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Was bringt die Ernte vor dem Herbst?

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In der Entscheidungstheorie gibt es das sogenannte Minimaxkriterium: Aus einer vorweg pessimistischen Grundstimmung versuchen etwa auf einem Markt dessen Teilnehmer („Spieler“) unter den verfügbaren Alternativen jene für ihr Handeln zu wählen, bei der ihnen ein „Gegner“ den geringsten Schaden zuzufügen vermag. Politische Parteien agieren überdies - grundsätzlich durchaus legitim - angesichts bevorstehender Wahlen stets im Sinne einer Theorie der Stimmenmaximierung (Marktparteien: „Gewinnmaxi-mierung“). Die Vorverlegung der Nationalratswahlen durch die SPÖ vom Oktober 1979 auf den Mai, die so gut wie sicher zu erfolgen scheint, kann nun sowohl unter den Aspekten des Minimaxkriteriums, als des natürlichen Interesses an einer Stimmenmaximierung interpretiert werden.

Freilich hieße es die Dinge unangemessen vereinfachen, ginge man davon aus, daß hinter der nur für die Öffentlichkeit plötzlichen Entscheidung der SPÖ-Führung, einen früheren Wahltermin als den gesetzlich vorgesehenen festzulegen, die Ergebnisse von computergestützten Planspielen bestimmend stünden.

Wahrscheinlich ist die nun getroffene Entscheidung auf eine Motivkonstellation zurückzuführen. Wenn nicht eines Saldos von Pro- und Kontraargumenten. Neben den nicht unverständlichen Argumenten der Parteiführung, die im Apparat vorhandenen und von dessen Vertretern keineswegs mehr geleugneten Spannungen durch möglichst frühe Wahlen abzubauen, sind es meines Erachtens auch Erwägungen über die zu erwartende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt von 1979, die eine Vorverlegung der Wahlentscheidung bestimmten.

Manche der nun für 1979 vorliegenden Prognosen scheinen freilich auf eine „Zerstörung“ der vorausgesagten Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu zielen, indem sie die Adressaten der Prognosen (Regierung, Politiker) zu Reaktionen bewegen, welche das Vorausgesagte nicht eintreten lassen, etwa über Maßnahmen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik.

Unverkennbar zeigt sich jedoch, daß die Lage auf dem Arbeitsmarkt -wenn auch nicht auf allen regionalen und sektoralen Teilarbeitsmärkten -im Jahr 1979 schlechter sein wird als in den Vorjahren. Dieser Sachverhalt kann im Oktober 1979 erheblich augenscheinlicher sein als im Mai, einem Monat, in dem jeweils ein durch saisonale Faktoren begründeter Aufschwung einsetzt.

Noch im August 1978 gab es eine formale Arbeitslosenrate von 1,3 Prozent (bedingt vergleichbar: BRD: 2,4 Prozent, Italien: 11,9 Prozent). Erst die spektakulären und scheinbar hinsichtlich ihres Ausmaßes auch die Regierung überraschenden Massenkündigungen (nicht „Entlassungen“) im Herbst des Vorjahres bestätigten den schon allzulange vorhanden gewesenen Pessimismus bei der Beurteilung des „Wunders“ im Bereich des österreichischen Arbeitsmarktes. Die vielfach mit Insolvenzen korrespondierenden Massenkündigungen lassen sachlich begründete Folgewirkungen befürchten, etwa in Österreich bisher wenig praktizierte Vorsorgekündigungen. Wenn nicht zusätzliche Betriebsaufgaben von Multinationalen.

1. Nach dem von der Nationalökonomie entwickelten Dualkonzept, das einer Aufgliederung des Arbeitsmarktes nach sozialen Kriterien dient, gibt es einen (hypothetischen) primären und einen sekundären Arbeitsmarkt. Im Bereich des kaum eindeutig abgrenzbaren primären Arbeitsmarktes befinden sich jene Arbeitnehmer, die neben einem überdurchschnittlich hohen Lohn u. a. langfristig mit der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes rechnen können. Kommt es in ihrem Betrieb zu Kündigungen, wird ihr Arbeitsvertrag kaum aufgelöst. Sie gehören zum Stammpersonal.

Dem sekundären Arbeitsmarkt werden jene Arbeitnehmer zugerechnet, die als Folge unzureichender Fachkenntnisse oder weil sie die Rechtslage faktisch diskriminiert, gleichsam nur provisorisch beschäftigt sind. Werden in ihrem Unternehmen Kündigungen vorgenommen, sind sie als erste an der Reihe.

Soweit in Österreich in den letzten Jahren Arbeitslosigkeit vorhanden war, hatte sie - von einer kleinen Quote Kernarbeitslosigkeit abgesehen - für die Betroffenen einen vorübergehenden Charakter. Voll arbeitsfähige Dauerarbeitslose gab es wenige. Im Dezember 1977 wurden

lediglich 6200 Bezieher von Notstandshilfen registriert. Soferne größere Kündigungen erforderlich waren, wurden diese in erster Linie gegenüber Fremdarbeitern ausgesprochen.

Österreich ist mit keinem Verweisungsverbot belastet. Wie die BRD. Daher konnten die Arbeitslosenraten permanent zu Lasten der Fremdarbeiter (1977: 188.000) berichtigt werden. Eine für die Optik wesentliche Quote der Arbeitslosigkeit wurde exportiert.

2. Die beachtlichen Kündigungen in den letzten Monaten, die in Österreich nach zeitlicher Dichte und Ausmaß fast schon unbekannt waren, und noch kein Ende zu nehmen scheinen, lassen einige Aussagen zu, die keinen Prophezeiungscharakter mehr haben:

• Die Arbeitslosigkeit steigt, ohne daß das Angebot an offenen Stellen auch nur annähernd mit gleicher Rate wächst. Die Freisetzungen greifen nun auch auf den primären Arbeitsmarkt über und treffen Inländer. Auch Stammarbeiter, Facharbeiter und qualifizierte Angestellte. Im Durchschnitt des Zeitraumes Jänner-September 1978 gab es freilich nur 55.700 registrierte Arbeitslose. Das IV. Quartal wird aber wesentlich höhere Ziffern ausweisen.

• Das Sichtbarwerden einer generell drohenden Arbeitslosigkeit er-

höht die Arbeitsproduktivität etwa durch Aktivierung von bisherigen Leistungsvorenthalten, u. a. als Folge verringerter Fehlzeiten. Bei einer (nur) gleichbleibenden Nachfrage nach Arbeitsleistungen sinkt durch den Anstieg der Ergiebigkeit der einzelnen Arbeitskraft der Gesamtbedarf an Arbeitnehmern.

3. Werden Angehörige des ersten Sektors des Arbeitsmarktes arbeitslos, trifft dies nun auch Stamm wähler der SPÖ. Viele Fremdarbeiter, etwa im Reinigungsgewerbe und solche, die in der Sicht der Inländer „schmutzige“ Arbeit verrichten, sind vom Standpunkt einer elementaren Versorgung unersetzbar („VIP“) geworden.

4. Bisher war es möglich, durch gezielte Subventionen (Verlorene Zuschüsse) in einzelnen Betrieben das Fehlen von realen Beschäftigungschancen zu überdecken. Eine besonders in der verstaatlichten Industrie geübte Praxis. Dazu kommt eine generelle Kündigungszurückhaltung im Sektor des staatlichen Eigentums an Produktionsmittel, ein Umstand, der beachtliche Folgewirkungen hatte, haben doch bereits 18 Prozent der österreichischen Arbeitnehmer einen gebietskörperschaftlichen Eigentümer.

5. In nicht wenigen Unternehmungen wird ein Teil des natürlichen Abganges (Pensionierungen) nicht ersetzt.

6. Die Lohnpolitik der österreichischen Gewerkschaften ist international gesehen beispielgebend. Das zeigen die letzten Lohnabschlüsse. In Schweden betrugen (Österreich -

100) im Jahre 1977 die Lohnkosten in der Industrie 148, in den USA 126.

In einzelnen Betrieben, in denen betriebsnahe, vom Kollektivvertrag nach oben abweichende Löhne abgemacht wurden, erreichten die neuen Löhne jedoch eine Höhe, welche schließlich über die lohninduzierte Verminderung der Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens auch Arbeitsplätze gefährdet haben. Dazu kommt, daß kritisch hohe Löhne die Substitutionsneigung fördern. Die Folge kann gerade bei drohender Stagnation eine prozyklische

Rationalisierungsarbeitslosigkeit sein, die bisher in Österreich erheblich weniger bedeutsam war als im westlichen Ausland.

Wenn die Entwicklung der Arbeitsmarktlage von der Regierungspartei als bedenklich und unter Umständen als wahlentscheidend angesehen wird, so nicht allein wegen der vermuteten Daten des Arbeitsmarktes, die wahrscheinlich auch 1979 im internationalen Vergleich noch optimal sein werden. Die für die Wirtschaftspolitik Verantwortlichen müssen jedoch davon ausgehen, daß in Österreich gerade in der Beurteilung von Arbeitslosenraten gegenwärtig eine besondere Empfindlichkeit besteht, eine Folge des tradierten Traumas aus der Ersten Republik, deren Liquidation auch durch die ökonomische Depression begründet wurde.

Die Österreicher der 70er Jahre sind prosperitätsgewohnt und haben sich Konsumattitüden angeeignet, deren Aufgabe der Mehrheit der Konsumenten psychisch unmöglich zu sein scheint Vor 1938 übersetzten verantwortliche Politiker empirisch unbewiesene Weisheiten von nationalökonomischen Klassikern in eine sozial und auch ökonomisch unangemessene Wirtschaftspolitik. Vor die Wahl zwischen Massenarbeitslosigkeit und stabiles Geld gestellt, entschied man sich für das „gute“ Geld. Und dies bei einer Arbeitslosenquote von mehr als 30 Prozent (an einem Stichtag gab es 130.000 Ausgesteuerte). Heute wäre ein solches Verhalten in keiner Partei denkbar.

Wenn nun die pessimistischen Annahmen der Experten zutreffen, wird nicht so sehr die Arbeitsmarktlage im Mai 1979, sondern erst nach Ende des Sommers düstere Vermutungen drastisch bestätigen. Im Herbst 1979 können sich saisonale und konjunkturelle Faktoren vereinigen und eine Arbeitsmarktlage augenscheinlich mächen, deren Negativa der amtierenden Regierung und der SPÖ angelastet werden.

Einer wirksamen antizyklischen Arbeitsmarktpolitik, etwa der Finanzierung fortgesetzter „Betriebsspiele“, fehlen offenkundig die angemessen großen Mittel. Dieser Sachverhalt kann zu einer weiteren Ent-Bin-dung von betroffenen SPÖ-Anhän-gern und zur Stärkung des derzeit gefährlichsten Gegners der Regierungspartei führen: Der Quasipartei der Nichtwähler. Wahlenthaltung wird zu einer Attitüde.

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