bewirkte Verlangsamung des Produktivitätsfortschrittes ist dabei noch das geringste Übel,

wenn diese in der Lohnpolitik entsprechend berücksichtigt und diese Last damit auf alle verteilt wird.

Diese „Zeitbombe” des ungeklärteh Ausmaßes der derzeit in unserem Lande produktiv Beschäftigten ist umso gefährlicher, als die Prognostiker des Instituts für Höhere Studien in ihrer letzten Vorschau (September 1977) darauf aufmerksam gemacht haben, daß sich die Arbeitsmarktlage empfindlich verschlechtern wird: Die Beschäftigung wird ihrer Meinung nach 1979 zurückgehen und 1980 stagnieren und die Arbeitslosenrate von knapp 2 Prozent im Jahresdurchschnitt 1977 im nächsten Jahr (ohne Berücksichtigung einer versteckten Arbeitslosigkeit) auf 2,5 Prozent ansteigen. Falls die Ausländerbeschäftigung nicht stark reduziert wird oder andere Gegenmaßnahmen (wie Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich) getroffen werden, fürchten sie für 1979 und 1980 ein Ansteigen der Arbeitslosenrate auf 4 und 5 Prozent.

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