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Abkehr vom Sozialismus

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Aus der Nähe und in der zweiten Woche nach dem schwedischen Wahlgang gesehen, erscheint die Abwendung des schwedischen Wählers von den sozialistisch-kommunistischen Parteien in ihrer ganzen historischen Bedeutung. Sicherlich, fast ein halbes Jahrhundert sozialdemokratische Gesetzgebung und Verwaltung kann nicht ungeschehen gemacht werden. Es wäre auch zuviel, zu erwarten, daß die Wähler das wollten. Manches ist in diesem Land als im Zuge der Zeit gelegen geschehen, was andernorts im Zeichen christdemokratischer Führung vollzogen wurde. Es wäre auch zuviel zu erwarten, daß nun der Wähler die soziale Entwicklung in diesem Land von jedem sozialistischen Zungenschlag befreien möchte. Schließlich hatten auch die nichtsozialistischen Parteien betont, daß „Schwedens Wohlfahrt gemeinsam aufgebaut“ (Fälldin) wurde, so daß man außerhalb Schwedens auch aus einem Wahlsieg der bisherigen Opposition kaum grundsätzliche Wandlungen erwartete.

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Aus der Nähe und in der zweiten Woche nach dem schwedischen Wahlgang gesehen, erscheint die Abwendung des schwedischen Wählers von den sozialistisch-kommunistischen Parteien in ihrer ganzen historischen Bedeutung. Sicherlich, fast ein halbes Jahrhundert sozialdemokratische Gesetzgebung und Verwaltung kann nicht ungeschehen gemacht werden. Es wäre auch zuviel, zu erwarten, daß die Wähler das wollten. Manches ist in diesem Land als im Zuge der Zeit gelegen geschehen, was andernorts im Zeichen christdemokratischer Führung vollzogen wurde. Es wäre auch zuviel zu erwarten, daß nun der Wähler die soziale Entwicklung in diesem Land von jedem sozialistischen Zungenschlag befreien möchte. Schließlich hatten auch die nichtsozialistischen Parteien betont, daß „Schwedens Wohlfahrt gemeinsam aufgebaut“ (Fälldin) wurde, so daß man außerhalb Schwedens auch aus einem Wahlsieg der bisherigen Opposition kaum grundsätzliche Wandlungen erwartete.

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Das aber dürfte doch ein Irrtum sein. Sicherlich, auf Grund früherer Erfahrungen hatten die drei „bürgerlichen“ Parteien bewußt darauf verzichtet, ein gemeinsames Aktionsprogramm anzubieten, bevor das Fell des Bären erlegt war. Sicherlich, die relativ kurze Legislaturperiode von nur drei Jahren läßt nicht viel Zeit für grundsätzliche neue Weichenstellungen, überhaupt für ein politisches Team, dem jede Regierungserfahrung fehlt.

Aber dennoch ist keineswegs zu erwarten, daß alles beim alten bliebe. Eine Reihe von Vorstellungen über wünschenswerte politische Reformen zeichnen sich im Lager der neuen Regierungskoalition ab, die wohl zu wissen scheint, daß die Augen des gesellschaftspolitisch interessierten Europa auf ihm ruht.

Mehr als Auseinandersetzungen über die Gestaltung der Staatsausgaben waren die steigenden Kosten ,des sozialdemokratischen Staatsapparates Gegenstand der Ablehnung des Wählers. Man dürfte sich im nichtsozialistischen Lager auch darüber einig sein, daß im Interesse der Arbeitsplatzerhaltung (Schweden hat wie Österreich eine beachtliche versteckte Arbeitslosigkeit!) wie der Inflationsbekämpfung (rund 10 Prozent) ein größerer Teil des Sozialproduktes als bisher investiert werden muß. Dem könnte eine Reform des Steuersystems in der Richtung dienen, daß die Staatseinnahmen sich in Zukunft mehr auf die Verbrauchssteuern stützen, die noch den Vorteil haben, die Leistungs-freude des Steuerzahlers nicht einer solchen Belastung auszusetzen wie die direkten Steuern in der Zangenbewegung aus Progression und Inflation; vielen scheint eine Indexierung des Einkommensteuertarifs ein gangbarer Weg.

Der von den schwedischen Gewerkschaften forcierte Plan zur schrittweisen Enteignung der schwedischen Industrie hat den Bemühungen um eine breitere Streuung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln über eine steuerlich geförderte Gewinnausschüttung auch an Arbeitnehmer einen zusätzlichen Anstoß gegeben. Zwecks Reduktion der beängstigenden Ausweitung der staatlichen und der gewerkschaftlichen Bürokratie auf die Wirtschaft wird wohl die schon bisher umstrittene Praxis der Pensionsfonds abgeändert werden, die in der letzten Zeit dazu übergegangen sind, ihren enormen Überschuß auch in Aktien bedeutender privater Betriebe (z. B. der Volvo-Autowerke) anzulegen.

Mehr Kritik als erwartet wird heute am schwedischen System der — angeblich antizyklischen — Investitionsförderung geübt, zumal die bei der schwedischen Zentralbank zu deponierenden Investitionsfonds der Industrie in zunehmendem Ausmaß für strukturelle Zwecke eingesetzt und weniger nach konjunkturellen Vorstellungen als vielmehr nach Branchen und Regionen unterschiedlich freigegeben wurden. Die bisher eher zurückhaltende Kritik scheint im Zeichen der Meinung gestanden zu sein, daß in einem sozialistisch geführten Land eine härtere Gewinnbesteuerung die einzige Alternative war.

Hatte die Investitionstätigkeit der Industrie auch in sozialistischen Programmen stets wenigstens ein gewisses Verständnis gefunden, so besteht ein eindeutiger Nachholbedarf an Mittelstandspolitik zur globalen Substanzerhaltung und Strukturanpassung der kleineren und mittleren Unternehmungen. Auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik sind sich die Koalitionskandidaten, wie Gösta Bohmann, der Parteivorsitzende der Konservativen Partei, versicherte, „zu 99 Prozent“ einig.

Wie im Wahlkampf in der Bundesrepublik hatten Bildungsfragen einen weiten Raum eingenommen. Die sozialistischen Bestrebungen, Bildung und Leistung nach unten zu nivellieren, dürften neben Uberbesteuerung und Bürokratie der stärkste Motor zur Mobilisierung der Selbstverteidigung des schwedischen Wählers gewesen sein.

Nicht zuletzt daraus wird das heutige Engagement der Jungwähler gegen den Sozialismus zurückgeführt. Der Beweis für den .Aufstand der Jugend“ dürfte sich zweifelsfrei daraus ergeben, daß ungefähr gleichzeitig mit der Pariamentswahl Schulwahlen stattgefunden haben, die bestätigten, daß die schwedische Jugend den NichtSozialisten den Vorzug gegeben hat.

Sicherlich haben auch die radikalen sozialistischen Forderungen nach einer Verstaatlichung der Schulbücher und der pharmazeutischen Industrie sowie die Forderung der Gewerkschaften nach einer Verstaatlichung von Grund und Boden dem schwedischen Bürger das Gruseln gelehrt! Daß sich die Gemüter aber nicht nur im Wahlkampf erhitzten, sondern die bestehende Spannung ein Zustand geworden ist, der auf fundamentalen gesellschaftspolitischen Meinungsverschiedenheiten beruht, zeigte die nach der Wahlniederlage von den Gewerkschaften offenbar zu spontan ausgesprochene Drohung mit politischen Streiks, „da eine bürgerliche Regierung die ideologischen Ansichten der Gewerkschaften nicht teile“.

Die enge Verfilzung der schwedischen Gewerkschaften und der Schwedischen (sozialdemokratischen) Arbeiterpartei, die sich als die beiden Säulen der Arbeiterbewegung verstehen, wird damit um so mehr zu einem wichtigen Anlaß, die Rolle der Gewerkschaften neu zu überdenken. Insbesondere die kollektive Mitgliedschaft einzelner Fachgewerkschaften, die der SAP — ohne den einzelnen zu fragen — zirka 700.000 zahlende Mitglieder zuführt, wird möglicherweise bekämpft werden.

Was immer von diesen Vorhaben in das Regierungsprogramm eingehen wird, was in Schweden, nicht zuletzt in der Generation der heute 30- bis 40jährigen, in Bewegung gekommen ist, ist nicht lediglich ein plötzlicher Unwillen gegen Besteuerung und Bürokratie, es ist eine wachsende Bewegung gegen die sozialistische Alternative der gesellschaftlichen Ordnung.

Diese Auseinandersetzung mit dem Sozialismus hat längst den nationalen Rahmen überschritten und muß heute zumindest in europaweiten Dimensionen gesehen werden. Es ist keine Frage, daß es auch Sozialisten gibt, deren humanitäre Gesinnung und deren Engagement für Freiheit, Marktwirtschaft, Subsidiaritätsprin-zip, ja sogar die Familie beim Wort zu nehmen ist. Das weitauf gefächerte Spektrum der sozialistischen Ideologie hat aber überall in zunehmendem Maß in seinen marxistischen Varianten Schwerpunkte gefunden, die sich immer mehr gegen wirkliche und gegen wahltaktische Liberalität durchgesetzt haben.

Die Belastung des Sozialismus mit den Auswüchsen und der Ineffizienz der Bürokratie ist keine Zufälligkeit:die Forderung nach mehr Staat schließt notwendigerweise die Forderung nach mehr Beamten ein; anders kann „mehr Staat“ nicht tätig werden!

Auch der Wahlsieg der Unionsparteien in Deutschland ist keine vorübergehende Folge der Rezession und von Abnützungserscheinungen einer Regierungskoaliton, die in schweren Zeiten die Verantwortung getragen hatte. Die Kritik am Zustand von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft hat viel tiefer angesetzt. Die Erwartung, daß „mehr Staat“ auch „mehr Gerechtigkeit“ und „mehr Ordnung“ bedeutet, wurde während der letzten hundert Jahre von vielen geteilt. Heute scheint die Grenze dessen, was der Staat quantitativ noch leisten kann, in vieler Hinsicht überschritten.

Es ist symptomatisch, daß die jüngste Augsburger Tagung des „Vereins für Socialpolitik“, der traditionsreichen und angesehenen Organisation der deutschsprachigen Nationalökonomen, durch Themen charakterisiert war wie „Grenzen des Wohlfahrtsstaates“, „Ordnungspolitische Aspekte des Sozialstaates“ oder „Wandel der sozialen Frage in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“, in welcher der Berliner WirtschaftshistorikerWolfram

Fischer aufzeigte, daß sich die sozialen Problemen ganz anders entwickelten, als sie vom Marxismus-Sozialismus analysiert und prognostiziert wurden.

Die Literatur, die nach den Versuchen zur Einebnung der Kultur und ihrer Leistungsvielfalt auf Grund eines programmatisch mißverstandenen Egalitätsprinzips nunmehr dabei ist, „die Ungleichheit der Menschen“ (z. B. H. J. Eysenck) wie-derzuentdecken, ist nur daraus zu erklären, daß der Sozialismus den Bogen überspannt und an der Natur des Menschen vorbei und über sein Wesen hinweg philosophiert und administriert. Er hat damit rascher als von vielen erwartet selbst zur Tendenzwende beigetragen.

Daß die Tendenzwende in der Bundesrepublik nicht auch schon zu einer politischen Wachablöse führen wird, scheint zunächst lediglich eine Partei zu verhindern, die glaubt, ihr Profil in Zukunft nur bewahren zu können, wenn sie als Steigbügelhalter sozialistischer Systemreformer fungiert. Die Diskussion um die Grundsätze einer menschenwürdigen Gesellschaftsordnung — wortverfremdet als „Ideologiedebatte“ bezeichnet — läßt sich damit nicht aufhalten, sie wird vielleicht auch zu einem besseren Selbstverständnis jener führen, die eine' freiheitliche Gesellschaftsordnung zum Ziel haben.

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